15 Jahre nach Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention wird Inklusion vermehrt außerhalb von Schule und Unterricht diskutiert und praktiziert. Inklusive künstlerische Praktiken zeigen auf, wie sich gesellschaftliche Vorstellungen von Behinderung und Befähigung verändern und in den verschiedenen Communities zu neuen Darstellungsformen führen. Der 20 Beiträge umfassende Sammelband All inclusive?! Aspekte einer inklusiven Musik- und Tanzpädagogik ist in der Reihe Innsbrucker Perspektiven zur Musikpädagogik erschienen. Er entstand anlässlich der gleichnamigen Veranstaltung, die vom 12.-13. Oktober 2018 im Haus der Musik in Innsbruck stattfand. Die Veranstaltung richtete sich an Wissenschaftler*innen sowie an Musik- und Tanzpädagog*innen; dementsprechend vielfältig sind die Beiträge. Sie erstrecken sich inhaltlich von theoretischen Perspektiven über Praxisberichte aus dem Feld der Musik- und Tanzpädagogik bis hin zu der Arbeit mit Menschen im hohen Alter.
Im ersten Kapitel All inclusive?! Theoretische Zugänge zur Inklusion befassen sich Michael Turinsky mit einer Kritik am Inklusionsbegriff, Lisa Pfahl mit künstlerischen Repräsentationen von Behinderungen, Persson Perry Baumgartinger & Anita Moser mit der inklusiven Kulturarbeit und Renate Reitinger mit Musikhochschulen im Spiegel von Chancengleichheit. Dieses erste Kapitel des Sammelbandes findet seinen Abschluss mit einer Wiedergabe der Podiumsdiskussion „Die Qualität des Nicht-Synchron-Seins – Gedanken zur Funktionalität und Widerspenstigkeit“.
Im zweiten Kapitel Inklusion in musik- oder tanzpädagogischen Kontexten wird in neun Beiträgen das Phänomen Inklusion aus der Perspektive der Musik- und Tanzpädagogik behandelt. Im Themenfeld Musikpädagogik befassen sich Erik Esterbauer mit der Beziehungsqualität inklusiven Arbeitens, Julia Lutz mit der Planung und Durchführung musikalischer Aktivitäten in heterogenen Gruppen, Julia Eibl mit Zielen und Inhalten des Instrumentalunterrichts, Shirley Salmon mit der Verwendung des Orff-Schulwerks im inklusiven Musikunterricht und Nora Schnabl-Andritsch, Virginie Roy & Michelle Proyer mit polyästhetischen Ansätzen. Im Themenfeld Tanzpädagogik setzt sich Mirjam Hoffmann mit Capoeira als einer inklusiven Praxis auseinander, Evelyne-Walser-Wohlfarter & Bernhard Richarz berichten von ihrem Tanzprojekt und Beate Hennenberg & Hana Zanin von tanzkünstlerischen Aktivitäten. Stephanie Bangoura erläutert ihre Methode einer rituellen Tanzpädagogik.
Im dritten Kapitel Musik- und tanzpädagogische Praxen in inklusiven und musikgeragogischen Kontexten beschäftigen sich Mona Heiler mit einem Community-Music-Projekt im öffentlichen Raum, Stefan Greuter mit einem inklusiven Bandprojekt, Bettina Büttner-Krammer mit einem inklusiven Bildungsformat der Wiener Symphoniker, Regina Brandhuber mit einer Gewinnerin des Wettbewerbs Jugend musiziert, Christine Schönherr mit künstlerisch-geragogischen Angeboten und Marc Brand mit dem Musiklernen im gehobenen Alter.
Das Potential des Sammelbandes liegt in der Gegenüberstellung von verschiedenen Praxiseinblicken und theoretischen Perspektiven. Daher wird im Folgenden näher auf die Beiträge von Michael Turinsky und Evelyne Walser-Wohlfarter & Bernhard Richarz eingegangen, welche Inklusion im und durch das Tanzen unterschiedlich thematisieren.
