EWR 12 (2013), Nr. 1 (Januar/Februar)

Ines Maria Breinbauer / Gabriele Weiß (Hrsg.)
Orte des Empirischen in der Bildungstheorie
EinsÀtze theoretischer Erziehungswissenschaft II
WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2011
(183 S.; ISBN 978-3-8260-4800-5; 19,80 EUR)
Orte des Empirischen in der Bildungstheorie Die Dominanz empirisch-quantitativer Bildungsforschung wird disziplinintern seit lĂ€ngerem kritisch diskutiert. Dazu werden die Potentiale theoretischer bzw. philosophischer Forschung in der Erziehungswissenschaft (und die SchwĂ€chen quantitativer Forschung) herausgestellt und die Möglichkeiten einer VerknĂŒpfung von Theorie und Empirie erkundet. Mitunter lĂ€sst sich dabei ein Lamento vernehmen, welches daher rĂŒhren mag, dass VertreterInnen einer theoretisch orientierten Erziehungswissenschaft aus peripherer Lage ihr Unbehagen gegenĂŒber dem Mainstream der Bildungsforschung (und der Forschungsgelder) artikulieren. So ist neben disziplinpolitischer Kritik und methodologischer KonstruktivitĂ€t auch Selbstbetroffenheit im Spiel, wenn BildungsphilosophInnen und qualitative BildungsforscherInnen ihre methodologischen Perspektiven ausleuchten. In diesem thematischen und rhetorischen Kontext steht der von Breinbauer und Weiß herausgegebene Band, der eine im Dezember 2010 an der UniversitĂ€t Wien veranstaltete „Denkwerkstatt“ dokumentiert. Als eine der leitenden Fragen formulieren die Herausgeberinnen: „Wie ist bei kategorialen Differenzen zwischen Bildungsphilosophie und Bildungsforschung die ReprĂ€sentation des Empirischen im Theoretischen möglich?“ (11)

Die BeitrĂ€ge des Bandes vertiefen nun weniger einen spezifischen Ausschnitt der Debatte, sondern versammeln eher heterogene Tonlagen und Positionierungen. Die verschiedenen Standpunkte, die in Bezug auf die Frage nach den „Orte[n] des Empirischen in der Bildungstheorie“ konturiert werden, gehen mit unterschiedlichen Dimensionen des Empirischen und seiner Erforschung einher, auf die Bezug genommen wird. Mal geht es um standardisierte, quantitative Large-Scale-Untersuchungen, mal um qualitative und theoriegenerierende Vorgehensweisen; nicht zuletzt wird das Empirische auch in der Gestalt praktischen Erfahrungswissens aufgegriffen. Und es zeigen sich unterschiedliche argumentative Stoßrichtungen: neben methodologischen Überlegungen spielen disziplinpolitische ebenso wie bildungspolitische ZusammenhĂ€nge eine Rolle. Des einfacheren Überblicks halber werden die BeitrĂ€ge im Folgenden entlang des zentralen Themas, also der jeweiligen VerhĂ€ltnisbestimmung von Theorie und Empirie, zusammengefasst und kommentiert.

