EWR 12 (2013), Nr. 3 (Mai/Juni)

Sammelrezension zur erziehungswissenschaftlichen Debatte um Evolution

Michael Lenz
Anlage-Umwelt-Diskurs
Historie, Systematik und erziehungswissenschaftliche Relevanz
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2012
(390 S.; ISBN 978-3-7815-1882-7; 39,00 EUR)
Florian Bernstorff / Alfred Langewand (Hrsg.)
Darwinismus, Bildung, Erziehung
Historische Perspektiven auf das VerhÀltnis von Evolution und PÀdagogik
Berlin: LitVerlag 2012
(187 S.; ISBN 978-3-643-11563-8; 29,90 EUR)
Anlage-Umwelt-Diskurs Darwinismus, Bildung, Erziehung (I) Anlage-Umwelt-Diskurs. Historie, Systematik und erziehungswissenschaftliche Relevanz.

Der „Anlage-Umwelt-Diskurs“ hat abendlĂ€ndische Dimension – der Mensch fragt darin nach sich, nach seiner Entwicklung und nach seiner Stellung in der Welt und produziert(e) dabei in unserer Überlieferung – angefangen also bei den griechischen Philosophen – seit zweieinhalb Jahrtausenden höchst unterschiedliche Ansichten und viel widersprĂŒchliches Wissen; fĂŒr PĂ€dagogen und Erziehungswissenschaftler ordnet es sich einprĂ€gsam im Dual von „Bildsamkeit und Bestimmung“ (sc. Heinrich Roth, 1966). Die darin eingefangene Forschung bzw. das darin eingebundene Grundlagenwissen dient vornehmlich zur BegrĂŒndung normativer und normierender Aussagen sowie zur Vermessung und Markierung der praktischen Reichweite von „PĂ€dagogik“. Von daher und mithin hat der „Anlage-Umwelt-Diskurs“ die Erziehungswissenschaft schon immer interessiert. Die legitimatorische Defizitfeststellung von Michael Lenz, dass „der Anlage-Umwelt-Diskurs in der Erziehungswissenschaft bisher recht stiefmĂŒtterlich behandelt worden“ sei, kann insofern irritieren – sie trifft ausschließlich auf den Diskurs als solchen zu. Eben den nimmt sich Lenz nun auch vor und versucht, „die Anlage-Umwelt-Debatte im Allgemeinen sowie das Spektrum der vertretenen Positionen im Besonderen in systematischer Weise und mithilfe eines auf die Debatte zugeschnitten Vokabulars zu erfassen“ (X).

Dieser „Versuch“ ist in der Sache wohl gelungen, das Geflecht und „Gewimmel“ (315) der wissenschaftlichen Positionen in dieser Debatte wird distinkt geordnet, und Lenz ist dafĂŒr auch der richtige Mann: von Haus aus Biologe, vermag er, Wissensverschleifungen und Begriffswirrwarr, wie er bei der Rezeption biologischer Forschung in den Gesellschaftswissenschaften, gerade auch in der Erziehungswissenschaft, notorisch entsteht, sowohl zu vermeiden als auch aufzuklĂ€ren – eine „KurzeinfĂŒhrung in die Grundbegriffe der Genetik“ hĂ€ngt dem Band an. Es sind ja gerade die Aussagen und Befunde der Genetik, die den „Anlage-Umwelt-Diskurs“ kontrovers treiben und bis heute gesellschaftlich brisant machen, siehe jĂŒngst den von Thilo Sarrazin mit einschlĂ€gig leichtfertigen Behauptungen zur Erblichkeit von Intelligenz losgetretenen Furor – Lenz weist in seinem Vorwort selbst darauf hin. Michael Lenz legt also eine erste und eine grĂŒndliche Systematik der wissenschaftlichen Erbe-Umwelt-Debatte mit Verortung auch in der Erziehungswissenschaft vor.

