EWR 17 (2018), Nr. 1 (Januar/Februar)

Aaron Löwenbein / Frank Sauerland / Siegfried Uhl (Hrsg.)
Berufsorientierung in der Krise?
Der Übergang von der Schule in den Beruf
MĂŒnster: Waxmann 2017
(224 Seiten; ISBN 978-3-8309-3620-6; 29,90 EUR)
Berufsorientierung in der Krise? Die Berufswahl Jugendlicher gilt als eine individuelle und gesellschaftliche Herausforderung zugleich. In einem Spannungsfeld persönlicher Interessen, FĂ€higkeiten, Werte und Ziele auf der einen Seite und möglicher beruflicher Perspektiven in einer dynamischen Arbeits- und Berufswelt auf der anderen Seite sind Heranwachsende aufgefordert, ihre berufliche Entwicklung zu gestalten. Hierbei benötigen sie vielfĂ€ltige Formen der UnterstĂŒtzung. Besonders der Schule kommt hier eine bedeutsame Rolle zu. Lehrpersonen sowie Partnerinnen und Partner der Schule bieten unterschiedliche Hilfestellungen an, um einen gelingenden Übergang in nachschulische Bildungswege fĂŒr MĂ€dchen und Jungen vorzubereiten.

In den letzten Jahren hat die schulische Berufsorientierung eine zunehmende Systematisierung und Standardisierung bezĂŒglich der Bereitstellung von Lerngelegenheiten erfahren: Angebote zur Berufsorientierung sollen fĂŒr alle Jugendlichen aller Schulformen zugĂ€nglich sein und durch ein langfristig angelegtes Konzept den Prozesscharakter der Berufswahl besser abbilden. Die Herausforderung in der Umsetzung systematisierter und standardisierter Programme liegt jedoch darin, Heranwachsenden zugleich differenzierte Angebote in AbhĂ€ngigkeit ihres berufswahlbezogenen Entwicklungsstandes zu offerieren. Neben einer individuellen Ausrichtung berufsorientierender Lerngelegenheiten gilt es auch, nachschulische Bildungsoptionen breit darzustellen und gleichzeitig neue Chancen und BeschrĂ€nkungen am Arbeitsmarkt abzubilden.

Mit 15 BeitrĂ€gen leuchtet der Sammelband von Aaron Löwenbein, Frank Sauerland und Siegfried Uhl unterschiedliche Perspektiven auf den Übergang von der Schule in den Beruf aus. Somit gelingt es, die KomplexitĂ€t der ZugĂ€nge zur Begleitung individueller beruflicher Entwicklung abzubilden und entsprechende berufs- und schulpĂ€dagogische Bezugspunkte herzustellen.

Die Herausgeber skizzieren in der EinfĂŒhrung zunĂ€chst die Herausforderungen bei der Berufswahl und den damit verbundenen Bildungs- und Erziehungsauftrag der Berufsorientierung. Davon ausgehend entfalten sie im Überblick die „neuralgischen Punkte“ pĂ€dagogischer Begleitung im Übergang von der Schule in den Beruf vor allem mit Blick auf eine sich verĂ€ndernde Arbeits- und Berufswelt.

Im ersten Teil des Bandes entwerfen Manfred Eckert, GĂŒnter Ratschinksi sowie Jörg-Peter Pahl und Michael TĂ€rre in ihren BeitrĂ€gen jeweils eine fĂŒr die Gestaltung der Berufsorientierung grundlegende Sicht auf ÜbergĂ€nge Heranwachsender. Dabei wird die BewĂ€ltigung des Übergangs sowohl aus berufswahltheoretischer als auch aus empirischer Perspektive dargestellt. Manfred Eckert nimmt eine berufspĂ€dagogische Positionierung vor und reflektiert vor diesem Hintergrund die programmatischen AnsĂ€tze zur Förderung beruflicher Entwicklung. Von GĂŒnter Ratschinski werden vor allem motivationale Aspekte von Berufswahlkompetenz diskutiert und die Effekte berufsorientierender Interventionen am Beispiel des Bundesprogramms zur Berufsorientierung (BOP) beleuchtet. Vor diesem Hintergrund sind auch die Schwierigkeiten der Erfassung von Wirkungen berufsorientierender Angebote und damit die Herausforderung der Gestaltung einer evidenzbasierten Berufsorientierung nachvollziehbar. Jörg-Peter Pahl und Michael TĂ€rre legen ihr Augenmerk auf Probleme, die durch Transitionen zwischen Schul-, Berufsausbildungs- und BeschĂ€ftigungssystem markiert sind. Sie nehmen mit der Betrachtung gesellschaftlicher Bedeutungen, individueller BedĂŒrfnisse, institutioneller Merkmale und personeller Voraussetzungen einen systemischen Blick auf die BewĂ€ltigung von ÜbergĂ€ngen vor. Vor diesem Hintergrund postulieren sie auch die Notwendigkeit einer theoriegestĂŒtzten Fundierung mit Blick auf die Systeme des Übergangs.

