Die „Emanzipation der Arbeiterklasse“ solle „alle Länder“ umfassen, stellte Karl Marx bereits 1864 fest und setzte damit einen der Grundsteine für den Internationalismus als Bestandteil der kommunistischen Weltrevolution [1].
In seiner aktuellen Veröffentlichung geht Detlef Siegfried diesem Anspruch und seiner Umsetzung weiter nach und ergründet die Geschichte des Internationalismus in der DDR am Beispiel der Jugendhochschule „Wilhelm Pieck“ am Bogensee. Seit 1946 als Schulungsort der FDJ in Verwendung, etablierte die Jugendhochschule seit 1958 Jahreslehrkurse, die internationale Studierende dazu befähigen sollten, „in ihren Ländern die Revolution voranzutreiben“ (7). Siegfried erzählt die Geschichte dieser Jahreslehrgänge aus der Perspektive dänischer Studierender der Kommunistischen Jugend Dänemarks (DKU) – dem Jugendverband der Kommunistischen Partei Dänemarks. Dieser spezifische Fokus ergibt sich einerseits aus Siegfrieds eigener Lehrtätigkeit in Kopenhagen und andererseits aus der Quellenüberlieferung. Betrachtet wird ein weiter Zeitraum zwischen 1961 und 1989, also der erstmaligen Teilnahme einer DKU-Delegation am Jahreslehrgang bis hin zur Schließung der Jugendhochschule.
Ein komplexes Unterfangen, welches Siegfried mit einer Vielzahl verschiedener Quellen unternimmt, die sich sowohl auf Dokumente zur Kommunistischen Jugend Dänemarks als auch auf Akten zur Jugendhochschule Wilhelm Pieck sowie des FDJ-Zentralrates beziehen. Ergänzt werden diese Bestände unter anderem durch Gespräche mit ehemaligen Teilnehmer:innen der Lehrgänge und nicht zuletzt durch Siegfried selbst, der durch Erinnerungen und Briefe seinen eigenen Aufenthalt an der Jugendhochschule im Jahreslehrgang von 1983/84 rekonstruiert.
Das als „Forschung mit biografischen Einsprengseln“ (9) beschriebene Vorhaben verfolgt ein zweifaches Erkenntnisinteresse.
Auf einer ersten Ebene beschäftigt sich der Band mit dem Charakter der Jugendhochschule und den dort gemachten Erfahrungen. Aus dieser Perspektive geht es vor allem um den Internationalismus als prägendsten Eindruck der Teilnehmenden. Auch stehen Fragen nach dem Verhältnis von Indoktrinierungsabsicht der Jugendhochschule und Subjektivität der Studierenden sowie politischen und kulturellen Konflikten aufgrund der Heterogenität der Jahreslehrgänge im Fokus. Die Untersuchung beruht hier hauptsächlich auf selbst erschlossenen und ausgewerteten Quellen, da die Jugendhochschule und ihre internationalen Jahreslehrgänge bisher kaum von der Forschung thematisiert worden sind.
In den fünf Hauptkapiteln lassen sich mindestens vier Perspektiven ausmachen, unter welchen Siegfried sich mit verschiedenen Dimensionen und Konflikten des gesellschaftlichen Miteinanders an der Jugendhochschule auseinandersetzt: der Blick der Dän:innen bzw. DKU auf die DDR, die Stellung der Jugendhochschule im Verhältnis zu den parallel stattfindenden FDJ-Jahreslehrgängen, die Bedeutung der Länder des globalen Südens sowie die Regulierung privater Beziehungen. So bewegte sich das generell positive DDR-Bild eines „imaginären Sozialismus“ (47) der DKU nicht nur konträr zum allgemeinen Bild der dänischen Bevölkerung, sondern wurde auch durch einen den DDR-Studierenden durch dänische Studierende unterstellten deutschen Habitus und einer von diesen ebenso attestierten unreflektierten Haltung gegenüber dem westlichen Materialismus herausgefordert. Im Gegensatz zu diesen dänischen Fremdheitserfahrungen schien sich gerade für die FDJ-Delegationen durch die Teilnahme eine neue Form der sonst nur theoretisch praktizierten internationalen Solidarität eröffnet zu haben. Gleichzeitig zeigt sich die Widersprüchlichkeit dieser Solidarität im Umgang mit Ländern des globalen Südens und den antikolonialen Befreiungsbewegungen. Auf der einen Seite wurde ihnen als dritte Kraft im Kampf um die „Weltrevolution“ eine wesentliche Rolle zugesprochen, auf der anderen Seite war das als konfliktfreie „imagined community“ propagierte Miteinander durch Hierarchien in der Wahrnehmung der Kontinente geprägt, und die einzelnen Delegationen – Siegfried hebt hier besonders die Afrikanischen hervor – hatten mit stereotypen Zuschreibungen, patriarchalen Strukturen und Alltagsrassismus zu kämpfen. Sehr eindrücklich arbeitet Siegfried die Ambivalenz der DDR-Logik heraus, in der es zwar darum ging, Internationalismus zu praktizieren, gleichzeitig aber keine zu engen Kontakte zuzulassen.
