Bereits vor mehr als 50 Jahren konzipierte Paul Heimann mit Wolfgang Schulz und weiteren Lehrenden an der PH Berlin ein Praxissemester für Lehramtsstudierende, welches „das Ineinander von Theorie und Praxis in beispielhafter Form“ [1] verwirklichen sollte. Im Kontext des sogenannten „Didaktikums“ entstand auch das bekannte „Berliner Modell“ einer lehr-lerntheoretischen Didaktik. Auf diesen Meilenstein für die Lehrerausbildung im deutschsprachigen Raum verweisen Karl-Heinz Arnold, Alexander Gröschner und Tina Hascher im Vorwort des von ihnen im vergangenen Jahr herausgegebenen Sammelbandes zu „Schulpraktika in der Lehrerbildung“. Seit Veröffentlichung des „Berliner Modells“ hat sich die Forschung zu Schulpraxisphasen – gerade auch im Kontext aktueller Lehrerbildungsreformen der letzten Jahre – rasant weiterentwickelt. So ist es nur folgerichtig, dass das Herausgeberteam mit der Publikation vor allem den Anspruch verfolgt, Schulpraktika in der Lehrerbildung als eigenes Forschungsgebiet weiter zu konsolidieren und innerhalb des internationalen Forschungsdiskurses anschlussfähig zu machen, kurz: „to present the state of the art to a broader, international audience“ (16).
Der Band richtet sich an alle in der Lehrerbildung tätigen Personengruppen. Er gibt Einblick in die Forschung zu Schulpraktika in Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie auch in den Niederlanden und in den USA. Entsprechend der internationalen Ausrichtung werden alle Beiträge der 38 Autorinnen und Autoren sowohl durch ein englisches als auch ein deutsches Abstract eingeleitet. Zudem wurden acht der insgesamt 20 Beiträge komplett auf Englisch verfasst. Ebenfalls acht Beiträge gehen ursprünglich auf ein im Rahmen der AEPF-Tagung 2012 abgehaltenes zweiteiliges Symposium zum Thema zurück.
Das einführende, 16-seitige Kapitel des Herausgeberteams hat einen dichten Informationswert. In ihm werden Grundbegriffe im internationalen Diskurs geklärt sowie zentrale Aspekte der Theorieentwicklung und Forschungspraxis systematisiert. Dazu gehört auch eine Übersicht über wesentliche Effekte und Bedingungen von Schulpraktika. Gleichzeitig wird deutlich, welchen Beitrag die Autorinnen und Autoren des Bandes zu den einzelnen Aspekten leisten. So erschließt sich die Struktur des Sammelbandes: Auf die Grundlagen zur Präzisierung des Forschungsfeldes (Teil 1) folgen Studien zur Wirksamkeit von Schulpraktika (Teil 2), die um Beiträge zu den Effekten von Mentoring (Teil 3) als einem zentralen Gestaltungselement von Schulpraktika erweitert werden. Zum Schluss ihres einführenden Kapitels ziehen Arnold, Gröschner und Hascher wichtige Schlussfolgerungen für die zukünftige Entwicklung der Forschung zu Schulpraktika. Dazu gehört beispielsweise die Forderung nach mehr Studien, in denen explizit die nicht-intendierten negativen Effekte von Schulpraktika genauer untersucht werden.
In Teil 1, „Grundlagen der schulpraktischen Komponenten der Lehrerbildung / Foundations of teacher student learning and development by field experiences“, werden u. a. die Theorie-Praxis-Problematik (vgl. den Beitrag von Patry) sowie das Konzept des selbstregulierten Lernens (Endedijk) erläutert, wodurch v. a. Neueinsteiger einen Zugang zur Thematik finden können. Aufgenommen wurde auch ein Kapitel aus der Dissertation von Andreas Bach [2], in dem dieser darlegt, wie sich der Praxisbezug in der Volksschullehrer/innenbildung im deutschsprachigen Raum entwickelt hat. Die sich in der historischen Abhandlung abzeichnende Vielfalt schulpraktischer Konzeptionen wird aus internationaler Perspektive durch Ken Zeichner und Marisa Bier exemplarisch für die USA berichtet. Deutlich wird diese Vielfalt auch in der von Karl-Heinz Arnold vorgelegten Curriculumanalyse zur organisationalen Einbindung und allgemeindidaktischen Grundlegung von Unterrichtsversuchen durch Lehramtsstudierende. Arnolds Analyse universitärer Dokumente veranschaulicht, dass die Außendarstellung von Praktikumskonzeptionen noch eine „Entwicklungsbaustelle“ der lehrerbildenden Hochschulen darstellt.