Der zweite Teil des Bandes konzentriert sich vor allem auf pĂ€dagogische Konzepte der individuellen Begleitung beruflicher Entwicklung in VerschrĂ€nkung mit organisationalen, strukturellen, didaktischen und personalen BezĂŒgen. Jörg-Peter Pahl und Michael TĂ€rre zeigen auf der Basis lernorganisatorischer Überlegungen, wie ÜbergĂ€nge bereits in der beruflichen Erstausbildung durch Zusatzausbildungen im technischen, kaufmĂ€nnischen und sprachlichen Bereich individuell vorbereitet werden können. Dabei skizzieren sie, wie durch ein etabliertes Konzept Lernangebote und Entwicklungsmöglichkeiten offeriert werden können, die den Übergang in das BeschĂ€ftigungssystem erleichtern. AnknĂŒpfend an die Diskussion um individuelle Förderung kann mit dem Beitrag von Klaus Jenewein die Struktur des Ausbildungsmarktes, vor allem in den neuen BundeslĂ€ndern, als wegweisend fĂŒr einen notwendigen innovativen Umgang mit HeterogenitĂ€t verstanden werden. Der Autor weist einige wichtige Handlungsfelder und -strategien aus; insbesondere die Ausbildung des betrieblichen Ausbildungspersonals gewinnt hier zunehmend an Bedeutung. Christian Staden prĂ€sentiert mit dem Berufswahlpass ein pĂ€dagogisches Instrument zur Begleitung beruflicher Entwicklungsprozesse, das geeignet ist, das eigene berufswahlbezogene Lernen zu dokumentieren, zu reflektieren und zu planen. Der Autor stellt heraus, welche VerĂ€nderungen in der Portfolioarbeit im Kontext der Berufsorientierung notwendig sind und wie diese mit einem digitalen Berufswahlpass umgesetzt werden können. Eine SchlĂŒsselrolle kommt dabei der Qualifizierung von LehrkrĂ€ften zu.

Aaron Löwenbein und Dan Löwenbein geben in ihren BeitrĂ€gen einen Überblick zu Fördermöglichkeiten mit Hilfe von Programmen, die ihrerseits schwerpunkthaft zentrale Probleme von ÜbergĂ€ngen und Ansatzmöglichkeiten der Verbesserung fokussieren. Herausfordernd ist bei der Umsetzung der Programme zweierlei: ihre Beantragung und die nachhaltige Verankerung der initiierten VerĂ€nderungen bzw. die fortgesetzte Nutzung der Erfahrungen und Erkenntnisse. Ingrid Tiefenbachs Beitrag zeigt am Beispiel des Frankfurter Studienseminars, wie die Thematik der Berufsorientierung bereits in der zweiten Phase der LehrerInnenbildung ihren Niederschlag finden kann und wie damit zur personellen Sicherung der Förderung individueller beruflicher Entwicklung ein Beitrag geleistet wird. Hannelore Faulstich-Wieland unterstreicht die Bedeutung der Kategorie Geschlecht im Kontext der UnterstĂŒtzung gelingender ÜbergĂ€nge. Sie arbeitet Ansatzpunkte eines gendersensiblen Berufsorientierungsunterrichts in AnknĂŒpfung an den Einbezug eines breiten Berufswahlspektrums unter Einsatz gendergerechter Materialien sowie einer gendersensiblen Sprache heraus.

