EWR 11 (2012), Nr. 5 (September/Oktober)

Sammelrezension zur Geschichte von Gewalt und Missbrauch in der Pädagogik

Peter Dudek
„Liebevolle Züchtigung“
Ein Mißbrauch der Autorität im Namen der Reformpädagogik
Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt 2012
(213 S.; ISBN 978-3-7815-1843-8; 17,90 EUR)
Benno Hafeneger
Strafen, prügeln, missbrauchen
Gewalt in der Pädagogik
Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel Verlag GmbH 2011
(146 S.; ISBN 978-3-86099-703-1; 14,90 EUR)
„Liebevolle Züchtigung“ Strafen, prügeln, missbrauchen Die vor ca. drei Jahren begonnenen Enthüllungen von zahlreichen Fällen sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen in pädagogischen und/oder kirchlichen Einrichtungen sorgten zwar für jede Menge Irritationen in der Öffentlichkeit und im Kreis der pädagogisch Tätigen, waren aber letztendlich keine große Überraschung, wenn man die Rolle, die Gewalt in der Geschichte der Erziehung gespielt hat, bedenkt. Bis in die jüngste Vergangenheit hinein galt Gewalt als probates Erziehungsmittel und wurde von Eltern und sonstigen Erziehungsberechtigten sowie von so genannten Pädagogen in den unterschiedlichsten pädagogischen Einrichtungen zum Teil hemmungslos angewendet. Dass es zudem vor allem in mehr oder weniger geschlossenen Erziehungseinrichtungen wie Heimen und Internaten immer wieder zu Formen von sexueller Gewalt kam, ist nicht erst seit den Vorfällen in der Odenwaldschule und im Canisius-Kolleg bekannt.

Mit dieser Thematik beschäftigen sich auch die beiden vorliegenden Publikationen, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise. Einem spektakulären Fallbeispiel widmet sich Peter Dudek, der sehr kenntnisreich und detailliert den 1926 angestrengten Prozess gegen Kurt Lüder Freiherr von Lützow schildert, der sich wohl am besten als einer der vielen selbsternannten ‚Jugendversteher’ charakterisieren lässt, wie sie die Landerziehungsheimpädagogik des frühen 20. Jahrhunderts hervorbrachte und bei denen Selbstverständnis und Sendungsbewusstsein häufig nicht mit ihrer pädagogischen Praxis korrelierten. Konkret bedeutet das für von Lützow, dass er von sich behauptete, mit ungewöhnlichen Methoden aus der ihm anvertrauten Jugend das Beste herausholen zu wollen, dabei aber letztendlich nur nach Herzenslust seinen Allmachtsphantasien frönte, auf die Eigenarten seiner männlichen Zöglinge mit brutalen Misshandlungen reagierte und nebenbei auch noch an ihnen seinen offensichtlich päderastischen Sexualtrieb befriedigte. Dies führte zwar zu einem großen, öffentliches Aufsehen erregenden Strafprozess, doch zur Überraschung vieler auch zu einem Freispruch.

Gründe für diesen Freispruch arbeitet Dudek in Unterkapiteln nachvollziehbar heraus, in denen er beispielsweise die sehr kontroversen Gutachten, die im Prozess eine Rolle spielten, betrachtet. Diese zeigen, dass man in den 1920er Jahren zwar nach einem unbefangenen Umgang mit Sexualität zu suchen begann, dabei aber Themen wie sexueller Gewalt an männlichen Jugendlichen und Kindern nur sehr eingeschränkt gerecht werden konnte. Auch der Blick auf den damaligen Umgang mit den Aussagen der jugendlichen Opfer ist sehr hilfreich, da hier deutlich wird, dass deren Glaubwürdigkeit nahezu durchgängig in Zweifel gezogen wurde. Da zudem eine hohe Akzeptanz von körperlicher Gewalt als Bestandteil der Erziehung in der Gesellschaft vorhanden war, wundert einen der Freispruch letztlich nicht, obwohl die von Dudek geschilderten Vorwürfe an von Lützow dem heutigen Betrachter die Haare zu Berg stehen lassen.

