Es wird davon ausgegangen, dass 7,5 Mio. Menschen in Deutschland zur Gruppe funktionaler Analphabeten gehören. 517.000 Menschen (6,9%) davon befinden sich in einer Ausbildung. Diese Ergebnisse der Leo-Level-One Studie sind bemerkenswert. Sie deuten nicht nur darauf hin, dass die Berufs- und Arbeitswelt zum Verlust von Literalität beiträgt, sie konfrontieren die Berufspädagogik auch mit Fragen, auf die sie derzeit kaum Antworten hat, z.B.: Wie schaffen Jugendliche den Weg in eine Ausbildung, ohne über ausreichende Lese- und Schreibkompetenzen zu verfügen? Wie ist ihnen die Bewältigung der Ausbildung überhaupt möglich? Wer sind diese Jugendlichen, und wie können sie unterstützt werden? Funktionaler Analphabetismus ist eine Facette der Heterogenität von Auszubildenden. Damit wird funktionaler Analphabetismus zum Thema der Berufspädagogik und stellt eine bislang vernachlässigte methodisch-didaktische Herausforderungen der beruflichen Bildung dar. Die Befunde der Leo-Studie sind ein Plädoyer dafür, dem Thema Analphabetismus auch in der beruflichen Bildung größere Beachtung zu schenken. Befunde und Forschungsarbeiten dazu sind jedoch eher begrenzt. Ansätze lassen sich zumindest in der nunmehr über 30-jährigen Alphabetisierungsarbeit in Deutschland finden.
Der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V. ist einer der zentralen Akteure der Alphabetisierungsarbeit in Deutschland. Der Verband ist Herausgeber der im Folgenden rezensierten Reihe „Alphabetisierung und Grundbildung“. Die Reihe dokumentiert in den Bänden 1, 2, 3, 5 und 8 die vom Bundesverband organisierten Tagungen zur Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener. Daran nehmen Experten, Wissenschaftler, politische Akteure, Lehrende und auch Lernende teil. Band 4 ist die Dissertation von Henrike Pracht. Band 6 gibt Einblicke in die Entwicklung und Durchführung der lea-Diagnostik. Band 7 ist ein Werkstattbuch zum Forschen im Feld der Alphabetisierungsarbeit. In Band 10 wurden die Ergebnisse der o.g. Leo-Level-One Studie veröffentlicht. Band 9 ist bislang noch nicht erschienen. In der vorliegenden Sammelrezension werden alle erschienenen neun Bände dieser Reihe rezensiert. Die ersten fünf Bände werden in dieser, die Bände 6 bis 10 in der folgenden Ausgabe der EWR besprochen.
Die ersten beiden Bände legen ihren Fokus auf Forschungsansätze in der Praxis der Alphabetisierungsarbeit. Jürgen Genuneit betrachtet das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Praxis der Alphabetisierungsarbeit eher kritisch. Genuneit ist Gründungsmitglied des Bundesverbandes Alphabetisierung und war bis 2011 Vorstandsmitglied des Verbandes. In Band 1 erörtert er anhand literarischer Beispiele das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Praxis der Alphabetisierungsarbeit. Darin zeige sich, dass Wissenschaft oft um ihrer selbst willen betrieben werde. Sie degradiere Analphabeten zu Objekten von Forschern. Wissenschaft werde nicht geleitet durch das Interesse, die Lebenssituation und den Wissenszuwachs von Analphabeten zu verbessern, sondern vielmehr durch die individuellen Erkenntnisinteressen der Forscher.
