Dem Buch von Marielle Reyhn liegt die Hypothese zugrunde, dass Ganztagsschulen bessere Sprachfördermöglichkeiten bieten als Halbtagsschulen. Die größeren Zeitgefäße und Gelegenheiten für nicht-formelle (sprachliche) Lernprozesse werden als Vorteile gesehen. Eine Überprüfung dieser Annahme wird in der Dissertation nicht beansprucht, da kein Schultypenvergleich erfolgt. Die Tradition der Ganztagsschule als einzige Schulform in Frankreich hat die Autorin vielmehr zu einem Ländervergleich veranlasst: Mit einem empirischen, qualitativen und quantitativen Design wird eine Straßburger mit einer Hamburger Ganztagsschule verglichen. Untersucht werden die Rahmenbedingungen von sprachlicher Förderung und ein vermuteter höherer Sprachfördererfolg der französischen Schule.
Nach einer EinfĂĽhrung in die Vorannahmen der Untersuchung begrĂĽndet die Autorin im ersten Kapitel den Gegenstand dieser und stellt kurz deren Aufbau vor. Im zweiten Kapitel vergleicht sie die Situation der Migrationsgesellschaft, die historische Entwicklung und die Definition von Migration in Deutschland und Frankreich und referiert Ergebnisse der PIRLS- und PISA-Studien.
Im dritten Kapitel wird der theoretische Rahmen dargelegt. Es werden der kapitaltheoretische Ansatz Bourdieus sowie Konzepte von Sprachkompetenzen als Faktor schulischen Erfolgs erläutert. Letztere beziehen sich auf die in der Schule dominierende Einzelsprache und auf die Bildungssprache. Eine solche Ausrichtung von Sprachförderung führt leicht zu Abwertung von Plurilingualität und zu normativer Betrachtung vor allem randständiger oder subkultureller Register. Deswegen ist die Einbeziehung sozio- bzw. varietätenlinguistischer Perspektiven positiv hervorzuheben, mit denen die Lesenden darauf aufmerksam gemacht werden, dass im Leben von Menschen nicht nur mehrere Sprachen, sondern auch diverse Sprachregister und -verwendungen eine bedeutsame Rolle spielen können. Die Notwendigkeit schulsprachlicher Förderung untermauert die Autorin griffig mit einer knappen Darstellung der Bourdieuschen Kapitaltheorie und der Vererbungsmechanismen von Bildungschancen. Sie verbindet mit dem Ziel der Förderung einer Landes- und der Bildungssprache erkennbar das Ziel der Verfügbarkeit und Nutzbarkeit von Bildung für alle.
Ein Vergleich der Schulsysteme erfolgt im vierten Kapitel. Die unterschiedlichen Ganztagsschultypen und bildungspolitischen Rahmenbedingungen werden diskutiert.
Nach einer Zusammenfassung der bisherigen Ausführungen im fünften wird im sechsten Kapitel die empirische Untersuchung dargestellt. In einem qualitativen Teil sollen die strukturellen Rahmenbedingungen der Sprachförderung an den beiden Schulen erhoben werden. Die Sprachförderwirkung soll quantitativ anhand bildungssprachlich ausgerichteter Sprachstandserhebungen mit Viert-, Fünft- und Sechstklässlern ermittelt werden, ergänzt durch einen Intelligenztest sowie Fragebögen zu sozialen Faktoren und zur Lesesozialisation. Dass Rückschlüsse von Sprachleistungsvergleichen auf Fördereffektivität im Rahmen von Fallstudien problematisch sind, wird von der Autorin in Kauf genommen.
Im qualitativen Teil ist die Passung zwischen der evaluativen Zielsetzung der Arbeit und methodischen Entscheidungen fragwürdig. Es wurden Interviews mit je drei Lehrpersonen und der Schulleitung zu pädagogischem Profil, Rahmenbedingungen der Sprachförderung sowie zur Zufriedenheit mit diesen geführt. Die Auswertung zielt aber nicht auf die Sicht dieser Akteur_innen, sondern auf faktisch bestehende Bedingungen. Entsprechend erfolgt auch keine vertiefte Analyse, sondern die Ergebnisse beschreiben strukturelle Merkmale wie Personal- und Raumsituation oder Projektangebote. Die Möglichkeit einer schriftlichen Befragung, die in breiterem Umfang durchführbar wäre und damit die Frage nach besonderen Potentialen von Ganztagsschulen beantworten helfen könnte, wird von der Autorin nicht diskutiert. Positiv ragt in der Auswertungsmethodik die Anwendung eines innovativen Modells zur Untersuchung „sozialer Kontextvariablen“ [1] heraus.
