EWR 16 (2017), Nr. 1 (Januar/Februar)

Wolfgang Meseth / Jörg Dinkelaker / Sascha Neumann / Kerstin Rabenstein / Olaf Dörner / Merle Hummrich / Katharina Kunze (Hrsg.)
Empirie des Pädagogischen und Empirie der Erziehungswissenschaft
Beobachtungen erziehungswissenschaftlicher Forschung
Reihe: Beiträge zur Theorie und Geschichte der Erziehungswissenschaft, Band 40
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2016
(282 S.; ISBN 978-3-7815-2105-6; 34,00 EUR)
Empirie des Pädagogischen und Empirie der Erziehungswissenschaft In den letzten zwei Jahrzehnten lässt sich, zunächst von der Bildungspolitik und anschließend von der Bildungsforschung vollzogen, eine breite Hinwendung zur Empirie zu beobachten.

Die „empirische Wende“ wird von einem kritischen erziehungswissenschaftlichen Diskurs begleitet. In verschiedenen Perspektiven und mit verschiedenen Backups werden allerlei Beiträge verfasst, die vom Thematisieren der veränderten Vorzeichen einer solchen Empirisierung über erkenntnistheoretische, methodologische und methodische Belange bis zu den Erträgen und Effekten in Bezug auf Disziplinentwicklung, Gegenstandskonstitution, Methodendiskussion etc. reichen. Genau hier reihte sich kürzlich eine Jahrestagung der DGfE-Kommission Wissenschaftsforschung ein [1].

Diese Tagung strukturierte sich mittels bekannter deutscher Zugriffe aufs Thema. In einer spezifisch inspirierten „Arbeit am Begriff der Empirie“ [2] sollte es im Wesentlichen darum gehen, „ob und wie sich Pädagogisches überhaupt als Pädagogisches empirisch erschließen lässt“ [3], „ob es so etwas wie eine „Spezifik“ des Gegenstandes und der Methode der Erziehungswissenschaft gibt“ und wie es um die „Leistungsfähigkeit der „einheimischen Begriffe“ (Herbart) für die empirische Forschung“ steht [4].

Der hier zu rezensierende Sammelband ist der Outcome der solcherart aufgegleisten Tagung. Und dabei fällt gleich auf, dass sich der ehemals programmierte Korridor erweitert hat. So inkludiert der Band nicht nur Artikel, die nach der Möglichkeit der empirischen Beobachtung des Pädagogischen fragen, sondern auch historisch, systematisch und komparativ die epistemologische Struktur der Erziehungswissenschaft empirisch in den Blick nehmen. Eines vereine die Beiträge nach Vorgabe oder Einschätzung der Herausgeber jedoch: im Signum einer „reflexiven Empirie“ zu operieren, also – in putativer Demarkation zu „der Favorisierung evidenzbasierter Forschung“ samt „ihrer Etablierung eines neuen Wissensregimes“ (14) – Daten & Denken zusammenzunehmen. (Die Neubearbeitung der Heinrich Roth’schen Programmatik, philosophische und erfahrungswissenschaftliche Zugänge zu versöhnen, ist unverkennbar).

Die Beiträge jedenfalls, die im ersten Kapitel „Historische, international-vergleichende und systematische Perspektiven“ versammelt sind, leuchten unterschiedlich die Empirisierung in der Erziehungswissenschaft aus. Heinz-Elmar Tenorth thematisiert die besondere disziplinäre Gestalt der Erziehungswissenschaft und liefert so Erklärungen für die epistemologische Unterbestimmtheit erziehungswissenschaftlicher Forschung, Karin Amos ortet eine Marginalisierung reflexiver Formen erziehungswissenschaftlichen Wissens, die sich vor dem Hintergrund der large-scale-assessments und der Favorisierung evidenzbasierter Forschung vollziehe, und Helmut Heid analysiert die Kontroverse um Kompetenzorientierung und problematisiert die Argumente gegen eine empirisch-quantitativ ausgerichtete Bildungsforschung.