Die Beiträge anderer Autoren sind weniger wissenschaftsskeptisch und zeigen viel deutlicher, welchen Beitrag Wissenschaft und Forschung zur Weiterentwicklung der Alphabetisierungspraxis leisten können. Dazu formuliert Hans Brügelmann in Band 2 Forschungsdesiderata sowie Forschungsperspektiven der Alphabetisierungsforschung. Zunächst müsse es differenziertere Kriterien und Bezugsnormen geben, um das gesellschaftliche Problem Analphabetismus besser bestimmen und beschreiben zu können. Zu klären sei die Frage, über welche Kompetenzen Erwachsene verfügen müssten, um ihren Alltag bewältigen zu können. Auch die Betroffenen müssten viel differenzierter betrachtet werden können. Es sollte möglich sein, die Ursachen von Analphabetismus besser zu verstehen und die Wirksamkeit von Hilfsangeboten zu untersuchen. Die Ergebnisse seiner Analyse übersetzt er in Anforderungen an die Alphabetisierungsforschung, z.B. die stärkere Nutzung und Sekundäranalyse vorhandener empirischer Daten sowie regelmäßige Bestandsaufnahmen und Längsschnittstudien. Dafür bedürfe es zuverlässigerer Kriterien und Forschungsmethoden.
Beide Bände geben zudem Einblicke in Ergebnisse internationaler Forschungsarbeiten. Ursula Howard berichtet in Band 1 über den Neuanfang der Alphabetisierungsforschung in Großbritannien im Jahr 1998. Im Zuge dieses „freshstart“ entstanden erste Arbeiten zum Einfluss der erreichten Literalität auf individuelle Lebenschancen, den beruflichen Erfolg und die Gesundheit. Außerdem erschienen Studien zum Zusammenhang von Motivation und Lernerfolg erwachsener Lerner. Jean-Pierre Jeantheau stellt im folgenden Beitrag die Vorgehensweise und die zentralen Ergebnisse des französischen IVQ-Survey’s (Information et VieQuotidienne) vor. Drei Ergebnisse werden von ihm hervorgehoben: Analphabeten seien in den meisten Fällen männlich. Mit zunehmendem Alter steige das Risiko, von Analphabetismus betroffen zu sein. Gerade einmal 14% der Analphabeten seien arbeitslos. Damit erklärt er Analphabetismus in Frankreich zu einem Problem der Arbeitswelt. In Band 2 berichtet Matthias Storm aus Kanada über den Einsatz von Blended Learning in der Alphabetisierungsarbeit.
In Band 1 befassen sich mehrere Beiträge mit den psychologischen, lerntheoretischen und sprachwissenschaftlichen Grundlagen der Alphabetisierungsarbeit. Martin Korte fragt: Wie lernen Erwachsene? Korte zeigt einerseits, unter welchen Bedingungen Sprachlernen im Erwachsenenalter besonders erfolgreich ist. Die Kindheit sei aufgrund der hohen Plastizität des Gehirns eine besonders sensible und wichtige Phase für den Spracherwerb. Er weist auf die Vorteile zweisprachig aufwachsender Kinder bei der Entwicklung ihrer sprachlichen Fähigkeiten hin. Am Ende des Beitrags geht er auf Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) ein, kommt aber nicht mehr dazu zu zeigen, welche Konsequenzen das für das Lernen Erwachsener hat oder welche therapeutischen Ansätze daraus resultieren.
Auch Carl Ludwig Naumann und Carla Röhner-Münch erörtern den Einsatz von Ansätzen der Sprachförderung und der LRS-Therapie in der Alphabetisierungsarbeit. Speziell Naumann kritisiert dabei, dass im Deutschunterricht der Stellenwert der Orthographie überbetont werde. Dadurch würde die Form der Sprache über ihre Funktion gestellt werden. Die Form habe der Funktion zu folgen, nicht umgekehrt. Die Orthographie übernehme die Funktion der besseren Lesbarkeit von Texten. Deshalb müsse dem Lesenlernen zunächst eine viel größere Aufmerksamkeit gewidmet werden als der Rechtschreibung. Ähnlich argumentiert auch Röhner-Münch. Das deutsche Lautalphabet berge Tücken, die den Erfolg des Schriftspracherwerbs erschwerten. Wie Naumann kommt sie zu dem Ergebnis, dass Lernende sich deshalb zunächst durch (Vor-)Lesen mit der Lautsprache und dem Lautalphabet vertraut machen müssten.