Im Ergebnisteil, Kapitel sieben, zeigt sich, dass die französische Schule gegenüber der deutschen nicht besser abschneidet. Die Leistungsprofile sind teilweise gegenläufig: bessere Lesekompetenzen in Straßburg, bessere produktive Textbewältigung in Hamburg. Die Autorin vergleicht Einzelergebnisse auch mit denen größerer Studien (z.B. GIM, Ganztagsschule und Integration von Migranten, PIRLS, Progress in International Reading Literacy Study). Es stellt sich heraus, dass die Lesekompetenzen der Straßburger Schüler_innen nicht besser sind als die der Schüler_innen in Deutschland in der PIRLS. Die Berechnungen diverser Korrelationen ergeben keine eindeutigen Zusammenhänge. Dem umsichtigen Umgang mit Indikatoren und Einflussvariablen eines so komplexen Gegenstandes, wie es bildungssprachliche Kompetenzen sind, und der Bildung entsprechender Untergruppen, steht das Problem zu kleiner Stichprobengrößen gegenüber, wie die Autorin selbst resümiert (z. B. 134, 254). Teilweise werden die Ergebnisse der Studie aber von anderen Studien gestützt, so stimmen sie z. B. mit der GIM-Studie darin überein, dass Sprachkompetenz-Unterschiede nicht von der familiären Migrationskonstellation – seltsamerweise „Migrationsstatus“ genannt (210, 254) – abhängen. Den empirischen Teil liest mit Gewinn, wer an der Ausdifferenzierung von sprachlichen Teilkompetenzen oder an Fragen der Operationalisierung von „sozialen Kontextvariablen“ vertieftes Interesse hat.
Im achten Kapitel diskutiert die Autorin die Ergebnisse. Sie kommt zu dem Schluss, dass sich die zeitlichen Ressourcen der Ganztagsschulen ohne das Vorhandensein eines Sprachförderkonzeptes, ohne sprachdidaktisch qualifizierte und kooperierende Lehrpersonen nicht positiv auf sprachliche Bildung und auf den Ausgleich herkunftsbedingter Nachteile auswirken. Die Autorin vermutet auf der Grundlage ihrer Auswertungen eine stärkere Relevanz von Curricula gegenüber den von ihr untersuchten strukturellen Rahmenbedingungen.
Insgesamt handelt es sich um ein anregendes Buch mit einem Reichtum an Informationen. Es gibt aber Anlass zu einer grundsätzlichen Kritik: Das Buch reproduziert die allgegenwärtige Konstruktion der sozialen Gruppe Menschen „mit Migrationshintergrund“ (11 u. v. a.), obwohl die Forschungslage zeigt, dass das biographische Merkmal von zeitlich kürzer oder länger zurückliegender familiärer Migration Schulleistungen und (Sprach)Förderbedarf nicht erklärt, hält die Arbeit an einer zielgruppenbezogenen Sprachförderung für „Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund“ fest. So zeigen ihre eigenen, wenn auch statistisch nicht repräsentativen Daten keine Unterschiede der Sprachkompetenzen zwischen Schüler_innen mit und ohne Migrationshintergrund. Die Autorin arbeitet die anzunehmenden Hauptfaktoren für die Schulleistungsdiskrepanzen je nach sozialer Herkunft sehr wohl heraus: geringeres kulturelles, aber auch soziales und ökonomisches Kapital im Sinne von Bourdieu [2], geringere Sprachkompetenzen sowie fraglich Diskriminierung auf dem Bildungsweg. Damit widerlegt die Autorin den Nexus zwischen Migration und Förderbedarf – und hält ihn dennoch aufrecht. Die Untersuchung steht in dem Dilemma, sich an der „Herstellung von Differenz“ [3] zu beteiligen und reiht sich in jene Untersuchungen und öffentlichen Diskurse ein, die durch die inflationäre Fokussierung auf den „Migrationshintergrund“ die Zweiteilung der Einwanderungsgesellschaft zementieren.
[1] Baumert, J. / Watermann, R. / Schümer, G.: Disparitäten der Bildungsbeteiligung und des Kompetenzerwerbs. Ein institutionelles und psychologisches Mediationsmodell. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 6 / 2003, H.1, 46-72.
[2] Bourdieu, P.: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg: VSA-Verlag 1992.
[3] Sturm, T.: Lehrbuch Heterogenität in der Schule. München: Reinhardt 2013.
EWR 13 (2014), Nr. 4 (Juli/August)
Sprachförderung in Ganztagsschulen
Hamburg und StraĂźburg im Vergleich
MĂĽnster: Waxmann 2014
(288 S.; ISBN 978-3-8309-3021-1; 34,90 EUR)
Simone Kannengieser (Basel)
Zur Zitierweise der Rezension:
Simone Kannengieser: Rezension von: Reyhn, Marielle: Sprachförderung in Ganztagsschulen, Hamburg und StraĂźburg im Vergleich. MĂĽnster: Waxmann 2014. In: EWR 13 (2014), Nr. 4 (Veröffentlicht am 25.07.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383093021.html
Simone Kannengieser: Rezension von: Reyhn, Marielle: Sprachförderung in Ganztagsschulen, Hamburg und StraĂźburg im Vergleich. MĂĽnster: Waxmann 2014. In: EWR 13 (2014), Nr. 4 (Veröffentlicht am 25.07.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383093021.html