„Es hätte nahe gelegen“, so schreiben Roland Stein und Dagmar Orthmann Bless in ihrem Vorwort, das jedem Band voran gestellt ist, „die Bände der Reihe in Entsprechung zu der klassischen Differenzierung nach Behinderungsformen zu systematisieren“ (VII). Die beiden haben sich dagegen entschieden ohne damit sagen zu wollen, dass ihnen die „klassische Differenzierung“ etwa unwichtig sei oder dass sie diese ablehnen würden. Dies sei explizit nicht so (ebd.). Sie suchten nach einer Einteilung „quer“ zu der Einteilung nach Behinderungsformen, und sie fanden sie in der Strukturierung nach Lebensphasen und -bereichen. Diese Strukturierung würde zugleich auch zentralen praktischen Handlungsfeldern entsprechen. Für jeden Band werden die entsprechenden Überlegungen in einem einführenden Kapitel dargestellt und mit einem Ausblick auf die einzelnen Beiträge abgeschlossen.
Im ersten Band zu den Frühen Hilfen bei Behinderungen und Benachteiligungen werden die Themen der vorgeburtlichen Beratung und Unterstützung, die ärztlich-therapeutischen und die sozialen Hilfesysteme, die Pädagogik im Bereich der Kindertagesstätten sowie die familienbezogenen Dimensionen der Frühförderung (häusliche Frühförderung sowie Kooperation mit den Eltern) vorgestellt.
Im zweiten Band zur Schulischen Förderung bei Behinderungen und Benachteiligungen – dem eigentlichen Kernbereich sonderpädagogischen Wissens – wird nach einem Überblick über die historische Entwicklung des Gegenstandsfeldes ein Schwerpunkt auf die sonder- und integrationspädagogischen Angebotsformen gelegt, bevor in je einem Beitrag die Dimensionen der Diagnostik und der Pädagogik/Didaktik erörtert werden. Die beiden abschliessenden Beiträge nehmen neuerer Entwicklungen und Fragestellungen auf: Einerseits die schulischen Übergänge, wiederum vornehmlich aus einer Angebotsperspektive formuliert, sowie die Formen multiprofessioneller Kooperation im schulischen Umfeld.
Der dritte Band ist der Privaten Lebensgestaltung bei Behinderungen und Benachteiligungen im Kindes- und Jugendalter gewidmet. Orthmann Bless verwendet dabei den Begriff des „Privaten“ theoretisch niederschwellig; er hat offensichtlich nur einen terminologischen Hilfscharakter um anzuzeigen, dass nicht die Schule gemeint ist. Inhaltlich werden sozialpädagogische und familienbezogene Unterstützungssysteme vorgestellt sowie vier aktuelle Themenfelder behandelt, die Bezug nehmen auf Sozialisationsbedingungen der Gegenwart: Freizeit und Freizeiterziehung, Gesundheit und Gesundheitsförderung, Sexualität und Sexualpädagogik sowie Medien und Medienerziehung. Ein abschliessender Beitrag ist den technischen Hilfestellungen bei Behinderung und Benachteiligung gewidmet.
Nach dem schulischen und dem ausserschulischen Bereich wendet sich der vierte Band Fragen von Integration in Arbeit und Beruf bei Behinderungen und Benachteiligungen zu. Die prominente Stellung dieses Themenfeldes im Rahmen sonderpädagogischen Basiswissens ist vergleichsweise einmalig. Inhaltlich folgen die Schwerpunkte unterschiedlichen Angebotsformen und Unterstützungssystemen (Werkstätten, ausserbetriebliche Einrichtungen, Integrationsfachdienste) sowie dem Themenkomplex der Berufsvorbereitung, Berufwahl und Berufsausbildung. Das so erschlossene Themenfeld der Arbeitsgesellschaft erweist sich als ebenso unübersichtlich wie unter dem Gesichtspunkt der Benachteiligung als prekär, worauf die abschliessenden Beiträge zu aktuellen Trends und zur strukturellen Erwerbslosigkeit eingehen. Im fünften und letzten Band geht es um Aspekte der Lebensgestaltung bei Behinderungen und Benachteiligungen im Erwachsenenalter und Alter. Die sechs Beiträge wenden sich ganz unterschiedlichen Fragen zu, die ausgewählte Aspekte der Lebensgestaltung im Kontext von Behinderung und Benachteiligung betreffen: Weiterbildung (unter besonderer Berücksichtigung der Lebenswelt- und Biographieorientierung), Leben mit Assistenz, Politische Partizipation, Elternschaft sowie sozial-geragogische Hilfen.