Band 2 legt seinen Fokus schließlich auf innovative Forschungs- und Praxisansätze, sowie auf den Einsatz von Medien in der Alphabetisierungsarbeit. Bspw. werden die Online-Lernportale „ich-will- lernen.de“, „ich-will-schreiben-lernen.de“ und „ich-will-rechnen-lernen.de“ vorgestellt. Jürgen Genuneit und Ulrich Steuten gehen auf die Bedeutung der Politik als Thema und Lerngegenstand in der Alphabetisierungs- und Grundbildungsarbeit ein. Dadurch sei es möglich, politische Bildung, politische Teilhabe und Alphabetisierung miteinander zu verknüpfen. Andere Beiträge wie der von Hugo Kremer oder von Eva Steffens-Elsner stellen Praxisbeispiele für Grundbildung und Alphabetisierung im Kontext beruflicher Bildung vor. Bei Kremer geht es um Grundbildungsangebote in Reha-Vorbereitungslehrgängen des BFW München und deren theoretische Reflexion.
Band 3 legt einen deutlicheren Fokus auf die gesellschaftliche Bedeutung der Alphabetisierungsarbeit. Er befasst sich unter dem Titel „Alphabetisierung und Grundbildung in Deutschland: Analphabeten kommen zu Wort“, mit dem Problem der Ausgrenzung von Menschen, die nicht oder nur eingeschränkt lesen und schreiben können. Dass Analphabeten „zu Wort kommen“, so der Herausgeber, sei eher die Ausnahme als die Regel. Fragestellungen sind: Welche Strukturen und Mechanismen verhindern die gesellschaftliche Teilhabe funktionaler Analphabeten? Welche Ausgrenzungen und Benachteiligungen erfahren betroffene Menschen?
Besonders hervorzuheben ist der Beitrag von Jutta Stobbe. Sie reflektiert darin ihren eigenen Lebensweg und ihre eigenen biografischen Erfahrungen als funktionale Analphabetin. Ihre eingeschränkten Lese- und Schreibfähigkeiten konnte sie bis zum zweiten Ausbildungsjahr ihrer Ausbildung zur Köchin verheimlichen. Im dritten Lehrjahr deckte ihr Küchenchef ihr Geheimnis auf. Er half ihr schließlich dabei, die Prüfung zu bestehen. Mit dem Schuleintritt ihrer eigenen Kinder sei ihre Wut auf die Lehrer gekommen, die kein Verständnis für eine Mutter hätten, die nicht fähig ist, mit ihren Kindern Lesen und Schreiben zu üben. Dies sei der Auslöser für ihre Anmeldung in einem Alphabetisierungskurs gewesen. Dort lernte sie, dass es noch mehr Menschen gab, die das gleiche Problem haben wie sie.
Mona Motakef betrachtet Alphabetisierung als Menschenrecht. Artikel 26 der UN-Menschenrechtscharta unterscheide zwischen dem Recht auf Grundschulbildung und dem Recht auf grundlegende Bildung. Darin sei das Recht auf Alphabetisierung eingeschlossen. Es würde all diejenigen einbeziehen, die ihre „grundlegenden Bildungsbedürfnisse“ noch nicht befriedigen konnten.
Unter dem Titel „Sprache als strukturelles Element“ diskutieren Markus Paulus und Danielle Rodarius Sprache als Inklusionsmedium. Sie verweisen auf ihre integrierende Funktion und zeigen, wie das Nicht-Beherrschen der (Schrift-)Sprache zur Exklusion führen kann.