Das „Materialcorpus“ (32) dafĂŒr liefert ihm ein DFG-Projekt („Der Anlage-Umwelt-Diskurs in der bundesdeutschen Erziehungswissenschaft seit 1950“), dem in der Antragstellung eine Literaturrecherche des Autors im Umfang von rund 20.000 AufsĂ€tzen in den anerkannt „wichtigsten erziehungswissenschaftlichen Fachzeitschriften“ (31) zugrundelag; daraus wurde fĂŒr die Inhaltsanalyse ein selektiver Bestand von zuletzt 200 FachaufsĂ€tzen 1950-2002 gezogen und um 40 Titel fĂŒr die Jahre 2003-2008 ergĂ€nzt; beide BestĂ€nde sind dem Band angehĂ€ngt. Die penible, auch redundante Befassung mit dem „Materialcorpus“ trĂ€gt noch die Handschrift eines Forschungsantrags, wie zum ‚Design‘ des Bandes zudem kritisch angemerkt sei, dass ihm der Dissertationszweck noch eingeschrieben ist, dies besonders im Kapitel „Fragestellung und Gang der Argumentation“ (Teil I, 1.4), in den „zusammenfassende[n] Einordnung[en]“ einzelner Teile sowie in der rekapitulierenden „Zusammenfassung“ des ganzen Bandes, die, beginnend mit dem typischen Satz einer jeden solchen Qualifikationsschrift: „In dieser Dissertation wurde 
“ (319), fĂŒr eine Buchveröffentlichung in der vorliegenden Form ĂŒberflĂŒssig ist.

Aufgrund des beschriebenen „Materialcorpus“ enden die statistischen Aussagen zu den ins Auge gefassten einzelnen Konjunkturen der Anlage-Umwelt-Debatte – sie werden in 15 Tabellen auch graphisch verdeutlicht – gegen 2008; damit ist die „aktuelle Gesamtschau“ (X) nicht mehr so ganz aktuell. Gleichwohl liegt ein Forschungsbericht vor, den man mit großem Gewinn studiert. Der „Anlage-Umwelt-Diskurs“ wird in seiner ihm eigenen KomplexitĂ€t, in der Vielfalt seiner Positionen und der Menge seiner disziplinĂ€ren Lesarten, wĂŒnschenswert systematisch dargestellt; dazu gibt es einen wissensgeschichtlichen Abriss, werden drei einflussreiche Richtungen des Diskurses als dessen Exempla vorgenommen, vier „SchlĂŒsseldebatten“ des Diskurses vorgestellt, und zuletzt die „erziehungswissenschaftliche Relevanz“ des Ganzen diskutiert.

Die sorgfĂ€ltige systematische EinfĂŒhrung (Teil I) nimmt das Anlage-Umwelt-Dual begriffslogisch, real- und diskursanalytisch in extenso auseinander mit dem Ergebnis, dass es logisch gebraucht werde, realiter aber untauglich und auch unzutreffend sei. Dies ist nicht eben ein Sonderfall im basalen wissenschaftlichen BemĂŒhen, faktische Vielfalt gedanklich zu ordnen. Der historische Abriss (Teil II) geht von der Antike ĂŒber die AufklĂ€rung bis zum gesellschaftlichen Gebrauch der Evolutionstheorie in der Form von Sozialdarwinismus, Eugenik und Rassenhygiene, damit bis 1945, fĂŒhrt auch in den jeweiligen Zeitgebrauch der Grundbegriffe ein und fasst das Ganze systematisch unter „Extrempositionen und Gesellschaftsutopien“ zusammen (115). Die drei unter „Positionen des aktuellen Anlage-Umwelt-Diskurses“ (Teil III) wissenschaftsgeschichtlich und systematisch abgehandelten Exempla sind Verhaltensgenetik samt Zwillingsforschung, Soziobiologie sowie Evolutionspsychologie und „Kritischer Interaktionismus“, worunter fĂŒr Lenz alle AnsĂ€tze fallen, die das Anlage-Umwelt-Dual kritisch ĂŒberwinden. Sie kommen insbesondere aus der Biologie selbst, sind aber heterogen, werden deshalb mit ihren jeweils namhaften Vertretern in ihren einzelnen Positionen schematisch erfasst (176) und ausfĂŒhrlicher beschrieben als die vergleichsweise homogenen ersten beiden Exempla – „kritischer Interaktionismus“ im angegebenen Sinne ist offenkundig eine SpezialitĂ€t des Autors.

Als „SchlĂŒsseldebatten im Anlage-Umwelt-Diskurs“ (Teil IV) werden abgehandelt: die Kontroverse ĂŒber die Wissenschaftlichkeit der Forschungen der Kulturanthropologin Margaret Mead („Mead-Freemann-Kontroverse“); die Debatten ĂŒber die Erblichkeit oder Nicht-Erblichkeit von Intelligenz im vergangenen Jahrhundert, dabei insbesondere die „Jensen-Debatte“ in den 1970er sowie diejenige ĂŒber die Aussagen und Befunde und von Herrnstein und Murray in den 1990er Jahren; die Debatte ĂŒber die Zwillingsforschung von Cyril L. Burt und die darin vermutete DatenfĂ€lschung („Burt-Skandal“ – Burt war ein vehementer Vertreter der Erblichkeitsthese); der Fall „David Reimer“, die an diesem Ereignis fataler Geschlechtsumwandlung diskutierte AbhĂ€ngigkeit von Geschlecht und Intelligenz Ende der 1990er Jahre und folgende. Bei allen vier „SchlĂŒsseldebatten“ geht Lenz gewissenhaft referierend und mit nahezu ĂŒberschießendem Literaturzitat der historischen Entwicklung, der allgemeinen Argumentation sowie den besonderen Argumenten und/oder Befunden und der wissenschaftlichen Rezeption samt den dabei verfolgten diskursiven Strategien nach.