Teil 2 zur „Wirksamkeit von Praktika: Lernerfahrungen und Kompetenzentwicklung / Learning outcomes and competency development from field experiences“, gibt Aufschluss über Design und aktuelle Teilergebnisse einschlägiger, bekannter Studien. Dazu gehören KOSTA (vgl. Schneider, Bodensohn), ESIS (vgl. Bach, Besa, Arnold), ProPrax (Schubarth, Gottmann, Krohn), die in Kooperation von PH Zürich und PH St. Gallen durchgeführten Studien zur Entwicklung der Unterrichtskompetenz in der Lehrerausbildung (Baer, Guldimann, Kocher, Wyss), die von Tina Hascher geleiteten Lerntagebuchstudien (zusammen mit Kittinger bzw. Hofmann) sowie die im Kontext des Bamberger GLANZ-Projektes stehende Untersuchung zu Beobachtungsaufgaben im Praktikum (Rahm, Lunkenbein). Zudem wurde ein Beitrag zur Eignungsabklärung im Kontext des Kasseler Konzepts der Studieneingangsphase (Nolle, Bosse & Döring-Seipel) aufgenommen. Die KliP-Studie zum Jenaer Praxissemester sowie die KOPRA-Studie zum Praxisjahr der PH Weingarten hätten auch mit einem Beitrag in Teil 2 bedacht werden können, sie sind aber in Teil 3 des Bandes vertreten (siehe unten: Gröschner, Häusler sowie Schnebel).
Eingeleitet wird Teil 2 durch einen aufschlussreichen Ăśberblicksartikel von Kris-Stephen Besa und Michaela BĂĽdcher zum Stand der Forschungen zur Wirksamkeit von Schulpraktika im deutsch- und englischsprachigen Raum. Integriert ist hier auch eine mittels Expertenbefragung generierte Tabelle der 16 relevantesten Studien. Die Reduzierung dieser Liste auf so wenige Titel hat allerdings zur Folge, dass sie stark selbstreferentiellen Charakter hat. So sind die Autorinnen und Autoren des Bandes nur an vier der genannten Titel nicht selbst beteiligt.
Bei aller Standortspezifik – so Besa und Büdcher – gibt es sowohl im deutschsprachigen als auch im anglo-amerikanischen Raum deutliche Anzeichen für die besondere Bedeutsamkeit des Mentoring für die Wirksamkeit von Schulpraktika. Auch in Bezug auf die Grundlage zur Messung von Kompetenz(entwicklungen) stellt das Autorenteam hierzulande einen Konsens fest, denn diese werden weitgehend mit Hilfe der von Fritz Oser bzw. seitens der Kultusministerkonferenz vorgelegten Standards abgebildet. Eine verstärkte Zusammenarbeit bei der Entwicklung und Verwendung geeigneter Messinstrumente sei jedoch wünschenswert, um standortübergreifende Vergleiche zukünftig besser herstellen zu können.
Anhand der in Teil 2 aufgegriffenen Studien lassen sich verschiedene positive Wirkungen von Schulpraktika belegen, etwa wenn Studierende ihre Fähigkeiten zur Planung einer Unterrichtsstunde (Bach, Besa, Arnold) oder ihre Kompetenzen in den Bereichen Beurteilen und Innovieren vor und nach einem Praxissemester (Schubarth, Gottmann, Krohn) selbst einschätzen. Christoph Schneider und Rainer Bodensohn kommen auf der Basis ihrer KOSTA-Studie zu einem besonders optimistischen Gesamtfazit: “from a student perspective, teacher training does work“ (161) – vorausgesetzt, dass die Studierenden – ganz im Sinne Hatties – auch dazu ermuntert würden, regelmäßiges Feedback zu ihren Kompetenzentwicklungen zu geben.
Gleichzeitig warnen Tina Hascher und Cornelia Kittinger auf der Basis ihrer Lerntagebuchstudie davor, zu vergessen, dass Lernprozesse in Schulpraktika ein komplexes, nicht-lineares, eher zufälliges und nicht durch Andere kontrollierbares Geschehen bleiben (vgl. 232). Mit Blick auf das Potenzial gering strukturierter Lerntagebücher als Reflexionsinstrument machen Tina Hascher und Franz Hofmann zudem deutlich, dass nicht alle Studierenden je nach ihren individuellen Voraussetzungen (Persönlichkeit, Sprachkompetenz) gleichermaßen davon profitieren (vgl. 274).
Videoanalysen wie die von Baer, Guldimann, Kocher & Wyss ermöglichen es, die Unterrichtskompetenz von Novizen im Laufe bzw. am Ende der Lehrerausbildung genauer in den Blick zu nehmen, z. B. hinsichtlich des Qualitätsmerkmals der kognitiven Aktivierung der Schüler/innen. Das Autorenteam kommt in Bezug auf dieses Merkmal zu einem eher ernüchternden Fazit (vgl. 197). Ähnliches gilt auch für Sibylle Rahm und Martin Lunkenbein, die sich mit der Frage der Anbahnung von Reflexivität im Praktikum beschäftigen. Sie untersuchten, inwiefern Beobachtungsaufgaben in einer Praxisphase eine gezielte Wahrnehmung anregen und müssen feststellen, dass die Studierenden vermehrt auf niedrigen Reflexionsstufen über das Beobachtete referieren (vgl. 252).
