EWR 23 (2024), Nr. 4 (Oktober)

Jan-Hendrik Hinzke / Tobias Bauer / Alexandra Damm / Marlene Kowalski / Dominique Matthes (Hrsg.)
Dokumentarische Schulforschung
Schwerpunkte: Schulentwicklung – Schulkultur – Schule als Organisation
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2023
(360 S.; ISBN 978-3-7815-2580-1; 29,90 EUR)
Dokumentarische Schulforschung Die Dokumentarische Methode ist ein etabliertes Programm erziehungswissenschaftlicher Forschung qualitativ-rekonstruktiver PrĂ€gung. WĂ€hrend die Methode ihre UrsprĂŒnge in den 1980er-Jahren im Kontext der Jugendforschung fand, gewinnt sie seit den 2000er-Jahren zunehmend auch fĂŒr schulpĂ€dagogisch Forschende an Bedeutung [1]. Vor dem Hintergrund der stetigen Ausdifferenzierung von Erkenntnissen mit Bezug auf Schule, die in der dokumentarischen Interpretation ganz unterschiedlicher Aspekte des Schulischen und unter Einbezug verschiedener Datenformen hervorgebracht werden, scheint ein Band mit dem Titel „Dokumentarische Schulforschung“ ĂŒberfĂ€llig.

Er stellt dabei den Auftakt einer gleichnamigen Reihe im Verlag Julius Klinkhardt dar [2]. Die Entstehungen der Reihe und des Bandes aus dem ‚Netzwerk Dokumentarische Schulforschung (NeDoS)‘ werden in zwei einleitenden BeitrĂ€gen dargestellt, wobei die Herausgeber*innen den Anspruch formulieren, „die Erforschung als auch die Erforschbarkeit schulischer Kontexte mit der Dokumentarischen Methode“ (10) abzubilden. Konkreter wollen sie mit dem vorliegenden Band auf „Gegenstandsfelder einer Dokumentarischen Schulforschung“ (18) hinweisen. Dass dabei die Zusammenarbeit der Herausgeber*innen mit weiteren „Expert*innen“ (16, FN) immer wieder nacherzĂ€hlt wird, ist – ganz im Horizont der Forschungspraxis der Dokumentarischen Methode – als (Selbst-)Reflexion der „Standortgebundenheit“ [3] der Herausgeber*innen zu lesen. Als Gegenstandsbereiche einer Dokumentarischen Schulforschung werden schließlich drei identifiziert, die den Untertitel des Bandes erklĂ€ren: „Schwerpunkte: Schulentwicklung – Schulkultur – Schule als Organisation“.

Anschließend an die beiden einleitenden Texte gliedert sich der Band in drei Teile. Im ersten Teil werden in fĂŒnf BeitrĂ€gen methodologische EinwĂŒrfe gemacht, die als bedeutsam fĂŒr das „prozessuale[] Gebilde“ (58) einer Dokumentarischen Schulforschung veranschlagt werden. Dabei kommen Autor*innen zu Wort, die fĂŒr unterschiedliche, bisweilen konkurrierende methodisch-methodologische WeiterfĂŒhrungen der Dokumentarischen Methode stehen. Angelika Paseka entwirft in ihrem Beitrag eine Perspektive einer praxeologisch-wissenssoziologischen Schulentwicklungsforschung. In der fĂŒr die Praxeologische Wissenssoziologie konstitutiven Annahme der „‚Doppeltheit‘ des Wissens“ (72) liege demnach das Potenzial, sowohl auf die „sich verĂ€ndernden Normen im Rahmen von Schulentwicklung“ (75) als auch auf das als diskrepant entworfene VerhĂ€ltnis dieser zu „den bisherigen Routinen“ (ebd.) zu blicken. Rolf-Torsten Kramer sucht Impulse fĂŒr eine Dokumentarische Schulforschung in der Schulkulturforschung und in der Praxistheorie Bourdieus. Obgleich NĂ€hen zu Pasekas Perspektive bestehen, wird in Kramers Überlegungen zu einer Dokumentarischen Schulforschung die „Diskrepanz [zwischen Norm und Habitus] etwas relativiert“ (99). Vor dem Hintergrund der praxeologisch-wissenssoziologischen Konstruktion der „doppelten Doppelstruktur“ (111 ff.) organisationaler ErfahrungsrĂ€ume schlĂ€gt Ralf Bohnsack in seinem Beitrag das Vokabular von „Schulmilieu und SchulidentitĂ€t“ (121ff.) vor.

WĂ€hrend die SchulidentitĂ€t als ein Wissen um eine normative Corporate Identity von Schulen zu verstehen sei, verweise das Schulmilieu in einer gewissermaßen negativen Definition, da empirisch nicht von einem einzigen Milieu einer pĂ€dagogischen Organisation zu sprechen sei, auf die Vielfalt sich ĂŒberlagernder konjunktiver ErfahrungsrĂ€ume in Schule. Arnd-Michael Nohl geht in seinem Beitrag von der Überlegung aus, Schule als „in relationalen Praktiken reproduziert und verĂ€ndert“ (130) zu verstehen. Mit Bezug auf empirische Befunde und methodologische Überlegungen sucht er sodann nach der „(letztlich unabgeschlossene[n]) Reihe sozialer EntitĂ€ten“ (ebd.), die in relationalen und relationierenden Praktiken im Kontext des Schulischen hervorgebracht, reproduziert und mitunter verĂ€ndert werden.

