EWR 16 (2017), Nr. 4 (Juli/August)

Bettina Wuttig
Das traumatisierte Subjekt
Geschlecht – Körper – Soziale Praxis. Eine gendertheoretische Begründung der Soma Studies
Bielefeld: transcript 2016
(440 Seiten; ISBN 978-3-8376-3154-8; 39,99 EUR)
Das traumatisierte Subjekt Spätestens seit den Untersuchungen Judith Butlers ist die Macht der Geschlechternormen in poststrukturalistisch argumentierenden Kreisen ein wiederkehrendes Thema, das auch in einer sozialwissenschaftlichen Erziehungswissenschaft mehrfach aufgegriffen und problematisiert wurde. Betritt Bettina Wuttig in „Das traumatisierte Subjekt“ also ausgetretenes Terrain, wenn sie erneut versucht, Geschlechternormen zu dekonstruieren? Keineswegs: Vielmehr nimmt Wuttig in ihrer faszinierenden Studie eine entscheidende Pointierung vor: Ihr zentrales Argument lautet, dass sich die Geschlechternormen und die damit verbundenen Machtverhältnisse buchstäblich in den Körper einschreiben und sich „[d]er potentiell […] schädigende […] heteronormative Impetus“ (86) dieser Einschreibung als traumatisierend konzeptualisieren lässt. Darüber hinaus versucht Wuttig zu zeigen, dass der menschliche Körper diskursiv niemals vollständig einholbar ist. Der Körper ist also, so Wuttigs grundlegende These und Ausgangspunkt der Soma Studies, gleichermaßen die eigentliche Zielscheibe diskursiver Machtverhältnisse und der Ort potentieller Widerständigkeit gegen diese Machtverhältnisse. Mit der Verlagerung des argumentativen Schwerpunkts auf den menschlichen Körper unternimmt Wuttig eine interessante Vertiefung aktueller „Thematisierungen von Subjektivierungen in den Sozial- und Erziehungswissenschaften“ (20).

Wuttigs Studie besticht durch ihren stringenten Aufbau. Nachdem sie in der Einleitung ihr Forschungsprogramm umrissen hat, zeigt sie in Kapitel 1, dass ein Subjekt notwendig mit diskursiv vermittelten Machtverhältnissen verbunden ist: Um als diese(r) oder jene(r) anerkannt zu werden, um sich selbst als diese(r) oder jene(r) zu verstehen, um sich also überhaupt als jemand mit einer bestimmten Identität erfahren zu können, bedarf es der Unterwerfung unter bestimmte Normen und Denkgewohnheiten. Ein zentrales Moment dieser Denkgewohnheiten seien die binären Geschlechternomen, die u. a. dazu führen würden, dass die sozial bedingten Geschlechterkategorien – inklusive der damit verbundenen Zuschreibungen – als natürliche Angelegenheiten verstanden und erfahren würden.

Wuttigs Dekonstruktion des autonomen Subjekts ist vor allem eine poststrukturalistische Fingerübung, die sich aber durch ihre Lesbarkeit und argumentative Strenge auszeichnet. Schon in Kapitel 2 werden wir ins argumentative Zentrum der Studie geführt: So verweist die Autorin auf Judith Butlers einflussreiche Kritik an der Macht der Geschlechternormen, an die sie in vielerlei Hinsicht anschließen möchte. Gleichzeitig versucht sie aber zu zeigen, dass Butlers Kritik mit zwei zentralen Schwierigkeiten einhergeht. So reifiziere Butler, spätestens mit ihrem Einbezug der Psychoanalyse, die binäre Geschlechterlogik und setze, ihrer sprachlich-symbolischen Umdeutung ungeachtet, Freuds „seelischen Monismus unkritisch fort“ (114), insofern der Körper in der „seelischen Dimension“ (114f.) verschwände. „Subjektivierungen“ seien „bei Butler“ vor allem „seelische Konstituierungen“ (115), sodass der Körper zu einer „Form der Grammatik“ (131) werde und sich daher nicht mehr von der binären Geschlechterlogik lösen ließe [1]. Butler könne daher weder erklären, „wie Körper affiziert“ (116) und wie „das Subjekt in den Körper“ (132) komme, noch sei es ihr möglich, den Ort des Widerstands gegen die Geschlechternormen angemessen zu konzipieren.