Wie immer bei einem so grossen Unterfangen gehen die Herausgebenden Risiken ein: Fehlt etwas? Erscheint etwas überproportional wichtig? Geht etwas anderes zu sehr unter? Ergänzen sich die Bände wechselseitig oder überschneiden sie sich zu sehr? Bilden die einzelnen Beiträge den Horizont eines Bandes ab? Ist ihr Fokus geeignet gewählt? Hat man die „richtigen“ Autorinnen und Autoren gewählt? Werden die Zielgruppen zufrieden gestellt? Bieten die Beiträge ebenso einen prägnanten Überblick wie Perspektiven der gezielten Vertiefung? Die Herausgebenden wissen, dass sie sich solchen Fragen gegenüber exponieren – und tun sie es trotzdem und erreichen sie ihr Editionsziel, verdienen sie den nötigen Respekt: Die vorliegende Einführungsreihe Basiswissen Sonderpädagogik wird zweifellos dazu beitragen, die Lesbarkeit der Wissensproduktion über Behinderung und Benachteiligung für Studierende aus den Bereichen Bildung, Soziales und Gesundheit, für Angehörige unterschiedlicher Berufsgruppen und für weitere Interessierte anzureichern und zu erhöhen.
Und wie ist nun, jenseits von Einzelaspekten, das Ergebnis der „brisanten Entscheidung“ (so die Herausgebenden im Vorwort) – die Fachlogik der Sonderpädagogik von einer an sog. „Behinderungsformen“ zu einer an Lebensphasen und –bereichen orientierten Systematik umzubauen – zu beurteilen? Die Entscheidung von Dagmar Orthmann Bless und Roland Stein ist der sonderpädagogischen Wissensproduktion und der Erkenntnisleistung nicht einfach äusserlich, sondern sie trifft sie im Kern einer schon länger anhaltenden Umbruchsphase (Albrecht, Hinz, & Moser, 2000) [1] und schlägt eine bestimmte Richtung vor. Roland Stein macht in seinem einführenden Text (auch dieser wird jedem Band voran gestellt) geltend, dass das „Nischendasein“ der Sonderpädagogik als Wissenschaft (1) mit der Existenz von Sondereinrichtungen verbunden sei. Beide geraten miteinander in eine Krise – und zwar in dem Masse, wie sie auf dem Hintergrund von Demokratisierungsbewegungen und der diese stützenden sozialrechtlichen Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg als illegitime Formen von Ungleichbehandlung kritisiert wurden. Die „Zerrüttungen“ in der Sonderpädagogik (ebd.) kommen also nicht aus der Sonderpädagogik selbst, wie im Basiswissen verschiedentlich behauptet wird; sie wurden in ihr nur besonders heftig ausgetragen – nicht zuletzt als diskursiver Kampf um die Form sonderpädagogischen Wissens selbst. Der Strukturierungsvorschlag von Orthmann Bless und Stein ist eine Antwort auf diese Ausgangslage und als Antwort ein Versuch, eine mittlere Stellung zwischen tradierten Wissensformen und dem Gespenst der Selbstauflösung der Sonderpädagogik einzunehmen. Die Frage ist nur, ob sich diese Stellung epistemologisch stabilisieren lässt oder ob sie nicht in zu viele Widersprüche führt, welche die Leistungsfähigkeit dieser Systematik bezogen auf erfolgreiche Wissensproduktion und -vermittlung gerade einschränkt. Das lässt sich an drei Diskussionssträngen in etwa so extrapolieren:
- Stein definiert Sonderpädagogik in einem knappen Definitionsversuch als „die Theorie und Praxis der Pädagogik bei Beeinträchtigungen und Benachteiligungen“ (5). Dieser Vorschlag ist insofern von mittlerer Konsequenz, als er zwar eine Öffnung darstellt von der tautologischen Definition der Sonderpädagogik als einer „besonderen“ Pädagogik hinzu einer Pädagogik ohne wenn und aber, die sich auf eine bestimmte Problemstellung bezieht. Dies würde jedoch erst unter zwei Bedingungen konsequent ausgeführt werden können: Erstens müsste auf das ‚Sonder’ der Sonderpädagogik verzichtet werden, was alle disziplinären und professionsbezogenen Distinktionsversuche gegenüber anderen Pädagogiken, vor allem zur Sozialpädagogik (Orthmann Bless im Band 3, 24ff) überflüssig machen würde. Unterkühlte aber notwendige Beziehungen zu den Fragestellungen der Interkulturellen Pädagogik oder der Feministischen Pädagogik, die im Basiswissen kaum vorkommen, könnten einen vielversprechenden neuen Anlauf nehmen. In der Konsequenz stünde nicht die „Disziplinarität an sich“, sondern die Gegenstandskompetenz im Vordergrund. Dies würde wiederum dazu führen, dass einerseits Pädagogik als Interventionsform moderner Gesellschaften (die ausgehend vom Gegenstandsbereich wohl nur als Kritik der klassischen Vorstellungswelt „Allgemeiner Pädagogik“ denkbar wäre) zu rekonstruieren und die relevanten Dimensionen ihres Wissensarchivs (z.B. aber nicht nur bezogen auf die Didaktiken und Fachdidaktiken) darzustellen wäre. Andererseits würde man nicht umhin kommen, den Gegenstandsbereich: Beeinträchtigungen, Behinderungen und Benachteiligungen in seinen vielverzweigten Dimensionen mit allen wissenschaftlichen Mitteln theoretisch und methodisch aufzuarbeiten und in der ganzen Breite zu diskutieren – als (wenn man so will) Kernkompetenz dieser Pädagogik.
