EWR 16 (2017), Nr. 6 (November/Dezember)

Sebastian Barsch / Nina Glutsch / Mona Massumi (Hrsg.)
Diversity in der LehrerInnenbildung
Internationale Dimensionen der Vielfalt in Forschung und Praxis
MĂŒnster / New York: Waxmann 2017
(344 Seiten; ISBN 978-3-8309-3444-8; 29,90 EUR)
Diversity in der LehrerInnenbildung Einordnung und Aufbau des Sammelbandes
Vor dem Hintergrund der beharrlichen institutionellen Reproduktion ethnischer, religiöser, kultureller, geschlechtlicher, körperlicher und sozialer UngleichheitsverhÀltnisse im bundesdeutschen Bildungssystem erscheint es notwendig, sich in allen drei Phasen der Lehrer*innen-Bildung (Studium, Referendariat, Fortbildung) verstÀrkt mit normenreflexiven und diskriminierungskritischen Perspektiven auseinanderzusetzen. Das zu besprechende Buch setzt hier unter Bezugnahme auf eine Diversity-Perspektive an.

Die Herausgeber*innen eröffnen den Sammelband mit einer Einleitung, in der sie ihr VerstĂ€ndnis von Diversity darlegen. Verfolgt wird darin eine Kritik an einer EngfĂŒhrung von Diversity, die mit dem Inklusionsbegriff als Förderung von SchĂŒler*innen mit Behinderung einhergeht. Diversity wird als eine pĂ€dagogische Perspektive aufgefasst, die in der Lehrer*innen-Bildung ein kritisches Problembewusstsein darĂŒber fördern möchte, dass bestimmte Gruppen, „die angesichts kultureller, ökonomischer, körperlicher, sexueller oder weiterer Zuschreibungen von der MajoritĂ€t abweichen“ (11), von Diskriminierung betroffen sind. In der Konsequenz geht es darum, „individuelle sowie institutionelle Diskriminierung und Chancenungerechtigkeiten“ (11) abzubauen. Ziel dieses Bandes ist es, Diversity mit Blick auf ausgewĂ€hlte Dimensionen „forschungstheoretisch und anwendungsorientiert aufzugliedern“ (12).

Die Publikation entstand im Anschluss an die Tagung „Blickwechsel | Diversity: Internationale Perspektiven der LehrerInnenbildung“, die im September 2015 an der UniversitĂ€t zu Köln stattfand. Die zwanzig BeitrĂ€ge auf insgesamt etwa 320 Seiten sind in fĂŒnf Themenbereiche unterteilt. Der erste Abschnitt („Schule gestalten heißt mit Vielfalt arbeiten“) verbindet in vier BeitrĂ€gen theoretische ZugĂ€nge zum Thema Diversity mit Lehrer*innen-Bildung (A. Holzbrecher, J. Budde, M. Massumi/K. Fereidooni, S. Busch).
Die BeitrĂ€ge des zweiten, dritten und vierten Abschnittes prĂ€sentieren demgegenĂŒber ausgewĂ€hlte „Dimensionen der Vielfalt“, die drei Differenzsetzungen fokussieren: „Inklusion“ (S. Morgenroth / M. Frosche, M. Kricke, M. Mero / M. Meri, S. Jaster), „Migration“ (T. Wolfgarten / H.-J. Roth / S. Aßmann, M. Reza-Jakubi / F. Korkmaz, S. Bischof / D. Edelmann, C. Barrasa, M. C. Boegen / J. HĂ€ffner / M. Salgado, Y. Karakaşoğlu / M. Massumi / S. Jacobsen) und „Mehrsprachigkeit“ (J. Springbob / C. Bongartz, B. Nuss / Y. Olshausen, J. Egbers / D. OuĂ©draogo).
Dabei enthĂ€lt das Kapitel zur „Migration“ mit sechs BeitrĂ€gen den umfangreichsten inhaltlichen Input. Der fĂŒnfte Abschnitt des Buches („Zukunft Vielfalt“) öffnet zum einen das thematische Feld auf bisher weniger diskutierte Aspekte von Diversity: „Sexuelle Vielfalt“ (M. Yildiz / R. Bak), „New Media“ (M. Kalantzis / B. Cope) und „Auslandsaufenthalte“ (N. Glutsch) fĂŒr die Lehrer*innen-Bildung und dient zum anderen als Konklusion (J. Rothgenger). Der Sammelband enthĂ€lt zwei englischsprachige Artikel.