Welche spezifischen Einflüsse auf und durch das „Mentoring in Schulpraktika“ festzustellen sind, lässt sich den fünf Beiträgen in Teil 3 des Bandes entnehmen:
Alexander Gröschner und Janina Häusler liefern Daten zur Betreuungstätigkeit von Mentorinnen und Mentoren sowie zur Relevanz ihrer berufsbezogenen Erfahrungen und individuellen Einstellungen. So betrug die durchschnittliche Betreuungszeit der Studierenden im fünfmonatigen Jenaer Praxissemester laut Selbstauskunft der befragten Lehrkräfte ca. 2,5 Stunden pro Woche und lag umso höher, je innovativer sich die Lehrkräfte selbst sowie das schulische Umfeld einschätzten. Das Alter der Mentorinnen und Mentoren korrelierte dagegen negativ mit der aufgewendeten Betreuungszeit. Damit bestätigt die Studie, dass die Berufserfahrung allein kein hinreichendes Kriterium für die Auswahl einer Lehrperson als Mentor/in darstellen sollte. Vielmehr sollten sie möglichst auch über eine ausgeprägte „Professionalisierungssympathie“ (330) verfügen. In diesem Zusammenhang erschließt sich die wichtige Rolle von Schulleitungen (vgl. den Beitrag von Schnebel) sowie die Bedeutung spezifischer Fortbildungsangebote für Mentorinnen und Mentoren (vgl. Crasborn, Hennissen).
In den Beiträgen von Staub, Waldis, Futter & Schatzmann sowie von Gut, Moroni, Niggli & Bertschy geht es schließlich um den konkreten Verlauf und Gewinn von Unterrichtsbesprechungen als Lerngelegenheiten im Praktikum. Das zuletzt genannte Autorenteam greift dabei als einziges innerhalb des Sammelbandes implizit die Frage auf, welcher Nutzen aus der Kooperation zwischen lehrerbildender Universität und Praktikumsort auch für die universitäre Weiterentwicklung der Lehre, insbesondere der Allgemeinen Didaktik, gezogen werden kann. Somit eröffnen sich – zumindest aus Sicht der Rezensierenden – hier noch einmal Bezüge zum eingangs erwähnten Konzept des „Didaktikums“ von Paul Heimann. Das Autorenteam veranschaulicht, wie eine in der universitären Begleitveranstaltung unter Beteiligung einer Praxislehrkraft entwickelte Fallaufgabe die Schaffung eines „hybriden Raumes“ unterstützen kann, innerhalb dessen eine Verschränkung unterschiedlicher Perspektiven von Hochschule und Praxis auf dasselbe Thema – hier: Innere Differenzierung – möglich wird. Dabei nehmen die entsprechend vorbereiteten Studierenden eine durchaus aktive, gesprächssteuernde Rolle in den getrennten Vorbesprechungen (nur mit Dozent/in bzw. nur mit Praxislehrkraft) sowie insbesondere auch in der gemeinsamen Nachbesprechung ihres Unterrichtsversuches mit Dozent/in und Praxislehrkraft ein.
Allen, die an der Erforschung bzw. an der Konzeption und Durchführung von Schulpraktika oder von Mentorenprogrammen beteiligt sind, sei der hier vorgestellte Sammelband zur Lektüre empfohlen. Neben einer Fülle an interessanten Erkenntnissen zu den Chancen und Grenzen der Wirksamkeit von Praxisphasen in der Lehrerausbildung bietet er vor allem Struktur, Orientierung und mögliche Anknüpfungspunkte innerhalb einer sich zunehmend stärker vernetzenden und internationaler werdenden Forschungslandschaft.
[1] Heimann, P.: Didaktik als Theorie und Lehre. In: Die Deutsche Schule, 54. Jg. 1962, H. 9, 407–427.
[2] Bach, A.: Kompetenzentwicklung im Schulpraktikum. MĂĽnster: Waxmann 2013.
EWR 14 (2015), Nr. 2 (März/April)
Schulpraktika in der Lehrerbildung / Pedagogical field experiences in teacher education
Theoretische Grundlagen, Konzeptionen, Prozesse und Effekte / Theoretical foundations, programmes, processes, and effects
MĂĽnster / New York: Waxmann 2014
(400 S.; ISBN 978-3-8309-3057-0; 34,90 EUR)
Tobias Bauer und Andrea Reinartz (Dresden)
Zur Zitierweise der Rezension:
Tobias Bauer und Andrea Reinartz: Rezension von: Arnold, Karl-Heinz / Gröschner, Alexander / Hascher, Tina (Hg.): Schulpraktika in der Lehrerbildung / Pedagogical field experiences in teacher education, Theoretische Grundlagen, Konzeptionen, Prozesse und Effekte / Theoretical foundations, programmes, processes, and effects. MĂĽnster / New York: Waxmann 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 2 (Veröffentlicht am 08.04.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383093057.html
Tobias Bauer und Andrea Reinartz: Rezension von: Arnold, Karl-Heinz / Gröschner, Alexander / Hascher, Tina (Hg.): Schulpraktika in der Lehrerbildung / Pedagogical field experiences in teacher education, Theoretische Grundlagen, Konzeptionen, Prozesse und Effekte / Theoretical foundations, programmes, processes, and effects. MĂĽnster / New York: Waxmann 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 2 (Veröffentlicht am 08.04.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383093057.html