Im zweiten Abschnitt des Sammelbandes beschreiben funktionale Analphabeten ihre Lebenssituationen, ihre Ängste, aber auch ihre erreichten Erfolge. Im dritten Abschnitt werden Medien, Bilder und Perspektiven auf Analphabetismus diskutiert und aufgezeigt. Werner Stein untersucht bspw. die mediale Darstellung und Inszenierung von Analphabetismus in Film und Fernsehen. Er gibt Auszüge aus verschiedenen Filmen wieder und zeigt, in welchen stereotypen Klischees Analphabeten darin dargestellt werden. In den Beiträgen von Stefan Schweiger und Verena Terhorst werden Interviews mit Christian Cull, dem Regisseur der Sat1- Dokumentation „Gemeinsam stark: Lesen lernen mit 48 Jahren“, und mit dem Protagonisten dieser Dokumentation Uwe Boldt vorgestellt. Jürgen Genuneit stellt das Ausstellungsprojekt „Analphabetismus und Alphabetisierung auf Briefmarken“ vor. Im vierten Abschnitt werden schließlich neue und innovative Methoden, Strategien und Konzepte aus Forschung und Unterrichtspraxis vorgestellt.
Band 4 trägt den Titel „Alphabetisierung in der Zweitsprache Deutsch als Schemabildungsprozess“. Es handelt sich dabei um die Dissertation von Henrike Pracht. Sie untersucht, ob sich die Erklärung zum Erwerb von gesprochener Sprache und von Schriftsprache in einem einheitlichen, empirisch begründeten theoretischen Ansatz integrieren lassen.
Die Alphabetisierung von Migranten, so die Autorin, habe mittlerweile den Status eines eigenständigen fachdidaktischen Bereichs erlangt. Es fehle aber eine ebenso eigenständige wissenschaftliche Bearbeitung und Konzipierung dieses Themas. In der Praxis stelle die mangelnde Verknüpfung von Schrift- und Sprachunterricht ein Problem dar. Bei der Vermittlung der Schriftsprache orientiere man sich vor allem an Konzepten der Erwachsenenalphabetisierung, der Erstalphabetisierung von Kindern und der Legastheniebehandlung, beim Sprachlernen bediene man sich herkömmlicher Methodiken, bspw. aus dem DaZ-Unterricht (Deutsch als Zweitsprache) und dem Fremdsprachenunterricht. Eine gemeinsame theoretische Fundierung für den Erwerb und die Anwendung von gesprochener und geschriebener Sprache liege bisher nicht vor.
Prachts Ausgangspunkt ist der „usage-based“-Ansatz. Demnach sei Sprache bzw. linguistische Kognition – im Gegensatz zu anderen Annahmen – kein „Sonderfall“, sondern integraler Bestandteil menschlicher Kognitionen. Im Sinne dieser auch als „experience approach“ bezeichneten Theorie wird Sprache als System gebrauchsbasierter Routinen verstanden, das sich entsprechend der Brauchbarkeit, Verwendungshäufigkeit und -dichte sowie der perzeptuellen Zugänglichkeit sprachlicher Präsentationen herausbildet. Sprache, so die Annahme, beruhe auf der Entwicklung und der Anwendung funktionaler Schemata und sei somit eher fall- und ählichkeits-, denn regelbasiert.
Ausgehend von der Hypothese, dass der „usage-based“-Ansatz und die darin postulierten Bedingungsfaktoren sprachlicher Schemaetablierung auch auf den Erwerb und die Anwendung schriftsprachlicher Strukturen übertragbar seien und somit einen Lösungsansatz für das Problem der mangelnden theoretischen Verknüpfung bildeten, modelliert Pracht eine „usage-based“ Theorie schriftsprachlicher Schemabildungsprozesse. In einem zweiten Schritt konzipiert sie entsprechende Lehr-Lernarrangements zur Basis-Alphabetisierung, die einerseits der Umsetzung der theoretischen Überlegungen in didaktische Konzeptionen dienen und zum anderen eine Operationalisierung der Theorie für eine anschließende empirische Untersuchung darstellen. Den Kern des Alphabetisierungskonzepts bilden Wortstrukturschemata, die an Vorläufermodelle wie den „Osnabrücker Materialien“ und die „Silbenanalytische Methode“ angelehnt sind.
