EWR 15 (2016), Nr. 4 (Juli/August)

Constanze Berndt/ Claudia Kalisch/ Anja Krüger (Hrsg.)
Räume bilden – pädagogische Perspektiven auf den Raum
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2016
(256 S.; ISBN 978-3-7815-2072-1; 19,90 EUR)
Räume bilden – pädagogische Perspektiven auf den Raum Der Sammelband „Räume bilden – pädagogische Perspektiven auf den Raum“, der im Februar 2016 im Klinkhardt-Verlag erschien, hat sich punktgenau mit dem in diesem Jahr zum 25. Mal stattfindenden Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft positioniert. Im März 2016 fand an der Universität Kassel das diesjährige Kongress-Jubiläum unter dem Titel: „Räume für Bildung. Räume der Bildung“ statt und setzte aufgrund des erziehungswissenschaftlichen Diskurses um Raum bewusst sozialräumliche Zugänge zu „Bildung und Erziehung, Lernen und Lehren, Hilfe und Prävention“ ins Zentrum der Diskussion [1].

Eine ähnliche Perspektive auf den Raumdiskurs versucht auch dieser Band der Herausgeberinnen Constanze Berndt, Claudia Kalisch und Anja Krüger (Rostock) einzunehmen, um die Thematisierung „als Anstoß für Bildungs- und Lernprozesse“ (9) in der und für die Pädagogik nachzuvollziehen, und dies unter der Berücksichtigung der Beobachtung von „methodologischen Herausforderungen“ in „Forschung und Theoriebildung“ (ebd.). Für ihren Sammelband legten sie in ihrer Beitragsauswahl den Fokus der Beiträge auf Themen, die aus der Sicht der Herausgeberinnen im Diskurs „bisher nur wenig Berücksichtigung fanden“ (16). Das entstandene Buch soll jedoch nicht als „ein weiterer Sammelband“ (15) in der von den Autorinnen angedeuteten Breite der Publikationslandschaft verstanden werden. Sie machen sich nun zum Ziel, mit der Veröffentlichung „einen Ein- und Überblick über verschiedene raumbezogene Begrifflichkeiten, thematische Zugänge sowie unterschiedliche konzeptionelle Überlegungen zu geben“ (15). Das Buch stellt einen Anschluss dar an die in den vergangen Jahren verstärkt grundlagentheoretisch sondierende Auseinandersetzung mit Raum im erziehungswissenschaftlichen – und hier vordergründig pädagogischen Diskurs.

Im Vorwort wird Raum als „zentrale Bildungskategorie“ (9) thematisch. Kristin Westphal richtet hier die ersten Worte an die Leserinnen und Leser, die selbst schließlich vor 20 Jahren eine Arbeit zur Analyse von Kinderzeichnungen und Interviews mit Raumbezügen veröffentlichte und damit bis heute in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft als eine Wegbereiterin der Untersuchung von Raumerfahrungen und -wahrnehmungen gilt [2]. Sie fasst zusammen, dass die Vielfalt der Zugänge erziehungswissenschaftlicher Beschäftigung mit Raum heute in allen Ausrichtungen zu rekonstruieren sei, auch interdisziplinär thematisch wird. Im Zentrum der Raum-Forschung insgesamt steht hier das „Interesse an einem Nachdenken über Raum, an räumlichen Konzeptionen und an Beobachtungen von Raumpraktiken“ (9), womit die Autorin die Brücke zwischen Theoriebildung, Ergebnisgenerierung und Praxisableitungen schlägt – ferner die Suche nach einer „Raumbildungstheorie“ auf die Agenda setzt (12). Raum kann demnach in der pädagogischen Perspektive nur als Relationierung im Handeln, Erleben und den Erfahrungen der (verschiedenen) Akteure in einer bestimmten Situiertheit bestehen, z. B. einer schulischen, auch wenn man schließlich schulische Architekturen allzu oft noch monoperspektivisch und damit lediglich als Gebäude, Zimmer oder Möblierung zu verstehen vermag. Eine durchaus verbreitete Perspektive – denn oft ist z. B. ein Bauwerk vorher „schon da“ und wird damit zum Ausgangspunkt schulräumlicher Diskussion (vgl. 120). Westphal leitet für den Blick auf diesen Sammelband (und überdies insgesamt für die Weiterarbeit im Feld) erstens ab, dass in akteursbezogenen Kontexten nicht nur das „Was“, als das, was vor uns explizit und explizierbar erscheint, sondern zugleich auch das „Wie“ relevant wird, wie wir also mit dem, was da vor uns zu liegen scheint, bewusst und unbewusst umgehen, aber auch wie wir etwas schaffen, nutzen, ignorieren… Ich würde sagen: wie sowohl die Herstellung von Raum, als zugleich auch die Herstellung von Beziehungen zwischen Menschen (und Menschen und Raum) in potentielle Untersuchungen einfließen müssen (12). Zweitens bekräftigt sie die vorliegende Struktur des Bandes, der sich nicht vordergründig nur auf Klassen- und Unterrichtsräume und deren Einrichtung fokussiert, sondern „Inklusions- sowie Exklusionsverhältnisse genauso aufnimmt wie regionale und zugleich globale Verhältnisse oder Schulentwicklung als Raumentwicklung denkt“ (ebd.).