Eine erste Gruppe bilden BeitrĂ€ge, die Empirie und Theorie als grundlegend differente und antagonistische ZugĂ€nge beschreiben. So problematisiert Ruhloff die RĂŒckwirkungen einer maßgeblich auf Evaluation und QualitĂ€tskontrolle des Bildungswesens ausgerichteten quantitativ empirischen Bildungsforschung auf die Praxis in den Bildungsinstitutionen. Er hebt hervor, dass der fĂŒr pĂ€dagogische Erfahrungen konstitutive „Freiheitsgebrauch“ (32) in einer rein beobachtenden Empirie nicht erfasst werden kann, wodurch das Potential dieser Erfahrungen, ihrerseits der Bildungsforschung AnstĂ¶ĂŸe zu geben, ungenutzt bleibt. Breithausen kritisiert die Ergebnisse quantitativ empirischer Bildungsforschung als Entsachlichung des Realen, die letztlich „auf das Raster der Methode zurĂŒckgeworfen bleiben“ (38). Sie plĂ€diert fĂŒr ein partizipierendes Interesse, bei dem nicht operationalisierte Indikatoren, sondern offen gehaltene „Frage[n] nach der Sache“ (42) leitend sind und schließt mit dem Verdikt, dass quantitative Bildungsforschung und Bildungstheorie „unvereinbaren Deutungen von Bildung“ (43) folgen. Fuchs beleuchtet die „bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung“ (124), in der die „empirische Reformulierung der Bildungstheorie“ (125) mit besonderem Nachdruck betrieben wird. Allerdings artikuliert er Skepsis gegenĂŒber einem „Vermittlungsanspruch“ (135) von Bildungstheorie und (hier: qualitativer) Bildungsforschung. Zentral ist fĂŒr Fuchs dabei das methodologische Problem, „dass mit der Sachstruktur empirischer Forschung die Stilllegung der Arbeit an den sie leitenden Kategorien und Begriffen einhergeht“ (134). Er plĂ€diert fĂŒr eine fortlaufende Differenzierung bildungstheoretischer Konzepte als Forschung sui generis, die in unaufhebbarer Spannung zu empirischer Bildungsforschung zu verorten ist. Die DisparitĂ€t von Empirie und Theorie thematisiert auch Casale, wobei ihr Augenmerk auf eine historische Rekonstruktion der Marginalisierung philosophischer Forschung gerichtet ist. Sie legt dar, dass sich die Allgemeine Erziehungswissenschaft seit dem Positivismusstreit maßgeblich als Wissenschaftstheorie versteht und ein VerstĂ€ndnis von Theorie als Philosophie einem „empiristischen Legitimationsdruck“ (49) ausgesetzt ist. Wichtige Topoi dieser Entwicklung des Wissenschaftsdiskurses (Diskreditierung geisteswissenschaftlicher PĂ€dagogik, Dominanz sozialwissenschaftlicher ZugĂ€nge) problematisiert Casale als kurzsichtige Reaktionsmuster und fĂŒhrt vor, wie eine theoriegeschichtliche Revision als kritisches Gegengewicht dienen kann.

Eine zweite Gruppe besteht aus Positionen, die Möglichkeiten der VerknĂŒpfung theoretischer und empirischer ZugĂ€nge aufzeigen. Brinkmann widmet sich den Perspektiven phĂ€nomenologischer Forschung zur Rekonstruktion pĂ€dagogischer Erfahrung und betont die Notwendigkeit, dazu auch auf die didaktischen Strukturierungen pĂ€dagogischer Settings einzugehen. GegenĂŒber einer „Beschwörung von UnverfĂŒgbarkeit“ (65) macht er den Wiederholungscharakter der Erfahrung als ein Moment ihrer kategorialen wie empirischen Rekonstruierbarkeit stark. Koller skizziert das Konzept transformatorischer Bildungsprozesse und weist auf drei auch empirisch zu bearbeitende Anforderungen hin: Die KlĂ€rung dessen, was (sich) transformiert (wird), die Erkundung von AnlĂ€ssen der Transformation und schließlich eine Erfassung des Transformationsgeschehens selbst. Methodologische Perspektiven sieht Koller in der qualitativen Bildungsforschung, die zur „Reformulierung der eigenen Kategorien“ (118) in der Lage ist. Thompson entfaltet drei bildungstheoretische Arbeitsformen. Neben einem argumentativ systematischen Vorgehen und Verfahrensweisen einer historisch-systematischen KorrektivitĂ€t hebt sie die Potentiale einer kategorialen Befremdung hervor, vermeintliche systematische Sicherheiten zu hinterfragen. Dazu skizziert Thompson eine „Strategie der Übersetzung“ (152) empirischen Materials, das als Dokumentation pluraler Figurationen zu verstehen ist, welche mit offen zu haltenden Kategorien erfasst werden können. SchĂ€fer schließlich erkundet Möglichkeiten einer Empirie, die die ReprĂ€sentation der untersuchten Wirklichkeit als Problem offen hĂ€lt. Er konturiert (am Beispiel eines Projekts zu Fremdheitserfahrungen im Kontext von Reisen nach Westafrika) ein diskursanalytisches Vorgehen, das seine Aufmerksamkeit auf die Hervorbringung der ReprĂ€sentation sozialer Ordnungen im Material und die diesen Strukturierungen zugrunde liegenden „generativen Problemstellungen“ (175) richtet.