Im zweiten Teil des Bandes werden vier Studienreviews versammelt. Dabei strukturieren die ersten drei Berichte die eingangs aufgerufenen Gegenstandsbereiche von Schulentwicklung, Schulkulturforschung und Schule als Organisation. Der vierte Beitrag richtet den Blick auf englischsprachige Arbeiten mit der Dokumentarischen Methode. In unterschiedlicher IntensitĂ€t wird sich in den BeitrĂ€gen mit den Befunden der referierten Studien auseinandergesetzt. Deutlich werden die Überschneidungen zwischen den analytisch getrennten Gegenstandsbereichen und man könnte die Frage stellen, ob nicht auch andere Kategorisierungsmöglichkeiten zielfĂŒhrend gewesen wĂ€ren – bspw. anhand der Unterscheidung von Arbeiten zu verschiedenen Schulformen.

Den dritten Teil des Bandes bilden fĂŒnf empirische Studien und ein abschließender Text der Herausgeber*innen. Alle empirischen BeitrĂ€ge ĂŒberzeugen in ihrer analytischen Tiefe und in der Nachvollziehbarkeit der Ergebnisdarstellungen. Sie bieten das, was dokumentarisch Forschende primĂ€r interessieren mag: Empirie.

Insbesondere die BeitrĂ€ge von Michelle Bebbon und Kolleg*innen sowie von Thorsten Hertel seien an dieser Stelle erwĂ€hnt, gelingt es in ihnen doch eindrĂŒcklich, in der AnknĂŒpfung an jĂŒngere Überlegungen zum Machtbegriff der Praxeologischen Wissenssoziologie dessen Potenzial fĂŒr eine Dokumentarische Schulforschung aufzuzeigen. Der den Band abschließende Text der Herausgeber*innen formuliert thesenartige „Perspektivangebote zur Weiterentwicklung“ (333 ff.) einer Dokumentarischen Schulforschung.

Der Band ‚Dokumentarische Schulforschung‘ ebnet den Weg hin zu einer praxeologisch-wissenssoziologischen Theorie der Schule, welche die Vielfalt der Forschungsergebnisse zum Schulischen in unterschiedlichen Perspektivierungen der Dokumentarischen Methode zusammenfĂŒhren und metatheoretisch nutzbar machen wird. Diese schultheoretischen Überlegungen werden wiederum, wie es bspw. im Kontext der praxeologisch-wissenssoziologischen Perspektive auf pĂ€dagogische Professionalisierung [4] gegenwĂ€rtig bereits geschieht, auch den methodisch-methodologischen Diskursen der Praxeologischen Wissenssoziologie im Allgemeinen zutrĂ€glich sein.

Dieser Mehrwert wird in den BeitrĂ€gen des Bandes deutlich und hĂ€tte in der Rahmung durch die Herausgeber*innen gewiss mit grĂ¶ĂŸerem Selbstbewusstsein verhandelt werden können. Selbstredend sollte der mit dem Band formulierte Wille zur Kanonisierung einer Dokumentarischen Schulforschung nicht dazu fĂŒhren, solche Forschung aus dem Blick zu verlieren, die nicht dokumentarisch, aber mitunter unter Ă€hnlichen PrĂ€missen auf Schule blickt. So zeigt der Band selbst auf, dass BezĂŒge zu anderen antirationalistisch argumentierenden Perspektiven die Leerstellen deutlich machen können, denen sich eine Dokumentarische Schulforschung widmen muss. Vor dem Hintergrund der empirischen BeitrĂ€ge des dritten Teils des Bandes wirft sich als solche bspw. die Frage nach dem der Praxeologischen Wissenssoziologie eingelagerten SubjektverstĂ€ndnis auf, wenn in dokumentarischer Forschung Lehrer*innen gleichzeitig als Agent*innen schulischer Macht und als durch Notwendigkeiten der Passung von schulischen ErfahrungsrĂ€umen und Habitus limitiert (wie im Beitrag von Pallesen und Matthes angedeutet) hervortreten können. Obgleich der Band darĂŒber hinaus eine Vielzahl methodisch-methodologischer Fragen explizit und implizit aufreißt, wird er all denjenigen Impulsgeber und Nachschlagewerk sein, die schulpĂ€dagogisch mit der Dokumentarischen Methode arbeiten. Es bleibt auch zu hoffen, dass der Band nicht ausschließlich von denen wahrgenommen wird, die mit der Dokumentarischen Methode vertraut sind, sondern von allen, die Praktiken des Doing School verstehen wollen.

[1] Böder, T. & Rabenstein, K. (2021). Qualitative AnsÀtze in der Schulforschung. In T. Hascher, T.-S. Idel & W. Helsper (Hrsg.), Handbuch Schulforschung (Neuausgabe). Wiesbaden: Springer VS.
[2] Zur Transparenz sei angemerkt, dass auch der Autor dieser Rezension in der Reihe veröffentlicht hat (Olk, M. (2024). Inklusion als normative Aufgabe. Rekonstruktionen zur Alltagsmoral grundschulpÀdagogischer Praxis. Bad Heilbrunn: Klinkhardt).
[3] Mannheim, K. (1952). Wissenssoziologie. In ders. (Hrsg.), Ideologie und Utopie (S. 227–267). Frankfurt a. M.: Schulte-Bulmke.
[4] Bohnsack, R. (2020). Professionalisierung in praxeologischer Perspektive. Zur Eigenlogik der Praxis in Lehramt, Sozialer Arbeit und FrĂŒhpĂ€dagogik. Opladen: Barbara Budrich.
Matthias Olk (Bremen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Matthias Olk: Rezension von: Hinzke, Jan-Hendrik / Bauer, Tobias / Damm, Alexandra / Kowalski, Marlene / Matthes, Dominique (Hg.): Dokumentarische Schulforschung, Schwerpunkte: Schulentwicklung – Schulkultur – Schule als Organisation. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 4 (Veröffentlicht am 12.11.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152580.html