EWR 7 (2008), Nr. 4 (Juli/August)

Sieglind Ellger-RĂŒttgardt
Geschichte der SonderpÀdagogik
MĂŒnchen: Reinhardt / UTB 2008
(381 S.; ISBN 978-3-8252-8362-9; 29,90 EUR)
Geschichte der SonderpĂ€dagogik Das von der Autorin in der Einleitung formulierte Anliegen, eine neue Historiographie der SonderpĂ€dagogik vorzulegen, und damit die Werke von Andreas Möckel, „Geschichte der HeilpĂ€dagogik“ (zuletzt in ĂŒberarbeiteter Fassung 2007 neu ediert), und von Svetluse Solarova, „Geschichte der SonderpĂ€dagogik“ aus dem Jahr 1983, gewissermaßen abzulösen, ist nicht unberechtigt. In der Tat liegt mit diesem Buch ein umfassender, informativer und detaillierter Überblick ĂŒber die institutionellen und professionellen Entwicklungen der SonderpĂ€dagogik in den letzten zwei Jahrhunderten vor. Auch ist der eingangs formulierte Anspruch, diese Geschichte vor dem Hintergrund eines definierten Erkenntnisinteresses zu verfassen, eine Überschreitung der beiden genannten Werke. Da diese Arbeit im Rahmen des DFG-Projekts „Bildsamkeit und Behinderung“ entstanden ist, legt sich Sieglind Ellger-RĂŒttgardt auf die hier entwickelte These fest, SonderpĂ€dagogik sei im Zuge der Verallgemeinerung des Bildungsgedankens entstanden und habe dadurch ihre Konsolidierung erreicht (16).

Das Buch nimmt folgende epochale Gliederung vor: AufklĂ€rung (Kap. 2), Bildung und BĂŒrgerliche Gesellschaft (Kap. 3), Industrialisierung und soziale Ungleichheit (Kap. 4), Demokratischer Aufbruch und ‚BlĂŒte der HeilpĂ€dagogik‘ (Kap. 5), Rassenpolitik und gesellschaftliche Ausgrenzung (Kap. 6), Traumatisierung und Neuanfang (Kap. 7), Ausblick: Erfolge, Niederlagen, GefĂ€hrdungen (Kap. 8). In dieser Abfolge beschreibt die Autorin ausgewĂ€hlte historische Ereignisse, um einen sozialgeschichtlichen Kontext herzustellen, und ordnet diesen die aus sonderpĂ€dagogischer Perspektive wesentlichen methodischen Konzepte, institutionellen GrĂŒndungen und professionellen Entwicklungen zu. Insbesondere die Blinden- und TaubstummenpĂ€dagogik sowie die Hilfsschulentwicklung und die ErziehungshilfepĂ€dagogik stehen dabei im Zentrum, das so genannte ‚Idiotenwesen‘ und die ‚KrĂŒppelfĂŒrsorge‘ finden etwas geringere Aufmerksamkeit. Dabei sind, wie bereits einleitend angekĂŒndigt, fĂŒr die einschlĂ€gig informierte Leserschaft auf den ersten groben Blick keine ganz unerwarteten Ereignisse notiert, allerdings besticht das Werk durch zahlreiche Details (beispielsweise die kritischen Elternbriefe gegenĂŒber der NeugrĂŒndung der Hilfsschulen 163ff.) und vor allem auch durch wiederholte Verweise auf vergleichbare Entwicklungen im internationalen Raum. Weiterhin stellen die Passagen ĂŒber die Entstehung und Durchsetzung von Selbsthilfe-/Interessenvertretungen, der BerufsverbĂ€nde einschließlich seiner Periodika sowie die eingeflochtenen Exkurse ĂŒber ‚JĂŒdische HeilpĂ€dagogik‘ und ‚Frauen in der SonderpĂ€dagogik‘ eine wichtige Erweiterung des ĂŒblichen Kanons der sonderpĂ€dagogischen Geschichtsschreibung dar (wenngleich die Forschungslage hierzu teilweise noch am Anfang steht).

ResĂŒmiert man den Ertrag dieses umfangreichen Buches, so steht sicherlich der einfĂŒhrende Charakter in die Geschichte der SonderpĂ€dagogik im Vordergrund. Nicht zuletzt auch die didaktische Aufbereitung durch Marginalien und die gute Lesbarkeit des Textes bis hin zu bisweilen persönlich gefĂ€rbter Sprache (z.B. „dieser unverblĂŒmte Brief“, 280; „Ausbau des lĂ€ndlichen Sonderschulwesens (
) konnte schon bald auf eine stolze Bilanz verweisen“, 302) weisen auf diese Zielrichtung hin, aber es liefert auch einen guten Überblick ĂŒber den aktuellen Forschungsstand. Kritisch anzumerken bleibt hier lediglich, dass zusammenfassende und diskutierende Betrachtungen der einzelnen Epochen nicht durchgĂ€ngig angefĂŒgt sind. Dies hat aber meines Erachtens auch darin seinen Grund, dass ein solches Überblickswerk kaum eine so starke These, wie sie im DFG-Forschungsprojekt entwickelt wurde, durchzuhalten vermag. Vielmehr bleibt die These der Durchsetzungskraft der sonderpĂ€dagogischen Disziplin und Profession aufgrund einer Verallgemeinerung des Bildungsprinzips etwas zu implizit im Raum und wird nicht durchgĂ€ngig belegt. Andere mögliche Thesen, nĂ€mlich die Verfolgung utilitaristischer Ziele (Erziehung zur Arbeit) oder die Herstellung von NormalitĂ€t durch die Konstruktion von Behinderung werden zwar teilweise angesprochen, aber nicht kontrastierend diskutiert. So liegt denn auch der Schwerpunkt dieses Buches in erster Linie auf der dichten und detaillierten Darstellung professioneller und institutioneller Entwicklungen; sozialgeschichtliche Kontexte markieren eher die epochale Zuordnung und liefern nicht immer zwangslĂ€ufig auch Hinweise auf sonderpĂ€dagogische Entwicklungen (z.B. bleibt auch der Zusammenhang von Sozialdarwinismus und Industrialisierung mit der Umstellung des ‚Idiotenwesens‘ im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts unklar); theorie- bzw. ideengeschichtliche Aspekte stehen etwas im Hintergrund. All dies kann in einem solchen Vorhaben allerdings auch nicht realisiert werden – hier wĂ€re eher an eine umfangreiche historische EnzyklopĂ€die zu denken, die erst noch verfasst werden mĂŒsste.

Insgesamt ist die „Geschichte der SonderpĂ€dagogik“ von Ellger-RĂŒttgardt eine sehr lesenswerte Arbeit, die insbesondere durch die vielen Details und die klare Gliederung sowie durch ihre gute Lesbarkeit besticht – sie ist nicht nur fĂŒr Studierende geeignet, sondern kennzeichnet auch den gegenwĂ€rtigen Forschungsstand in herausragender Weise. Dieses Buch wird sicherlich als wichtiges Grundlagenwerk in den Kanon des Faches aufgenommen werden.
Vera Moser (Gießen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Vera Moser: Rezension von: Ellger-RĂŒttgardt, Sieglind: Geschichte der SonderpĂ€dagogik. MĂŒnchen: Reinhardt / UTB 2008. In: EWR 7 (2008), Nr. 4 (Veröffentlicht am 06.08.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978382528362.html