Diese Haltung zeigt sich vor allem in der Darstellung der Regulierung persönlicher
(Liebes)Beziehungen. Entlang von Fallbeispielen werden die unklaren Regeln, die Ängste der DDR, die „Gefahr“ von Paarbeziehungen für den Wert des Kollektivs und die sexistisch-normativen Bewertungsmuster deutlich. Siegfried versäumt es dabei allerdings, über hetero- und cis-geschlechtliche Paarbeziehungen hinauszugehen. Unklar bleibt, ob es andere Beziehungsformen an der Jugendhochschule gab und wie sich der Umgang damit ausgestaltete.
Die hier dargestellten Spannungen verweisen auch auf die zentrale zweite Ebene der Studie: Die Debatten um die inhaltliche Ausrichtung der Jugendhochschule vor dem Hintergrund heterogener Auslegungen des Sozialismus. In diesen Darstellungen gelingt es Siegfried nicht nur über die Geschichte der DKU, sondern auch über zentrale Konfliktlinien in der kommunistischen Welt die oft deutsch-deutsch zentrierte DDR-Geschichte für internationale Perspektiven zu öffnen. Siegfried schließt dabei vor allem an Forschungsarbeiten zur Geschichte des dänischen, aber auch des globalen Kommunismus an. Konflikte zeigten sich beispielsweise in der Ausgestaltung der Lehrinhalte, die immer wieder für ihren mangelnden Anschluss an landesspezifische Verhältnisse kritisiert wurden. Siegfried vermag es weiterhin, durch den Einbezug global-kommunistischer Perspektiven die scheinbare Homogenität in der Unterstützung des sowjetischen Marxismus-Leninismus aufzubrechen. Dies zeigt sich beispielsweise am afrikanischen Verständnis eines blockfreien afrikanischen Sozialismus, aber auch an den Umbruchsprozessen in der DKU, die mit den Schlagworten Glasnost und Perestroika einhergingen. Siegfried ist sich bei der Beschreibung dieser alternativen Globalisierung im Sinne eines Weltkommunismus auch der „Unmöglichkeit“ (22) bewusst, die zahlreichen Perspektiven auf den Sozialismus darzulegen. Dennoch gelingt es dem Band, die Jugendhochschule als einen Brennpunkt in der Aushandlung einer alternativen Globalisierung zu verorten.
Trotz dieser umfassenden Analysen der Rolle des Internationalen an der Jugendhochschule fällt neben bereits erwähnten Kritikpunkten besonders eine Leerstelle der Studie ins Auge. Auch wenn es nicht zu den Zielen Siegfrieds gehört, eine umfassende Darstellung der Jahreslehrgänge der FDJ zu leisten, lässt die Studie allgemein wenig Einordnung in DDR-spezifische pädagogische wie organisatorische Kontexte zu. So bleibt ungeklärt, welche Rolle die Jugendhochschule in der DDR und im Kontext des ab den 1970er Jahren proklamierten Erziehungsziels der internationalistischen Solidarität einnahm. Siegfrieds These der Einmaligkeit des internationalen Austauschs in dieser Größenordnung wird auch nicht mit weiteren Möglichkeitsräumen der Internationalität in der DDR kontrastiert und in ein Verhältnis zu diesen gesetzt. Ungeklärt bleiben bspw. der Status respektive das Verhältnis zur gleichnamigen Pionierrepublik am Werbellinsee und dem dort stattfindenden internationalen Sommerlager. Auch wäre eine Diskussion der Jugendhochschule im Verhältnis zum internationalen Verband „Weltbund der demokratischen Jugend“ (WBDJ) und den „Weltfestspielen der Jugend und Studenten“, die 1951 und 1973 auch in Ost-Berlin stattfanden, wünschenswert gewesen, um eine stärkere Einordnung der Funktion und Organisation der Jugendhochschule zu gewährleisten.
Trotz dieser Monita leistet das Buch einen überzeugenden (ersten) Beitrag zur Jugendhochschule „Wilhelm Pieck“. Siegfrieds Studie liefert durch schlüssige, abwägende Argumentationen sowie klare Strukturierung einen mehrdimensionalen Blick auf Erwartungen, Erfahrungen und Konfliktlinien an der Jugendhochschule. Der Band lebt dabei von Darstellungen auf der Akteur:innenebene und zeigt durch viele Fallbeispiele, aber auch durch die akzentuierend eingebrachten Erfahrungen Siegfrieds das Leben und Miteinander der Studierenden auf.
Siegfrieds Band liefert damit einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des Weltkommunismus und Internationalismus in der DDR und eröffnet ein weites Feld für zukünftige Forschungsarbeiten.
[1]: Marx, K.(1864). Provisorische Statuten der Internationalen Arbeiter-Assoziation. In: K. Marx, & F. Engels (Hrsg.), Werke (S. 14) (Band 16, 6. Auflage 1975, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR).
EWR 21 (2022), Nr. 1 (Januar)
Bogensee
Weltrevolution in der DDR 1961-1989
Göttingen: Wallstein Verlag 2021
(296 S.; ISBN 978-3-8353-5011-3; 28,00 EUR)
Jessica Dalljo (Halle-Wittenberg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jessica Dalljo: Rezension von: Siegfried, Detlef: Bogensee, Weltrevolution in der DDR 1961-1989. Göttingen: Wallstein Verlag 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.01.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383535011.html
Jessica Dalljo: Rezension von: Siegfried, Detlef: Bogensee, Weltrevolution in der DDR 1961-1989. Göttingen: Wallstein Verlag 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.01.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383535011.html