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die eingangs wenig literalisierten Kursteilnehmer ihre bisherigen additiven Strategien der Worterkennung im Verlauf der Arbeit mit den Wortstrukturschemata zumindest teilweise verlassen und vermehrt konfigurative Strategien nutzen. Das ließe auf die Etablierung und Verwendung funktionaler Schemata schließen. Pracht konstatiert, dass Aufbau und Verwendung dieser schriftsprachlichen Schemata durch zahlreiche, wechselseitig wirkende Faktoren beeinflusst sei. In den Untersuchungsergebnissen zeigt sich, dass die „usage-based-theory“ und die darin postulierten Bedingungsfaktoren sprachlicher Schemabildung auch für den Bereich der Schriftsprache Geltung besitzen. Aber es bestehe Modifikationsbedarf. Betont wird, dass das funktionale Verstehen beim Schriftspracherwerb größere Relevanz besitzt als beim Erlernen gesprochener Sprache und ein gebrauchsorientierter Schrifterwerb stärker zu fördern sei. Damit wird einmal mehr die Bedeutung von Vorwissen und Lebensweltbezug der Teilnehmenden in Lernsituationen betont. Allerdings wird auf entsprechende Kontextfaktoren wie bspw. den Einfluss der jeweils zugrundeliegenden Muttersprache und bereits vorhandene zweitsprachliche Repräsentationen im Rahmen der Arbeit nur ansatzweise eingegangen, was angesichts der betonten Erfahrungsgebundenheit im vorgestellten „usage-based“-Ansatz auf weiteren Forschungsbedarf schließen lässt.
In Band 5 geht es um die Bedeutung von Kunst, künstlerischer Praxis und kultureller Bildung für die Praxis der Alphabetisierungs- und Grundbildungsarbeit. Die Beiträge des Bandes befassen sich mit der Frage nach der Selbstverständlichkeit sowie den gesellschaftlichen und individuellen Erwartungen bzgl. der Beherrschbarkeit des Lesens und Schreibens. Die wird mit dem Fokus auf „Kunst und Kultur“ hinterfragt. So wird die Beziehung zwischen Alphabetisierungsarbeit, Kunst und Kultur erörtert. Das erfolgt z.B. im Kontext der Entwicklung geeigneter Lernmaterialien für die Alphabetisierungsarbeit. Marion Döbert kommt schließlich zu dem Ergebnis, dass das Entwickeln von (Lern-)Materialien in der Grundbildung immer noch ein eher wenig beachtetes Thema sei und häufig eine besondere Herausforderung darstelle. Aber die Kunst biete dafür verschiedene Möglichkeiten, z.B. als Kommunikationsmittel oder in Sprachspielen. Diese könnten die Motivation steigern, Ängste vor dem Schreiben abbauen und Lernprozesse aktivieren. Entsprechende Übungen zur Schrift werden in den Beiträgen von Tanja Leonhardt und von Heike Wilde erläutert. In erster Linie gehe es darum, Lernzeit zu gewinnen. Lernspiele und Übungen würden die Lernzeit ausweiten und flexibilisieren.
Von Tanja Leonhardt sind zwei weitere Beiträge in Band 5 zu finden: Im ersten befasst sie sich mit dem Projekt „Wortgarten“. Es geht darum, Sprache körperlich zu erfahren. Sie betont, dass es nicht das Ziel sei, mit dem Wortgarten lesen und schreiben zu lernen. Vielmehr sollen die Angst vor Buchstaben genommen und Hemmungen beim Gebrauch der Schriftsprache abgebaut werden. In einem weiteren Beitrag erläutert sie, dass nur Sprache lebendig sei. Das geschriebene Wort stehe fest. Allein und unabdingbar auf Papier könne es, losgelöst von seinem Urheber, von jedem anderen Menschen beliebig interpretiert, weitergetragen und verwendet werden. Es habe – so die Autorin – eine Verlagerung der Priorität vom gesprochenen hin zum geschriebenen Wort gegeben. Einzelne Menschen könnten den damit einhergehenden, steigenden schriftsprachlichen Anforderungen kaum nachkommen. Auch diesen Menschen müsse eine gesellschaftliche Wertschätzung entgegengebracht werden.