Der Sammelband setzt sich in seiner Grundstruktur aus drei Teilen zusammen,
denen von „innen“ (gegenstandtheoretisch) heraus, über eine Vermittlerperspektive (forschungsbezogen) nach „außen“ (regional und global) zu unterschiedlichen Schwerpunkten Beiträge zugeordnet werden. Nach jedem Beitrag wird separat ein Literaturverzeichnis dokumentiert. Einige Beiträge verfügen über Schwarz-Weiß-Abbildungen, Grafiken und / oder Tabellen. Abschließend erhält man im Autor(inn)en-Verzeichnis einen Kurzüberblick über alle Beitragsteilhabenden.

Teil I fokussiert „Erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf den Raum: Facetten des Diskurses“ (24–87) und fragt, welche theoretischen Perspektiven auf Raum im Kontext der Erziehungswissenschaft denkbar sind. Die Leserinnen und Leser finden an dieser Stelle eine Auswahl historischer, anthropologischer, kulturtheoretischer, phänomenologischer sowie bildungstheoretischer Beiträge von Martin Nugel, Michael Göhlich, Daniel Burghardt und Jörg Zirfas, Wolfgang Nieke sowie Jürgen Hasse. Das Potenzial einer offenen, reflexiven und auf „selbstbestimmte Erschließung“ (25) ausgerichteten Definition von Raum im pädagogischen Kontext wird hier aufgrund bestehender Hierarchieebenen ebenso in Frage gestellt wie die Besetztheit der Begrifflichkeiten, z.B. des Sozial-, Kultur- oder Lebensraums, im Diskurs erörtert (63ff). Zugleich wird in allen Beiträgen auf die subjekt-bildenden Komponente von Raumvorstellungen – und damit schließlich auch auf die Herstellung(spraxis) von Raum im pädagogischen Diskurs verwiesen.

Im Teil II „Raumwahrnehmung und Raumaneignung: Leben – Lernen – Arbeiten in wirkmächtigen Räumen“ (89–190) wird Hauptaugenmerk auf die Frage geworfen, wie man sich Raum(praktiken) in (forschungs-)praktischen Zugängen nähern kann. Es sei hervorgehoben, dass hier neue empirische Zugänge zum Forschungsfeld Raum sowie ausgewählte Ergebnisse dokumentiert werden. Martin Viehhauser bespricht in seinem Beitrag anhand des Raumkonzepts der Frankfurter Küche (96) gesellschaftliche Konstitution und Weiterentwicklung, sodass eine „Pädagogik des Raums“ sich schlussendlich aus dem „Verhältnis von Bauformen und Lebensweise organisiert“ (101). Markus Rieger-Ladich und Christian Grabau sprechen in Form von acht Thesen u.a. über die Bedeutung der Selbsttätigkeit, über Machtverhältnisse und zugleich „Beschämung und Herabsetzung“ der Nutzerinnen und Nutzer, beispielsweise im Kontext bestehender schulischer Architekturen (112). Mit ihrem Beitrag zur Untersuchung von Schulraum bespricht Viktoria Flasche nicht nur raumtheoretische Grundlagen zwischen materialisiertem Raum und Interaktionsraum; sie berichtet zugleich exemplarisch über empirische Analysen von Schullogos und Architekturen und darüber hinaus von einem Projekt mit Lehrenden und Lernenden, die sich mit „ihrem“ Schulraum reflexiv auseinandersetzten (116ff). Anja Krüger, Katja Ninnemann und Thomas Häcker geben Einblick in den universitären Bildungsraum und zeigen, wie sie mithilfe eines fotoanalytischen Verfahrens „studentische Wahrnehmungen und Einschätzungen zur Bedeutung“ (137) der Hochschulkonstitution einholten. Den virtuellen Raum greift Jörg Hagedorn auf, der Jugendliche und deren „Raumerschließungs- und Raumaneignungsprozesse“ in „narrativen Selbstpraxen“ (147) untersuchte; mithilfe einer Fallanalyse zu Online-Tagebüchern berichtet er von der Limitation des Subjektes sowie der „identitäre[n] Bedeutung“ etwa durch „Raumerfahrungen innerhalb geschlossener schulischer (Zweck-)Räume“ (154f). Die Herausforderungen, die für Kinder und Jugendliche „zwischen realen und virtuellen Lebenswelten“ (156) entstehen können, spannt Franz Josef Röll weiter auf. Joachim Ludwig und Wolfgang Wittwer holen schließlich analytisch die Perspektiven „expansiven Lernens“ im Sozialraum (168) wie auf Arbeitsplatz- und „Lernräume in der beruflichen Weiterbildung“ (180) ein. Dieses Kapitel erhält den größten Umfang im Sammelband.