Turinskys Beitrag bildete den Eröffnungsvortrag für das Symposium. Er beginnt mit einer Kritik und Zurückweisung des Inklusionsbegriffs: Seine Arbeit als Künstler mit Behinderung sei nämlich immer schon inklusiv gewesen und er brauche daher keinen pädagogischen Begriff, welcher sein Schaffen kategorisiere. Dadurch offeriert Turinsky einen Denkanstoß für eine inklusive Musik- und Tanzpädagogik, welche nicht ihren inklusiven vor den künstlerischen Anspruch stellt, sondern vielmehr das Potential einer künstlerischen Tätigkeit als inklusive Praktik a priori begreift, da – je nach Kunstform und Kunstbegriff – Inklusion möglich ist, ohne explizit so benannt werden zu müssen. Erst in einem zweiten Schritt ließen sich anhand der künstlerischen Praktiken inklusiven Didaktiken grundieren, um schließlich daraus eine inklusive Musik- und Tanzpädagogik zu entwickeln. Im zweiten Teil seines Beitrages geht er auf seine choreographische Methode ein. Es gehe ihm darum „ein produktives Spannungsverhältnis zu entfalten. Nämlich zwischen dem, was ich mit einem Thema intendiere, und dem Eigensinn, den der Körper mitbringt.“ (S. 14). Die Nutzung dieses Spannungsverhältnisses lässt sich als einen kreativen Impuls verstehen, welcher festgelegten Normativitäten widerstrebt, da der künstlerische Prozess an und mit den Beteiligten entwickelt wird. Damit wird Turinskys künstlerische Arbeitsweise im Bereich der inklusiven Tanzpädagogik deutlich, welche sich an den jeweiligen Körpern der Tanzenden ausrichtet und infolgedessen auch die „Widerständigkeit des Körpers“ (S. 14) als besonders produktiv für die künstlerische Arbeit erachtet.
Evelyne Walser-Wohlfarter und Bernhard Richarz berichten in ihrem Beitrag von ihrer Arbeit mit inklusiven Tanzgruppen im Rahmen ihres seit mehreren Jahren bestehenden Projekts tanzfähig. Sie bezeichnen ihre Arbeit als „Tanz in körperlicher Vielfalt oder Ästhetik der Differenz“. (S. 165). Dem Projekt liegt ein Inklusionskonzept zugrunde, welches davon ausgeht, dass alle Menschen tanzfähig und zur künstlerischen Improvisation mittels ihres Körpers im Tanz fähig sind. Sie benennen fünf Rahmenbedingungen für die erfolgreiche Umsetzung ihres Projekts: eine inklusive Haltung, die Öffnung der Gruppe für alle Menschen, Barrierefreiheit auf mehreren Ebenen, eine prozessorientierte Arbeitsweise und die Fähigkeit zur Bewegung und Kreativität. Anders als Turinsky weisen sie den Inklusionsbegriff nicht direkt zurück, sondern fassen ihn sehr weit, da sie ihr Projekt für alle interessierten Menschen mit und ohne Behinderung öffnen. Durch die weit gefassten Teilnahmebedingungen und dem zugrunde liegenden Inklusionskonzept, welches Vielfalt in diversen Aspekten zur erwünschten Norm erhebt, erhält das künstlerisch-ästhetische Format des Projekts tanzfähig seine Prägung.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Sammelband einen umfassenden Überblick über aktuelle inklusive pädagogische Praktiken und Fragestellungen bietet. Die Vielfalt der Beiträge zeichnet den Sammelband besonders aus und sorgt jedoch aufgrund der Vielzahl gleichsam dafür, dass jeweils nur ein kurzer Einblick in die jeweiligen Themenfelder und Projekte möglich ist. Insgesamt eignet sich der Sammelband besonders für Künstler*innen und Pädagog*innen, die im Feld der inklusiven Musik- und Tanzpädagogik tätig sind, aber auch für Wissenschaftler*innen, da er inspirierende Anknüpfungspunkte für eine Weiterentwicklung von Inklusion im Feld der Musik- und Tanzpädagogik in Theorie und Praxis bietet.
EWR 20 (2021), Nr. 3 (Mai/Juni)
All inclusive?!
Aspekte einer inklusiven Musik- und Tanzpädagogik
Münster: Waxmann Verlag 2020
(264 S.; ISBN 978-3-8309-4276-4; 29,90 EUR)
Rouven Seebo (Innsbruck)
Zur Zitierweise der Rezension:
Rouven Seebo: Rezension von: Henning, Heike: All inclusive?! Aspekte einer inklusiven Musik- und Tanzpädagogik. Münster: Waxmann Verlag 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 3 (Veröffentlicht am 07.07.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383094276.html
Rouven Seebo: Rezension von: Henning, Heike: All inclusive?! Aspekte einer inklusiven Musik- und Tanzpädagogik. Münster: Waxmann Verlag 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 3 (Veröffentlicht am 07.07.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383094276.html