Die Autor*innen des Buches sind entsprechend divers positioniert: Neben profilierten Expert*innen aus Wissenschaft und Praxisfeldern stellen auch viele jĂŒngere Kolleg*innen aus unterschiedlichen LehramtsstudiengĂ€ngen ihre Überlegungen vor.

AusgewÀhlte Inhalte
Aufgrund der hohen Anzahl der BeitrÀge erlauben wir uns, nur einige von ihnen herauszugreifen.

Mona Massumi und Karim Fereidooni untersuchen lĂ€nderĂŒbergreifende Rahmenvorgaben in der Lehrer*innen-Bildung hin auf Thematisierungen „rassismuskritischer Professionalisierung“. Das Ergebnis ist ernĂŒchternd: Rassismus fĂ€nde an keiner Stelle eine BerĂŒcksichtigung. Die hĂ€ufige Referenz auf interkulturelle Kompetenz wird dagegen kritisiert, weil sie die binĂ€re Zuordnung in ‚Wir‘ und ‚die Anderen‘ eher tradiert als irritiert und zu einer problemfixierten Sichtweise auf ‚die Anderen‘ beitrage. Eine besondere StĂ€rke des Beitrags liegt darin, dass theoretisch fundiert aufgezeigt wird, inwiefern rassistische Unterscheidungspraxen als konstitutiv fĂŒr Bildungsprozesse in der Schule sind.

Aus studentischer Perspektive beschreiben Marie Charlotte Boegen, Johannes HĂ€ffner und Miguel Salgado die Arbeit der Netzwerkgruppe MICADOS an der UniversitĂ€t zu Köln. Es wird deutlich, dass die UniversitĂ€ten auf dem Weg sind, anzuerkennen und wertzuschĂ€tzen, welches innovative Potenzial Hochschulgruppen fĂŒr die Fortentwicklung einer zeitgemĂ€ĂŸen universitĂ€ren Ausbildung in der Migrationsgesellschaft haben können. Die Mitglieder „mit und ohne Migrationshintergrund“ (209) sind bemĂŒht, alle Lehramtsstudierenden zu erreichen und in gemeinsamer Verantwortung, Lehrer*innen von morgen MöglichkeitsrĂ€ume fĂŒr die Auseinandersetzung mit Migration und Rassismus anzubieten und damit zu ihrer eigenen Professionalisierung beizutragen.

Sonja Bischoff und Doris Edelmann betrachten die ZugĂ€nge zum Lehrberuf in der Schweiz. Anhand einer qualitativen Interviewstudie mit Lehramtsstudierenden beim Übergang Studium - Schule werden „migrationsbezogene Selbst- und Fremdzuschreibungen“ (182) rekonstruiert. An einer Fallanalyse wird aufgezeigt, dass LehrkrĂ€fte mit muslimischer Positionierung Diskriminierungen bei BewerbungsgesprĂ€chen in Schulen erfahren. Dabei wird die muslimische Religionszugehörigkeit als eine Bedrohung fĂŒr die christlichen Traditionen in der Schule wahrgenommen. Praxisnahe Anregungen fĂŒr Interventionen runden den Beitrag ab.

Jan Springob und Christiane Bongartz vergleichen unter dem Titel „Every Student Succeeds? Going to school in the USA & Germany“ die individuelle Sprachförderung einer Middle School in North Carolina, USA und eines Gymnasiums in NRW, Deutschland. Die Autor*innen gehen dabei ĂŒber eine reine Deskription zweier Best-Practice-Beispiele hinaus und ziehen wissenschaftliche Kenntnisse aus dem Zweitspracherwerb in die Praxisbeschreibungen mit ein. Jedoch fehlt in dem Beitrag ein Bezug zur Lehrer*innen-Bildung.