Vor diesem Problemhorizont lautet Wuttigs Agenda: „Geschlecht [ist] eine machtvolle diskursive Konstruktion […], die sich zwar buchstäblich einverleiben kann, den Körper aber nicht Pars pro Toto materialisiert“ (124). Körper sind also nicht mit diskursiv hervorgebrachten Subjekten gleichzusetzen, sondern, wie Wuttig mit Michel Foucault anführt, der „Durchgangspunkt für Machtbeziehungen“ (126). Vertiefend mit Friedrich Nietzsche [2]: Der Körper ist der Ort, in den sich die diskursiv vermittelten Machtverhältnisse (also auch die mächtigen Geschlechternormen) buchstäblich einschreiben und zwar indem sie körperlich affizieren. Ich verstehe mich nicht einfach als Mann oder Frau, sondern ich erlebe und spüre mich als Mann oder Frau. Damit sich die Geschlechternormen in den Körper einschreiben können, kann der Körper aber nicht mit diesen Einschreibungen gleichgesetzt werden. Der Körper erscheint somit nicht nur als Ort, in den sich diskursive Machtverhältnisse einschreiben, sondern auch als Ort potentieller Widerständigkeit.

Diese Doppeldeutigkeit von Körper (in Abgrenzung und Verbindung zu Leib) vertieft Wuttig in den Kapiteln 3 bis 5. Dabei fasst sie Körper als chaotisches Kräftefeld von Intensitäten und Erregungen. Körperliche Erregungen werden demnach quasi gewohnheitsmäßig und „blitzschnell“ (307) – qua leiblicher Erinnerung – mit bestimmten Ursachen und Werten assoziiert und entsprechend erfahren. Sich als Subjekt mit einer kohärenten Geschichte und Identität zu erleben, ist also Wuttig folgend, immer auch eine körperlich fundierte Erinnerungsleistung. Sie spricht mit Nietzsche von einer Mnemotechnik, die sich aber gemeinhin dem reflexiven Zugriff entzieht. Subjektivierung affiziert demnach den Körper und hinterlässt körperliche Spuren, sodass jede körperliche Erfahrung an die eigene Vergangenheit bindet, indem sie „als Erinnerung wieder abgerufen wird – aber für eine gegenwärtige Erfahrung gehalten wird“ (247).

Durch den dekonstruktiven Einbezug der Neurowissenschaften gelingt es Wuttig, die körperliche Basis der Subjektivierung genauer zu fassen. Gleichzeitig konkretisiert sie damit den Gedanken, Subjektivierung sei eine potentiell traumatische Erfahrung. An die etymologische Bedeutung des Wortes Trauma – Wunde, Verletzung – anknüpfend, stellt sie zuerst fest, dass Menschen aufgrund ihrer Körperlichkeit verletz- und damit auch traumatisierbar sind. Gewaltakte (physisch wie psychisch) schreiben sich ins Körpergedächtnis ein. Das Trauma artikuliert sich in Form einer Erstarrung und schränkt das Erleben in seiner Bedeutungsvielfalt massiv ein, insofern der Körper auf bestimmte Situationen, Orte, Gesichter ‚wie von selbst‘ auf bestimmte Art und Weise antwortet, bestimmte Erinnerungen weckt, andere Wahrnehmungsweisen ausschließt oder zumindest verstellt. Wuttig bestimmt ein Trauma aber nicht als Angriff auf eine zuvor unbeschädigte Identität, sondern möchte zeigen, dass es „am Ursprung der Subjektivierung“ (189) selbst steht, womit sie den Begriff des Traumas erheblich erweitert. Das Subjekt sei generell „insofern ein traumatisiertes als es angerufen und gezwungen wird, eine eindeutige (geschlechtliche) Identität in einem machtvollen gesellschaftlichen Feld anzunehmen“ (260). Die „traumatische Dimension“ (250) der modernen Subjektivität liegt also nicht im „punktuellen Geschehen ‚Trauma‘“, sondern in unserer „traumatische[n] Abhängigkeit von normativen Bedingungen“ (263). Sich als männlich oder weiblich begreifen zu müssen, um überhaupt anerkannt werden zu können, ist also die eigentlich traumatische Dimension der binären Geschlechterlogik.

Der Körper wird von Wuttig also als Ort freigelegt, an und in dem sich Subjektivierungen abspielen. Da sie aber darauf beharrt, dass der Körper nicht auf diskursive Machtverhältnisse reduziert werden kann, sind die abschließenden Kapitel ihrer Studie (6 bis 8) dem widerständigen Potential des Körpers gewidmet. Auf einer theoretischen Ebene beruft sie sich zuerst auf Nietzsches Begriff des Vergessens. Wenn Subjektivierung vor allem dem Körpergedächtnis geschuldet ist, können die körperlichen Erinnerungsspuren strictu sensu auch wieder vergessen und damit neu verhandelt werden. Diesen theoretischen Gedanken versucht Wuttig abschließend entlang des Somatic Experiencing und der Contact Improvisation in seiner praktischen Relevanz freizulegen.