In der Erziehungswissenschaft fanden diese vier „SchlĂŒsseldebatten“ unterschiedliche Aufmerksamkeit, was wenig wundert, nicht alle betreten und betreffen pĂ€dagogisches Terrain gleich wesentlich. „Die Bedeutung der Anlage-Umwelt-Debatte fĂŒr die Erziehungswissenschaft“ erörtert Lenz nachklappend, indem er die „erziehungswissenschaftliche Relevanz“ der Verhaltensgenetik, der Evolutionspsychologie und des „Kritischen Interaktionismus“ (im o.a. Sinne) erörtert; warum er dabei die zuvor systematisch beachtete Soziobiologie auslĂ€sst, ist unerfindlich, gerade sie wurde in der Erziehungswissenschaft stark beachtet. Lenz konstatiert insgesamt „abflauendes“ Interesse (317) – das freilich andernorts, hier im bevorzugt zitierten angelsĂ€chsischen Sprachraum, ebenso vorliegt – und eher zurĂŒckhaltende Rezeption. Das ist und die vom Autor dafĂŒr zitierten GrĂŒnde innerwissenschaftlicher Konstitution sind wohl bekannt, in der Erziehungswissenschaft wird defizitĂ€re Rezeption biologischen Wissens seit gut 40 Jahren beklagt.

Von „disziplinĂ€rer Abschottung“ (317) kann indes nicht mehr die Rede sein, man muss auch heute nicht mehr vor einer solchen warnen. Interesse oder Nicht-Interesse der Erziehungswissenschaft „an anderen biologischen Wissensgebieten“ (ebd.) hĂ€ngt von QualitĂ€t und Relevanz der biologischen Forschung(saussagen) ab, der Autor aber hat die Rezeption nur quantitativ am Diskursgeschehen gemessen, und dies auf der Basis eines „Materialcorpus“ (s.o.), das Buchpublikationen nicht erfasst, und eines Messinstrumentes, das zur Erfassung und Feststellung (inner)wissenschaftlicher Wissensaufnahme nur bedingt hinreicht, nĂ€mlich des Social Sciences Citation Index (SSCI). Rezeption in der Wissenschaft ist bekanntlich auch ein qualitativer Vorgang – nicht jede gezĂ€hlte Befassung wiegt gleich viel oder findet dasselbe Gehör und denselben Niederschlag. So erscheint es kĂŒhn, von dem Fakt der Nicht-Zitation biologischer Forschung in der Erziehungswissenschaft, dies belegt am „Reimer-Fall und [der] Harris Debatte“ [1] (293), auf „strikte Verleugnung“ zu schließen. Wie im vorliegenden Bande selbst nachzulesen, ist manches dort produzierte Wissen windig und bietet sich fĂŒr substantielle Befassung gar nicht an.

Wohl aber lĂ€sst sich damit Diskurspolitik machen. Das weist die Studie von Lenz auch ĂŒberzeugend nach. So findet die Rezensentin sie in erster Linie wissenschaftsgeschichtlich und diskurspolitisch interessant; gerade in der Erbe-Umwelt-Debatte kann man hier viel und detailliert ĂŒber die AbhĂ€ngigkeit von Erkenntnis und Interesse lernen.

(II) Darwinismus, Bildung, Erziehung. Historische Perspektiven auf das VerhÀltnis von Evolution und PÀdagogik.