Die Beiträge, die im darauffolgenden Kapitel mit der Überschrift „Empirie des Pädagogischen“ zu finden sind, diskutieren die Frage des Verhältnisses von Gegenstandstheorie und Beobachtung, indem sie im Horizont der Analyse empirischen Materials bestimmte Annahmen über den Gegenstand explizit auf die Probe stellen. In den Beiträgen von Maike Lambrecht, Kerstin Jergus, Jörg Dinkelaker, Koch & Schulz sowie Karl-Josef Pazzini & Manuel Zahn werden dafür Daten aus eigenen Forschungsprozessen ausgewertet, Marion Pollmanns sowie Thomas Rucker analysieren hingegen Unterrichts- und Biographieforschungen Dritter.

Im nächsten Kapitel platzieren sich unter der Ăśberschrift „Empirie der Erziehungswissenschaft“ Beiträge, welche nicht „die Erziehungswirklichkeit“ fokussieren, sondern die derlei empirisch beforschende Erziehungswissenschaft. Um ein Vermessen der Disziplin geht es in den Beiträgen von Ulrich Papenkort, Markus Bohlmann, Inka Bohrmann & Inga Truschkat, Oliver Hollstein & Wolfgang Meseth sowie Patricia Stošić aber nicht, vielmehr um die je spezifizierte Frage, wie bei der erziehungswissenschaftlichen Erkenntnisproduktion unterschiedliche Empirie-Verständnisse, -Formen und -Methoden die Konstitution des Gegenstandes und das ĂĽber ihn jeweils Aussagbare oder Auszusagende bestimmen.

Die im letzten Kapitel: „Erkenntnistheoretische Überlegungen zum Verhältnis von theoretischer Gegenstandsbestimmung und empirischer Erkenntnisgenerierung“, versammelten Beiträge reflektieren die Möglichkeit und Notwendigkeit (Peter Vogel; Volker Kraft), die methodologischen und epistemologischen Fragen (Nicole Balzer & Hanno Su; Nicolas Engel; Sascha Neumann) und die Effekte einer Empirisierung der Erziehungswissenschaft.

Der beschreibende Durchgang zeigt an, dass es in dem Band, der die Scientific Communities adressiert, kaum um eine metatheoretische Bestandsaufnahme oder gar Bilanzierung geht, sondern um eine je eigene Positionierung in dem Kontext. Dass damit die geläufige Breite, empirische Erziehungswissenschaft zwischen skeptischer Problematisierung, achselzuckender Anwendung und forscher Weiterentwicklung zu platzieren, zum Vorschein kommt, klingt nur auf den ersten Blick nach nichts Neuem; weil wie und mit wem und in welchen Kontexten das jeweils bewerkstelligt wird, irritiert in der Tat neu (die Versuche, vom Sein aufs Sollen zu schließen, wie sie sich in manchen Verschränkungsvorstellungen von empirischer Beobachtung und normativer Bestimmung zeigen, sind ein Beispiel).

Und das ist gut so. In Rechnung stellend, dass Irritationen der Reflexions- und Änderungsmotor der Wissenschaft sind (die sonst ihre Bestände ja nur noch museal verwalten würde), ist dieser Band mit seinen qualitativ hoch stehenden und informativen Beiträgen überaus empfehlenswert.

[1] 2014 in Kooperation mit dem Netzwerk „Methodologien einer Empirie pädagogischer Ordnungen“ durchgeführt.

[2] Schäfer & Thompson 2013, http://digital.bibliothek.uni-halle.de/pe/content/titleinfo/2418299

[3] Call for Papers, http://www.dzhw.eu/pdf/tagungen/tagung_id_893/2014_10_CfP_Empirie_des_Paedagogischen-1.pdf

[4] Tagungsbeschrieb, https://www.meb.ovgu.de/von-der-erziehungswirklichkeit-zur-empirie-des-padagogischen
Ulrich Binder (Ludwigsburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ulrich Binder: Rezension von: Meseth, Wolfgang / Dinkelaker, Jörg / Neumann, Sascha / Rabenstein, Kerstin / Dörner, Olaf / Hummrich, Merle / (Hrsg.), Katharina Kunze (Hg.): Empirie des Pädagogischen und Empirie der Erziehungswissenschaft, Beobachtungen erziehungswissenschaftlicher Forschung Reihe: Beiträge zur Theorie und Geschichte der Erziehungswissenschaft, Band 40. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 1 (Veröffentlicht am 02.02.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152105.html