Allerdings lassen sich auch Beiträge mit einem anderen Fokus finden: Helmut Bremer untersucht mit Hilfe von Bourdieus kultursoziologischem Ansatz den Einfluss sozialer Milieus auf das individuelle Bildungsverhalten und auf die Entstehung von funktionalem Analphabetismus. Literalität werde durch Alltagskultur und demzufolge milieuspezifisch geprägt. Folglich kämen im unterschiedlichen Beherrschen der Schriftsprache die sozialen Machtverhältnisse zum Ausdruck. Wiederum wird die Notwendigkeit betont, die Alltagswelt funktionaler Analphabeten und die von ihnen entwickelten Strategien zu deren Bewältigung anzuerkennen und wertzuschätzen. Aber dabei dürfe es nicht bleiben. Die Prozesse und Mechanismen, die zur Entstehung von funktionalem Analphabetismus geführt haben, müssten ebenfalls in den Blick genommen werden.
Jürgen Genuneit und Gerald Schöber prägen in ihrem Beitrag den Begriff „AlphaKultur“. Unter AlphaKultur verstehen sie die ästhetische Darstellung von Analphabetismus und Alphabetisierung. Sie geben kurze Einblicke, wie in der Literatur, der Musik oder der darstellenden Kunst Alphabetisierung und Analphabetismus ästhetisch thematisiert werden. Buchstaben mit Bildern verknüpfen, Plakate als Werbung für Alphabetisierung nutzen, ABC- Lieder in der Musik oder literarische Texte zur Sensibilisierungsarbeit nutzen, sei AlphaKultur. Gemessen an diesen Vorstellungen sei die ästhetische Gestaltung von Unterrichtsmaterialien unzureichend.
In den verschiedenen Beiträgen des Bandes wird hervorgehoben, dass die Begriffe Kunst, Kreativität und Kultur nicht auf das Anregen von Lernprozessen reduziert werden dürfen. So z.B. in den Beiträgen von Gertrud Kamper und Carmen Mörsch. Beide heben die Bedeutung von Kunst und Kultur für Lehr-/Lernprozesse in der Alphabetisierungs- und Grundbildungsarbeit hervor. Kritisch sei, wenn es zu einer Instrumentalisierung von Kunst und Kreativität komme und diese als Wirtschaftsfaktoren, Intelligenzförderung oder Arbeitsmittel gesehen würden.
Schließlich erörtert Frank Drecoll in seinem Beitrag den Deutschen Qualifikationsrahmen (DQR), dessen Aussichten und Risiken. Er stellt die Möglichkeiten heraus, die er für die Alphabetisierungsarbeit bietet. Einschränkend formuliert er jedoch, dass seine Lernergebnisorientierung nicht unbedingt mit der in der Alphabetisierungsarbeit geforderten Teilnehmerorientierung einhergehe.
Insgesamt geben die Bände der Reihe, insbesondere die Sammelbände und Tagungsdokumentationen, kurze, pointierte und intensive Einblicke in die Praxis der Alphabetisierungsarbeit. Auf vergleichsweise wenigen Seiten sind viele kompakte Beiträge zusammengefasst. Sie sind eine Mischung aus bildungspolitischem und pädagogischem Diskurs, Meinungen, Methodendiskussionen, Praxisreflexionen und Erfahrungsberichten. Dies macht die Bände abwechslungsreich, informativ und lesenswert. In ihrer chronologischen Abfolge dokumentieren sie die Entwicklung und jeweils aktuellen (wissenschaftlichen und praxisbezogenen) Diskussionen der Alphabetisierungsarbeit in Deutschland. Verschiedene Beiträge deuten auf konkrete Probleme der Alphabetisierungspraxis hin, z.B. im Bereich Methodik und Didaktik oder bei der Professionalisierung des Alphabetisierungspersonals. Deutlich wird auch, dass Wissenschaft und Forschung, vor allem einer notwendigen und längst überfälligen Grundlagenforschung offensichtlich große Skepsis entgegengebracht wird. Wissenschaft wird auf eine Reflexion von Praxis und auf die Entwicklung von Lernmaterialien reduziert. Genauso skeptisch werden offenbar Förderprogramme wahrgenommen, wie der vorgestellte BMBF Schwerpunkt zur Alphabetisierung und Grundbildung. Diese projektförmigen Ansätze, die als Impulsgeber für die Weiterentwicklung der Alphabetisierungsarbeit gedacht sind, werden offenbar vielmehr als Gefahr für die Verstetigung der Alphabetisierungsarbeit gesehen (z.B. Band 2, 117).