- Die vorgeschlagene Systematik entlang von Lebensphasen und –bereichen hat etwas intuitiv Bestechendes: Menschen, mit der es eine „Pädagogik bei Beeinträchtigungen und Benachteiligungen“ zu tun hat, sind immer biographische Wesen in bestimmten Lebenslagen mit unterschiedlichen Möglichkeiten der Lebensgestaltung. Andere Menschen, darunter Professionelle, begegnen ihnen in unterschiedlichen Lebensbereichen, angefangen im Alltag, in Kultureinrichtungen und Shopping-Zentren ebenso wie in Organisationen des Gesundheits- und Sozialwesens etc.. Wollte man diesen Ansatz konsequent fortführen, wäre es nötig, die Dimension des Lebenslaufs respektive der Biographie systematisch zu nutzen und auszuführen. Dasselbe gilt für die Lebensbereiche, d.h. für die sozialen Handlungsfelder, wobei es Sinn machen dürfte genauer zu fragen: wessen Handlungsfelder? Sollten die Handlungsfelder Professioneller gemeint sein, so gäbe es einen ausgewiesenen Bedarf an professionssoziologischer Aufklärung zumal sich die organisationalen und personellen Bedingungen der Arbeit im Bereich des Bildungs-, Sozial- und Gesundheitswesens erheblich verändern. Wenn mit Lebensbereichen mehr und auch anderes gemeint ist als die Handlungsfelder Professioneller, was der Fall zu sein scheint, dann könnte ein breiter Feldbegriff etwa in Anlehnung an Bourdieu interessant sein, der den Blick frei gibt auf soziale und kulturelle Praxen im Gegenstandsbereich jenseits des Pädagogischen. Auch diese Perspektiven würden über eine De-Sonderpädagogisierung führen, wie sie namentlich im Band vier (Integration in Arbeit und Beruf) auf Grund der Dominanz sozialwissenschaftlicher Wissensproduktion im Gegenstandsbereich zum Ausdruck kommt. Für die Bände drei und fünf könnten sich dann auch nochmals ganz andere Perspektiven öffnen, einschliesslich der Möglichkeit auf spezifische menschliche Erfahrungen z.B. in den Bereichen des Sehens, Hörens, Wahrnehmens, des Denkens und sozialen Handelns einzugehen.
- Eine letzte Bemerkung betrifft die Verwendung amtlichen Wissens: In der vorliegenden Einführungsreihe rekurrieren fast alle Beiträge auf amtliche Wissensquellen (Statistiken, Gesetzte, öffentliche Berichte). Dies führt in Kombination mit der wenig ausgebauten Systematisierung in Richtung der ersten respektive der zweiten Extrapolation in der Tendenz dazu, dass die Fachlichkeit nicht über den öffentlichen Diskussionsstand hinausgeht (zum Beispiel vergleichend oder historisierend) respektive nur beschränkt eine Ebene findet, öffentliche Probleme aufzuarbeiten – nicht um es „besser zu wissen“, sondern um mögliche Alternativen zu erfinden und deren Realisierbarkeit einzuschätzen. Die Orientierung an öffentlichen Dokumenten könnte gerade eine Stärke der Wissensbildung einer „Pädagogik bei Beeinträchtigungen und Benachteiligungen“ sein unter der Bedingung, dass sie versucht, als real behauptete Probleme mit den dafür geeignetsten Konzepten und Methoden der zeitgenössischen Wissenschaften zugänglich zu machen, verlässliches Wissen zu produzieren und als „Basiswissen“ verfügbar zu halten. Eine Voraussetzung dieser Arbeit wäre es, historisch zuverlässige Wissensbestände und ihre methodischen und theoretischen Grundlagen – etwa mit Blick auf Entwicklungspsychologie, Bildungssoziologie, Kommunikationstheorie, etc. – systematisch und in stabilen Kooperationsbeziehungen in die eigenen Problembearbeitungen einzubeziehen.
[1] Albrecht, Friedrich / Hinz, Andreas / Moser, Vera (Hrsg.) (2000). Perspektiven der Sonderpädagogik. Disziplin- und professionsbezogene Standortbestimmungen. Neuwied: Luchterhand.
[2] Marx, Karl / Engels, Friedrich (1999). Manifest der Kommunistischen Partei. Stuttgart: Reclam (Orig. 1848).