Nina Glutsch diskutiert im Artikel „Internationalisierung in der LehrerInnenbildung - Auslandsaufenthalte mit benefits?“, ob Praktika oder Studiensemester im Ausland das Reflexionsvermögen stĂ€rken können. Um einen Perspektivwechsel auf bekannte gesellschaftliche Strukturen und persönliche Überzeugungen der Lehramtsstudierenden zu ermöglichen, sollten Auslandsaufenthalte rassismuskritisch begleitet werden. Glutsch schließt mit dem Hinweis, dass weitere Forschung notwendig sei, um die Effekte von Auslandsaufenthalten auf die Professionalisierungsprozesse von angehenden Lehrer*innen empirisch belegen zu können.

Diskussion
Es ist den Herausgeber*innen gelungen, eine weit gefĂ€cherte Themensammlung und -besprechung zu Aspekten von Diversity vorzulegen und dabei insbesondere ihre praktische Relevanz und Umsetzbarkeit aufzuzeigen. Eröffnet werden Einblicke in die VielfĂ€ltigkeit neuer Entwicklungen in der pĂ€dagogischen, schulinstitutionellen und hochschulischen Praxis im Kontext von „Inklusion“, „Migration“ und „Sprache“. Angereichert sind die BeitrĂ€ge durch punktuelle internationale Perspektiven, sodass der Fokus ĂŒber die Grenzen des deutschsprachigen Bezugsrahmens hinaus reicht. Auch wenn die BeitrĂ€ge eine insgesamt unterschiedliche QualitĂ€t aufweisen, finden sich im Sammelband einige empfehlenswerte BeitrĂ€ge, die zu einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit der eignen Profession anregen.

Zwar ist eine systematische begrifflich-theoretische Aufgliederung des Feldes kein Anliegen des Buches, doch durch den weitgehenden Verzicht auf die Herausarbeitung von ZusammenhĂ€ngen der ausgewĂ€hlten Dimensionen zueinander erhalten die BeitrĂ€ge eher einen additiven Charakter. Deshalb haben wir als Leserinnen zwischendurch den argumentativen ‚roten Faden‘ vermisst. Über die knappe Einleitung hinaus hĂ€tten wir uns eine stĂ€rkere Diskussion hinsichtlich der Frage gewĂŒnscht, in welchem VerhĂ€ltnis bspw. Rassismen oder Inklusion und der Diversity-Gedanke zueinander stehen. In den einzelnen BeitrĂ€gen wird auch keine Abgrenzung zu anderen Konzepten wie HeterogenitĂ€t, interkulturelle Bildung oder Rassismuskritik vorgenommen. Deshalb bleibt unklar, warum die Herausgeber*innen eine Diversity-Perspektive in die Lehrer*innen-Bildung einzufĂŒhren versuchen. BezĂŒge zu kritischen Auseinandersetzungen mit dem Diversity-Begriff in den Erziehungswissenschaften, wie sie Emmerich / Hormel [1] vorlegen, hĂ€tte fĂŒr diese Publikation bereichernd sein können.

[1] Emmerich, M. / Hormel, U. (2013): HeterogenitĂ€t - Diversity - IntersektionalitĂ€t: zur Logik sozialer Unterscheidungen in pĂ€dagogischen Semantiken der Differenz. Wiesbaden: VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften.
Anna Aleksandra Wojciechowicz und Lydia Heidrich (Bremen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Anna Aleksandra Wojciechowicz und Lydia Heidrich: Rezension von: Sebastian, Barsch, / Nina, Glutsch, / Mona, Massumi, (Hg.): Diversity in der LehrerInnenbildung, Internationale Dimensionen der Vielfalt in Forschung und Praxis . MĂŒnster / New York: Waxmann 2017. In: EWR 16 (2017), Nr. 6 (Veröffentlicht am 07.12.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383093444.html