Für die Berufspädagogik stellen die besprochenen Bände Erklärungsansätze im Hinblick auf die oben formulierten Fragestellungen bereit. Sie geben Einblicke in die Biografien und Lebenslagen funktionaler Analphabeten. Sie zeigen die Bedingungen, unter denen funktionaler Analphabetismus entsteht. Es lassen sich didaktische Ansätze und methodische Beispiele dafür finden, wie berufliches Lernen mit Grundbildung bzw. Alphabetisierung, aber auch mit der Förderung schriftsprachlicher Kompetenzen verzahnt werden können.
EWR 12 (2013), Nr. 3 (Mai/Juni)
Sammelrezension Alphabetisierung und Grundbildung
Alphabetisierung und Grundbildung. Band 1
Wissenschaft und Praxis der Alphabetisierung und Grundbildung
MĂĽnster, New York, MĂĽnchen, Berlin: Waxmann 2007
(203 S.; ISBN 978-3-8309-1864-6; 14,90 EUR)
Alphabetisierung und Grundbildung. Band 2
Innovative Forschung – innovative Praxis in der Alphabetisierung und Grundbildung
MĂĽnster, New York, MĂĽnchen, Berlin: Waxmann 2008
(279 S.; ISBN 978-3-8309-2024-7; 14,90 EUR)
Alphabetisierung und Grundbildung. Band 3
Wie kommen Analphabeten zu Wort? Analysen und Perspektiven
MĂĽnster, New York, MĂĽnchen, Berlin: Waxmann 2009
(300 S.; ISBN 978-3-8309-2159-2; 14,90 EUR)
Alphabetisierung und Grundbildung. Band 4
Alphabetisierung in der Zweitsprache Deutsch als Schemabildungsprozess. Bedingungsfaktoren der Schemaetablierung und -verwendung auf der Grundlage der „usage-basedtheory“
MĂĽnster, New York, MĂĽnchen, Berlin: Waxmann 2010
(280 S.; ISBN 978-3-8309-2397-8; 29,90 EUR)
Alphabetisierung und Grundbildung. Band 5
Das ist doch keine Kunst! Kulturelle Grundlagen und künstlerische Ansätze von Alphabetisierung und Grundbildung
MĂĽnster, New York, MĂĽnchen, Berlin: Waxmann 2010
(394 S.; ISBN 978-3-8309-2412-8; 19,90 EUR)
Henriette Hanisch, Dietmar Heisler, Claudia Müller, Anne Schrön (Erfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Henriette Hanisch, Dietmar Heisler, Claudia MĂĽller, Anne Schrön: Rezension von: Bothe, Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V. Joachim (Hg.): Alphabetisierung und Grundbildung. Band 1, Wissenschaft und Praxis der Alphabetisierung und Grundbildung. MĂĽnster, New York, MĂĽnchen, Berlin: Waxmann 2007. In: EWR 12 (2013), Nr. 3 (Veröffentlicht am 28.05.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383091864.html
Henriette Hanisch, Dietmar Heisler, Claudia MĂĽller, Anne Schrön: Rezension von: Bothe, Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V. Joachim (Hg.): Alphabetisierung und Grundbildung. Band 1, Wissenschaft und Praxis der Alphabetisierung und Grundbildung. MĂĽnster, New York, MĂĽnchen, Berlin: Waxmann 2007. In: EWR 12 (2013), Nr. 3 (Veröffentlicht am 28.05.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383091864.html