Dudek beendet seine mit anschaulichem Bildmaterial bereicherte Darstellung mit Schlussbemerkungen, die sich einerseits darum bemühen, die Verfehlungen des damals Angeklagten und den Umgang mit diesen in einen Bezug zur Gegenwart zu rücken. Dies wirkt jedoch nicht nur an den Stellen gezwungen, an denen Parallelen zu den Fällen ‚Kachelmann’ oder ‚Strauss-Kahn’ gezogen werden. Andererseits diskutiert er den bereits im Untertitel angesprochenen Zusammenhang zur ‚Reformpädagogik’, wobei sich die Frage stellt, ob dieses weite Feld hier überhaupt noch hätte geöffnet werden müssen, denn bis auf die Tatsache, dass von Lützow kurzzeitig in Haubinda und an der Odenwaldschule tätig war, hatten seine Erziehungsmethoden nichts Reformerisches an sich.

Ganz anders geht Benno Hafeneger an die Thematik heran. Sein Buch liest sich wie eine ausgearbeitete Vorlesung zum Thema „Gewalt in der Pädagogik“, was den Vorteil hat, dass ein breites thematisches Spektrum abgearbeitet wird. Gleichzeitig sind jedoch – zwangsläufig – auch Verkürzungen und Verallgemeinerungen zu erkennen.

In den elf Kapiteln geht Hafeneger von aktuellen Vorfällen aus und durchwandert dann die Geschichte der Erziehung. Dabei wird er auf der Suche nach Beispielen für Gewalt im erzieherischen Handeln immer wieder problemlos fündig, wobei die herangezogenen Beispiele den tatsächlichen Umfang der Misshandlungsvorfälle nur erahnen lassen. Hier steht zum einen die Schule im Vordergrund, zum anderen werden aber auch (wenige) Erziehungsratgeber betrachtet und der Blick anschließend auf so genannte ‚pädagogische Felder’ und ihren Bezug zur Gewalt gerichtet. Den Anfang macht die Reformpädagogik mit ihrer eigenwilligen Auslegung des ‚pädagogischen Eros’, die zu vielfältigen Formen sexueller Gewalt führte, was Hafeneger in wohltuender Klarheit benennt, gefolgt von der pädagogischen Praxis der katholischen Kirche und der Heimerziehung, die bis in die jüngste Vergangenheit hinein ebenfalls mehr Schatten als Licht aufweisen. Leider fehlt ein ähnlich konzentrierter Blick auf die Zeit des Nationalsozialismus und die DDR, was sicherlich auch dem Umfang des Buches geschuldet ist.

Den Abschluss des Buches bildet ein Blick auf die gegenwärtigen Reaktionen und Maßnahmen, die staatlicherseits, aber auch innerhalb der betroffenen Institutionen zum Tragen kamen. Dass hier noch viel zu tun bleibt, bringt Hafeneger durch eigene Schlussfolgerungen auf den Punkt, doch auch wenn hier zweifelsohne die Kompetenz des Autors deutlich wird, muss doch festgestellt werden, dass diese Hinweise aufgrund ihrer Kürze nicht mehr sind als Denkanstöße, die es aufzugreifen lohnt.

Beide Bücher zeigen, dass der Blick auf die Geschichte der Erziehung beim Umgang mit (sexueller) Gewalt in der Erziehung aufschlussreich sein kann, dass aber das Bemühen, derartige Vorfälle zu verhindern, eine Zusammenarbeit aller pädagogischen Teildisziplinen erfordert. Einen ersten Schritt hierzu könnte die soeben von der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) herausgegebene Aufsatzsammlung zum Thema „Sexualisierte Gewalt, Macht und Pädagogik“ darstellen [1].

[1] Werner Thole, Meike Baader, Werner Helsper, Manfred Kappeler, Marianne Leuzinger-Bohleber, Sabine Reh, Uwe Sielert, Christiane Thompson (Hrsg.): Sexualisierte Gewalt, Macht und Pädagogik. Opladen, Berlin & Toronto 2012.
Rüdiger Loeffelmeier (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Rüdiger Loeffelmeier: Rezension von: Dudek, Peter: „Liebevolle Züchtigung“, Ein Mißbrauch der Autorität im Namen der Reformpädagogik. Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt 2012. In: EWR 11 (2012), Nr. 5 (Veröffentlicht am 12.10.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151843.html