Teil III „Bildungslandschaften gestalten: regionale und globale Denk-, Handlungs- und Möglichkeitsräume“ (191–253) richtet den Blick nach außen und fragt: Was passiert „vor Ort“? Als Vertreterinnen und Vertreter mit Berichten über organisationale und in Teilen auch schulpolitische Dimensionen wurden Horst Weishaupt, Rudolf Tippelt und Barbara Lindemann, Martina Flath und Gabriele Diersen, Gregor Lang-Wojtasik, schließlich Constanze Berndt und Claudia Kalisch ausgewählt. „Bildungsbeteiligung“ (193ff) wird hier ebenso thematisch wie ein Projekt zu „Lernenden Regionen“ und Kooperationen, d. h. zwischen differenten, „organisch solidarische[n]“ (211) Bildungseinrichtungen. In einem weiteren Beispiel, dem Projekt „Lernen 21+“, wird die „Bedeutung außerschulischen Lernens“ (214) herausgearbeitet. Gleichzeitig entwerfen die globale Perspektive und die damit verbundenen Herausforderungen mit Blick auf regionale Entwicklungsprozesse in den beiden letzten Beiträgen eine zentrale Orientierungsfigur zur Beobachtung von Raum.

Insgesamt gelingt es dem Sammelband, vielfältige und neue Perspektiven für die erziehungswissenschaftliche Beschäftigung mit Raum zu generieren, und zwar mit theoretischen sowie auch (forschungs)praktischen Darstellungen. Den Problemaufriss um „Raum“ und seine vielfältigen Zugänge noch weiter zu verstärken, bleibt auch weiterhin ein Desiderat, denn – wie der Sammelband gezeigt hat – „den Raum“ gibt es in der Rekontextualisierung für pädagogische Diskurse schlichthin nicht, also kann er – je nach Blickwinkel – auch immer wieder andere Relevanz erlangen. Die Verwobenheit von Materialität und Handlungspraktiken, von Gegenständlichkeit und Relationierung im Prozess ist in dieser Sammlung hervorgetreten. Abschließend sollte man sich dem Titelbild zuwenden: Das auf dem Cover dargestellte „Au pèlerin“ (Wanderer am Weltenrand, in: Camille Flammarions L'Atmosphère, et la Météorologie populaire, Paris 1888) gilt als häufig verwendetes und zugleich vieldiskutiertes Motiv. Resümiert man dieses Werk, zeigt es schließlich etwa die Darstellung „von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum“ [3]. In der Beschäftigung mit Raum stoßen wir nun genau an diesen Problemhorizont und -aufriss von Öffnung und Schließung, von Chancen und Grenzen bildungsbezogener „Architekturen“ im weitesten Sinne – vor allem hinsichtlich einer forschungspraktischen Zuwendung und einer Versprachlichung von Raum, die Raum in seiner Betrachtung auch gerecht wird. Explizit wird dies bei Schulraum thematisch, da dieser zumeist nur als Bestandswerk fungiert und seine Eingebundenheit in feste Strukturen, als Institution und insgesamt im Sprechen über Raum oft noch als solches lediglich angenommen und reproduziert wird. Es bleibt also weiterhin eine unbedingte Aufgabe, „verhärtete Strukturen“ (120) beispielsweise mithilfe der Fokussierung von Raumpraktiken aufzubrechen und gegenüber real(istisch)en Bedarfen von Bildungsräumen herauszuschürfen – gegenüber vordergründig materialen Raumbezügen das involviert-Sein von Menschen und die Transformationsfähigkeit von Raum im erziehungswissenschaftlichen Diskurs stärker hervorzuheben und damit auch bei einer Raumtheoriebildung mitzudenken.

[1] Siehe hierzu http://www.dgfe2016.de.
[2] Vgl. Westphal, K.: Zwischen Himmel und Erde – Annäherungen an eine kulturpädagogische Theorie des Raumerlebens. Frankfurt am Main: Lang 1997.
[3] Siehe u.a. Koyré, A.: Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum. Berlin: suhrkamp 1980 sowie Grössing, G.: Das Unbewusste in der Physik. Über die objektalen Bedingungen naturwissenschaftlicher Theoriebildung. Wien: Turia und Kant 1993, 181.
Dominique Matthes (Dresden)
Zur Zitierweise der Rezension:
Dominique Matthes: Rezension von: Berndt, Constanze / Kalisch, Claudia / Krüger, Anja (Hg.): Räume bilden – pädagogische Perspektiven auf den Raum. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2016. In: EWR 15 (2016), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152072.html