Ein StĂŒck der langen Tradition der Anlage-Umwelt-Debatte in der Erziehungswissenschaft bekommt man auch in dem von Florian Bernstorff und Alfred Langewand herausgegebenen Band zu fassen. Dort werden, die acht EinzelbeitrĂ€ge zusammengenommen, fĂŒr das „komplexe ideengeschichtliche PhĂ€nomen“ Darwinismus (6) die „Applikationsfelder und -muster innerhalb der PĂ€dagogik“ (8) nachgezeichnet, dies nicht unabhĂ€ngig von sozialen und politischen Motiven. Insofern entsprechen und ergĂ€nzen sich Gegenstand und Erkenntnisinteresse der beiden angezeigten BĂ€nde wissenschaftsgeschichtlich, wozu bei Bernstorff/Langewand die lange Jahrhundertwende 1880-1920 in den Blick rĂŒckt. Auf die seinerzeit eingeĂŒbte und bis in die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in der Erziehungswissenschaft vorherrschende selektiv kritische Rezeption evolutionsbiologischer Forschung, die auch Lenz aufgefallen ist (s.o.), weisen die Herausgeber einleitend mit der Frage hin, „ob diese Form der Bearbeitung externer Ideen dem pĂ€dagogischen Denken strukturell innewohnt“ (13). Dazu kann man nur locker anmerken, dass jede Wissenschaft gut beraten ist, „externe Ideen“ auf den Erkenntnisgewinn in eigener Sache hin kritisch zu befragen, womit sich oft erĂŒbrigt, sie in aller VollstĂ€ndigkeit zu rezipieren. Zu den einzelnen BeitrĂ€gen des Bandes in der dort vorliegenden Reihenfolge:

Mike Hawkins („Social Darwinism and Female Education 1870-1920“) trĂ€gt vor, dass im angegebenen Zeitraum das sozialdarwinistische Theorem gesellschaftlich ambivalent beansprucht wurde, dass es nicht nur die Überlegenheit des Mannes gegenĂŒber der Frau begrĂŒnden half, wie weithin bekannt, sondern sich auch fĂŒr die Emanzipation der Frau verwenden ließ. DafĂŒr zitiert Hawkins stichworthaft drei Autoren: die französische Übersetzerin der „Origins of Species“ (Darwin 1852), ClĂ©mence Royer, die britische Dichterin Emily Pfeiffer und die uns allseits bekannte Ellen Key, wobei er den einschlĂ€gigen hiesigen Diskurs, insbesondere die Auseinandersetzung mit dem eugenischen Denken von Ellen Key [2], souverĂ€n ignoriert.

Einen am Einzelfall gut fundierten Eindruck von der KomplexitĂ€t der seinerzeitigen Debatte liefert hingegen Carsten MĂŒller („Paul Bergemann gegen Paul Natorp: ein Blitzlicht auf das evolutionistische Denken im Diskurs der SozialpĂ€dagogik um 1900“). Dasselbe ist dem Beitrag („Evolution und Entwicklung im Schulbuch um 1900“) von Tim Köhler zu bestĂ€tigen. Festgemacht an den beiden Haupt- und Grundbegriffen – die im Übrigen den Streit zwischen Darwinismus und Lamarckismus markieren – verfolgt Köhler die Rezeption des Darwinismus im preußischen Schulbuch und dabei, in aller KĂŒrze, auch die Rezeptionsstrategien der bildungspolitischen Parteien, i.e. des Staates und der Religionsgemeinschaften.

Marc Depaepe, Ralf de Bont und Kristof Dams informieren ĂŒber „Darwinism and the Development of Educational Thought in Belgium before Word War II“, dabei vor allem ĂŒber die außerwissenschaftliche Steuerung der Darwin-Rezeption gerade im Erziehungssektor. Wie zu erwarten, wird sie in Belgien von Katholiken und ‚Nicht-Katholiken‘ ĂŒber deren gesellschaftliche Institutionen bestimmt, es gibt kaum unvermittelte Rezeption. Da sich nun beide Seiten im Erziehungssektor schon von Berufs wegen das Konzept der Umweltanpassung aneignen mĂŒssen, kommt es zu einigen argumentativen Verrenkungen, die man heute mit Schmunzeln nachliest. Insgesamt kommt in Belgien auf diese Weise diskursive KomplexitĂ€t zustande.

Die Ambivalenzen der Darwin-Rezeption im Erziehungssektor stellt auch Florian Bernstorff heraus („Ernst Haeckel und die MoralpĂ€dagogik“). Von Haeckel, einem ĂŒberzeugten Darwinisten, greift man just die GedankengĂ€nge auf, die nicht „zum Kern des darwinistisch TheoriegebĂ€udes gehören“ (109), das sind hier die Annahme der Vererbung erworbener Eigenschaften (Lamarck!) und die Übertragung des biogenetischen Grundgesetzes in die Kulturgeschichte. So macht sich ein jeder und jede pĂ€dagogische Interessensvertretung den Darwinismus zurecht, der ihm und ihr frommt.