Um die Widerständigkeit des Körpers gegen kulturelle Einschreibungen und die Macht der Geschlechternormen zu belegen, weist Wuttig auf einen sehr interessanten Punkt hin: Eine ‚erfolgreiche’ Subjektivierung ist eine affektive Angelegenheit. Gefühle führen vermittels des Körpergedächtnisses dazu, dass ich in meinem gegenwärtigen Erleben immer an meine Vergangenheit gebunden bin und mich dadurch als einheitliches Subjekt mit einer kohärenten Identität und Geschichte erfahre (309). Wuttig unterscheidet aber zwischen Empfindungen und Gefühlen (308ff). Gefühle (leiblich erfahren) werden immer mit bestimmten Ursachen assoziiert. Diese fallen jedoch nicht mit der körperlich bedingten Empfindung in eins, müssen der „wirklichen Ursache“ (199) nicht entsprechen. Wenn sich nun die Widerständigkeit des Körpers darin zeigt, dass körperliche Erinnerungspuren auch wieder vergessen werden, weist Wuttig entlang des Konzepts des Somatic Experiencing darauf hin, dass es hier vor allem darum geht, die Aufmerksamkeit auf die Ebene der Empfindung und weniger auf die Ebene der Gefühle zu lenken. So wird es durch eine intensive Wahrnehmung des eigenen Körpers möglich, den eigenen Körper in seiner Körperlichkeit auch jenseits seiner zugeschriebenen Geschlechtlichkeit zu erfahren, indem ich z. B. meine Beine nicht als schöne, männliche, weibliche, rasierte etc. Beine erfahre, sondern stattdessen schlicht bemerke, dass sie „zum Laufen da sind“ (329). Damit wird, so Wuttig, zweierlei möglich: Der eigene Körper wird in seiner nicht auf diskursive Machtverhältnisse reduzierbaren Körperlichkeit erfahrbar und die einengende Wirkung und potentiell traumatische Dimension der Geschlechternormen wird freigelegt.

Insgesamt liefert Wuttig mit ihrer Studie einen mehr als nur bereichernden Beitrag zu poststrukturalistischen Subjektivierungstheorien, da sie sich vor allem auf die körperliche Seite der Subjektivierung konzentriert. Der oft blutleere und ausgetreten wirkende Diskurs der Subjektivierung wird so mit (neuem) Leben gefüllt. Dabei hätte die angedeutete Unterscheidung zwischen Leib und Körper präziser sein können. So stellt sich doch die Frage, ob nicht der Leib als eben der Ort konzeptualisiert werden könnte, an dem sich die diskursiven Machtverhältnisse einschreiben, während der Körper als Ort der Widerständigkeit gefasst werden könnte. Außerdem hätte ein genauerer Blick auf Gefühle Wuttigs Studie weiter bereichert. Die Annahme Wuttigs, dass wir aufgrund eines Körpergedächtnisses in der Regel wie von selbst daran erinnert werden, wer wir zu sein haben, scheint nämlich darauf zu beruhen, dass wir wüssten, was wir fühlen. Ob diese Annahme aber dem tatsächlichen Gefühlsleben gerecht wird, erscheint aus alltäglicher Sicht zweifelhaft. Zuletzt sei darauf verwiesen, dass Wuttigs Sprache (anknüpfend an den gesamten Diskurs der Subjektivierung) äußerst voraussetzungsvoll daherkommt. Wenn aber gegen diskursive Machtverhältnisse in einer Form angeschrieben wird, die wissenschaftliche Machtverhältnisse gerade reproduziert, so kann gefragt werden, ob darin nicht ein performativer Widerspruch liegt.


[1] Zu unterschiedlichen Lesarten von Butler im Rahmen erziehungswissenschaftlicher Forschung siehe den Sammelband von Ricken, N. / Balzer N. (Hrsg.): Judith Butler: Pädagogische Lektüren. Wiesbaden: Springer VS 2012.

[2] In ihrer Rezeption Nietzsches schließt Wuttig weniger an erziehungswissenschaftliche Lektüren an (siehe aktuell z. B. Niemeyer, C.: Nietzsche als Erzieher. Pädagogische Lektüren und Relektüren. Weinheim / Basel: Beltz 2016). Sie interessiert sich in erster Linie für sein Körperverständnis, das sie auf kritisch befragende und zugleich bestätigende Weise mit den aktuellen Neurowissenschaften verbindet.
Carolin Bebek / Benjamin Weber (Bremen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Carolin Bebek / Benjamin Weber: Rezension von: Wuttig, Bettina: Das traumatisierte Subjekt, Geschlecht – Körper – Soziale Praxis. Eine gendertheoretische Begründung der Soma Studies. Bielefeld: transcript 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383763154.html