Drittens finden sich auch BeitrĂ€ge, die auf unterschiedliche Weise an der Fragestellung des Bandes vorbei argumentieren. Herwartz-Emden und Mehringer diskutieren methodische Probleme quantitativer interkultureller Bildungsforschung. So weist bei einem „construct bias“ (99) das zu untersuchende Konstrukt interkulturell große Unterschiede auf. Herwartz-Emden/Mehringer regen mit Bezug auf derartige Schwierigkeiten ein stĂ€rkeres Engagement der Bildungstheorie in der interkulturellen Bildungsforschung an, bleiben aber so oberflĂ€chlich, dass am Ende nicht mehr als ein rhetorischer Bezug zum ĂŒbergreifenden Thema steht. Messerschmidt rekurriert auf ein Projekt mit Lehramtsstudierenden, die darĂŒber reflektierten, welche Ressourcen ihr Studium fĂŒr pĂ€dagogisches Handeln in der Migrationsgesellschaft bietet. Mit dem „Konzept eines involvierten Forschens“ (81) plĂ€diert sie dafĂŒr, den gesellschaftlichen Subjektivierungen von Forschenden und Beforschten Beachtung zu schenken und die Perspektiven der Beteiligten nicht nur zu beschreiben, sondern auch ihrer Diskussion und möglichen Weiterentwicklung Raum zu geben. Die vorgestellte hybride Form, die Wissenschaftskritik und persönliche Selbstreflexion sowie Forschung und Lehre verknĂŒpft, setzt einen Kontrapunkt „im Kontext gouvernementalisierter Wissenschaft“ (94); allerdings ist ein engerer Zusammenhang mit dem Rahmenthema des Bandes nicht so ganz ersichtlich.

Ein Sammelband lebt von seinen BeitrĂ€gen, die in diesem Fall nicht durchweg, aber doch grĂ¶ĂŸtenteils ĂŒberzeugen. Der Band ist nicht als einfĂŒhrende MethodenlektĂŒre zu empfehlen, dafĂŒr steht er zu sehr mitten im Diskurs und darin liegt auch seine QualitĂ€t. Die einzelnen Texte tragen ganz unterschiedliche Perspektiven und Standpunkte zusammen und bieten so Gelegenheit, deren Potentiale abzuwĂ€gen. Es liegt an der eingangs angesprochenen diskursiven Formation um das VerhĂ€ltnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung, dass sich mit methodologischen Überlegungen immer wieder disziplinpolitische Argumente mischen. Dabei scheint auch die dominante Provenienz der BeitrĂ€gerInnen aus einer philosophisch orientierten Bildungstheorie durch, die zu einer z.T. starken Polarisierung von Theorie und Empirie beitrĂ€gt. Hier wĂ€re zu bedenken, wie weit es fĂŒhrt, wenn in der bildungstheoretischen Community die Limitierungen quantitativer Empirie betont werden (oder eigene Idiosynkrasien gepflegt werden). Unbenommen stellen die bildungspolitischen KollateralschĂ€den dieses Forschungstypus‘ ein ernsthaftes Problem dar. Ob dem auf einer methodologischen Ebene allerdings beizukommen ist, erscheint zumindest fraglich. Zu den starken Momenten des Bandes zĂ€hlen jedenfalls dann auch v.a. jene BeitrĂ€ge, die selbstbewusst die originĂ€ren Potentiale bildungstheoretischen Forschens erörtern und zugleich methodische Strategien skizzieren, die mit guten heuristischen GrĂŒnden auf produktive Assoziationen von Theorie und Empirie zielen.
Dominik Krinninger (OsnabrĂŒck)
Zur Zitierweise der Rezension:
Dominik Krinninger: Rezension von: Breinbauer, Ines Maria / Weiß, Gabriele (Hg.): Orte des Empirischen in der Bildungstheorie, EinsĂ€tze theoretischer Erziehungswissenschaft II. WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2011. In: EWR 12 (2013), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.02.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978382604800.html