Nicht anders als die MoralpĂ€dagogik griff auch die SozialpĂ€dagogik auf das neue Wissen bzw. auf die neuen Theoreme ĂŒber die Natur des Kindes im Darwinismus aus Interesse an der Entwicklung und den Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes zu. Florian Eßer und Wolfgang Schröer („Der kindliche ‚Entwickelungsgang‘. Kinderforschung und SozialpĂ€dagogik um 1900“) verfolgen eben dies an Hand derjenigen Publikationen, in denen sich die historisch-genetischen, die naturalistischen und die evolutionistischen Positionen der Zeit prĂ€gnant niederschlagen [3]. Daran ist aus heutiger Sicht von besonderem Interesse, wie seinerzeit ‚normale‘ von pathologischer Entwicklung unterschieden wird. Alle Positionen aber, so der wissenschaftsgeschichtliche Befund der Autoren, liefen letztlich auf „pĂ€dagogische Professionalisierung“ hinaus und dienten der „Reklamierung von Arbeitsfeldern“ (126).

Von der Steuerung der Rezeption ĂŒber den ‚Gebrauchswert‘ des jeweiligen neu produzierten Wissens liest man auch im Beitrag von Sabine Baum („Adaptionen Darwins im angehenden Chicagoer Pragmatismus“). Er weist nach, dass Darwins evolutionstheoretisch fundierte GefĂŒhlstheorie fĂŒr die genannte Schule deshalb interessant war, weil sie „Emotionen eine Funktion fĂŒr menschliches Verhalten zuwies und somit ihre NĂŒtzlichkeit fĂŒr menschliches Handel aufdeckte“ (133), wobei die Autorin darauf hinweist, dass diese funktionale ErklĂ€rung der GefĂŒhle wohl pĂ€dagogische Praxis ordnen, sie aber nicht anleiten kann. Die bei Baum ins Auge gefasste Chicagoer Schule spricht auch Steffen SchlĂŒter im letzten und lĂ€ngsten Beitrag des Bandes an („Charles Darwin und die ‚geisteswissenschaftliche Hermeneutik‘ im amerikanischen Pragmatismus“). Ihm geht es um eine „zusammenhĂ€nge Interpretation von Forschungen ĂŒber Charles Darwin, Wilhelm Wundt, Wilhelm Dilthey und den amerikanischen Pragmatismus“ (153), und er referiert dazu ĂŒber die „biologische Psychologie der GebĂ€rde von Charles Darwin“(154), ĂŒber die „philologische Sprachforschung von Friedrich Max MĂŒller“ (156), ĂŒber die „physiologische Psychologie und Völkerpsychologie der Sprache von Wilhelm Wundt“ (161), ĂŒber die „geisteswissenschaftliche Hermeneutik bei Wundt und Dilthey“ (167) sowie ĂŒber die „Sozialpsychologie von Mead und die Philosophie von Dewey aus der Perspektive eines geisteswissenschaftlich-hermeneutisch vermittelten Darwinismus“ (175). All diese StĂŒcke hĂ€ngen in der hermeneutischen Lesart des Verfassers zusammen, eine „zusammenhĂ€ngende Interpretation“ ergibt das freilich noch nicht.

In summa informiert der von Florian Bernstorff und Alfred Langewand zusammengestellte Band pointiert darĂŒber, wie und aus welchem Interesse wissenschaftliche Diskurse gesteuert und – neu produziertes – Wissen rezipiert wird. NatĂŒrlich sind wir ĂŒber den gesellschaftlichen Funktionszusammenhang von „Erkenntnis und Interesse“ (sc. Habermas 1968) informiert; jetzt kann man ihn im Bereich der Erziehungswissenschaft am Exempel „Darwinismus“ studieren. Das ist im Einzelfall informativ und insgesamt wissenschaftsgeschichtlich gewinnbringend.

[1] Diese Debatte hat die Rezensentin im Buch nicht aufstöbern können.
[2] Bes.: Reyer, J.: Eugenik und PĂ€dagogik. MĂŒnchen: Weinheim 2003.
[3] Preyer, W. T.: Die Seele des Kindes. Beobachtungen ĂŒber die geistige Entwicklung des Menschen in den ersten Lebensjahren. Leipzig: Grieben 1882; Sigismund, B.: Kind und Welt. Braunschweig: Vieweg 1856/1897; Zeitschrift fĂŒr Kinderforschung.
Gisela Miller-Kipp (DĂŒsseldorf)
Zur Zitierweise der Rezension:
Gisela Miller-Kipp: Rezension von: Lenz, Michael: Anlage-Umwelt-Diskurs, Historie, Systematik und erziehungswissenschaftliche Relevanz. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 3 (Veröffentlicht am 28.05.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151882.html