Im dritten Teil werden zentrale, fĂŒr die Berufsorientierung bedeutsame, Gegenstandsbereiche aufgegriffen. Der Beitrag von Axel PlĂŒnnecke markiert die Notwendigkeit einer Berufsorientierung, die sowohl Perspektiven beruflicher als auch akademischer Bildung integriert. Am Beispiel der FachkrĂ€fteentwicklung in den sogenannten MINT-FĂ€chern zeigt der Autor, dass eine nach Fachbereichen differenzierte Betrachtung der beruflichen Perspektiven sinnvoller ist als die pauschale Beurteilung von Zukunftschancen auf der Basis der Kategorien beruflich vs. akademisch. Eine solche, reflektierte Sichtweise könnte Ausgangspunkt einer Berufs- und Studienorientierung an Schulen sein, die zwar zur Hochschulreife fĂŒhren, dabei aber nicht den Blick allein auf akademische Bildungswege verengen. Elke Hannack spricht sich fĂŒr eine differenzierte und fokussierte Begleitung von ÜbergĂ€ngen aus, die besonders fĂŒr Jugendliche mit „schlechten Startchancen“ notwendig erscheint. Zudem hilft, so argumentiert die Autorin, jungen Frauen und MĂ€nnern perspektivisch eine StĂ€rkung betrieblicher Ausbildungen durch alle beteiligten Akteurinnen und Akteure. Charlotte Venema und Michael Heister schließen den Band mit einer kritischen Bestandsaufnahme gesellschaftlicher VerĂ€nderungsprozesse, die auch eine Akzentuierung von Konzepten pĂ€dagogischer Begleitung nach sich zieht. Das Schlagwort „Industrie 4.0“ steht hier stellvertretend fĂŒr eine Entwicklung, in deren Zuge die rasanten VerĂ€nderungen in Berufen und Unternehmen Konsequenzen fĂŒr die berufliche Bildung und die Berufsorientierung mit sich fĂŒhren. Die Antwort auf sich kontinuierlich verĂ€ndernde Qualifikationsanforderungen sei ein Aus- und Weiterbildungssystem, das lebenslanges Lernen und variable Einstiege in unterschiedliche Berufsfelder ermöglicht. Zudem benötige ein solches System eine Integrationsfunktion, mit deren Hilfe auch GeflĂŒchtete Zugang zu beruflicher Bildung erhalten.

Mit dem Sammelband ist es den Herausgebern gelungen, eine mehrperspektivische Betrachtung der DomĂ€ne „Berufsorientierung“ zu eröffnen. Damit wird nicht nur deutlich, dass dieser Lern- und Entwicklungsbereich verschiedene disziplinĂ€re ZugĂ€nge erfordert, sondern auch in seiner Gestaltung eine multiprofessionelle Ausrichtung vonnöten ist. Insgesamt stellt der Band zwar sowohl theoretische, empirische als auch erfahrungsbasierte ZugĂ€nge zur Berufsorientierung bereit, lĂ€sst jedoch eine einleitende, systematische Zusammenschau bzw. Reflexion gesicherter Erkenntnisse zur Berufsorientierung, auch im internationalen Diskurs, vermissen. Hier stellen insbesondere die aktuellen BeitrĂ€ge des amerikanischen berufswahltheoretischen Diskurses [1] sowie die fortgefĂŒhrte Theorieentwicklung und Wirksamkeitsforschung im deutschsprachigen Raum [2] eine Bereicherung dar.

Der Herausgeberband ist geeignet, eine breite LeserInnenschaft anzusprechen und erhöht damit nicht nur die Sichtbarkeit der Berufsorientierung als bedeutsame pĂ€dagogische Aufgabe. Er macht auch deutlich, dass es weiterer Anstrengungen bedarf, Berufsorientierung als Forschungsfeld, welches wichtige Erkenntnisse fĂŒr eine gelingende pĂ€dagogische Praxis liefert, systematisch weiterzuentwickeln.

[1] Sampson, J. P., Bullock-Yowell, E., Dozier, V. C., Osborn, D. S., & Lenz, J. G. (Eds.): Integrating theory, research, and practice in vocational psychology: Current status and future directions. Tallahassee, FL: Florida State University Libraries 2017.
[2] BrĂŒggemann, T. & Rahn, S. (Hrsg.): Berufsorientierung. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. MĂŒnster: Waxmann 2013.
Katja Driesel-Lange (MĂŒnster)
Zur Zitierweise der Rezension:
Katja Driesel-Lange: Rezension von: Löwenbein, Aaron / Sauerland, Frank / Uhl, Siegfried (Hg.): Berufsorientierung in der Krise?, Der Übergang von der Schule in den Beruf. MĂŒnster: Waxmann 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 1 (Veröffentlicht am 26.02.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383093620.html