Die gestiegene Bedeutung evidenzbasierter Verfahren in der Unterrichtsforschung und die diese begleitende gewachsene Zahl empirisch gewonnener Erkenntnisse führen vielfach nicht oder nur sehr indirekt zu Veränderungen in der Unterrichtsgestaltung. Doch selbst bei Versuchen der Berücksichtigung empirisch fundierter Erkenntnisse wird nicht selten auf eine systematische Erfassung der Effekte verzichtet, die sich an aktuellen Standards der Unterrichtsforschung orientiert, um die Anwendung der empirisch gewonnenen Grundlagen zu überprüfen.
Das hier besprochene Buch versucht einer Kluft zwischen anspruchsvollen forschungsbasierten Erkenntnissen und entsprechenden Forschungskonzepten einerseits und unterrichtlichem Handeln andererseits durch die Entwicklung und Zusammenfassung von Grundlagen und durch geeignete Praxisbeispiele entgegenzuwirken.
Im ersten Grundlagenbeitrag werden von Kurt Reusser Probleme, Strategien und Werkzeuge für den Weg von der Unterrichtsforschung zur Unterrichtsentwicklung skizziert. Ausgehend von einer Bestandsaufnahme aktueller Tendenzen der Unterrichtsentwicklung werden Potentiale einer designbasierten (fach-)didaktischen Entwicklungsforschung kurz umrissen. Im Gegensatz zur stark experimentell orientierten Grundlagenforschung geht es in auf ökologische Validität abzielenden anwendungsorientierten Entwicklungsforschungsansätzen darum, die Implementation praktikablen Unterrichts zu erkunden. Bei den genannten Beispielprojekten werden nicht nur beim Design der Lernumgebung Forschungserkenntnisse berücksichtigt, sondern es werden auch die Effekte in Form des Lernzuwachses erfasst. Für Reusser ist die kooperative Weiterentwicklung von Unterricht durch Lehr- und Forschungspersonen von besonderer Bedeutung.
Im zweiten Grundlagenbeitrag führt Wolfgang Einsiedler in die Didaktische Entwicklungsforschung ein. Zur Überwindung der Diskrepanz zwischen bildungswissenschaftlicher Grundlagenforschung und Unterrichtsmethodik skizziert er verschiedene Transferverständnisse und -konzepte. Im Anschluss werden typische Transferprobleme benannt und verschiedene Lösungsansätze entwickelt. Ein eigenes Unterkapitel bildet die Darstellung der Ansätze Design-Based-Research sowie Pragmatische und Symbiotische Unterrichtsforschung. Zur Klärung des Verhältnisses von Entwicklungsforschung und Didaktik und zur Generierung von Konzepten wird der Blick auf Disziplinen erweitert, die sich schon länger mit der Verzahnung von Forschung und Entwicklung mit Grundlagenforschung beschäftigen. Abschließend werden Aufgaben, Umsetzungsbeispiele und Standards (Theoriefundierung, Erprobung in Lernumwelten, Wirkungs- und Aktivierungsevaluation, Symbiotische Unterrichtsforschung, Erreichung pragmatischer Ziele, Berichterstattung) der Didaktischen Entwicklungsforschung dargelegt.
Joachim Kahlert und Klaus Zierer betonen im dritten Grundlagenbeitrag „Didaktische Entwicklungsforschung aus Sicht der pragmatischen Bildungsarbeit“ einerseits Grenzen der Erforschbarkeit von Bildungsprozessen und der auf dieser Basis gesichert entwickelbaren Anregungen für die Praxis, andererseits aber auch die Notwendigkeit der Formulierung geeigneter Empfehlungen zur Weiterentwicklung didaktischer Handlungen. Sie schlagen die Entwicklung von didaktischen Arbeitsmodellen als gemäßigt kontextbezogene Modellierungstypen vor. Die dominierende Peer-Review-Kultur in der erziehungswissenschaftlichen Publikationspraxis ist für die Autoren nicht nur begrenzt zur Feststellung wissenschaftlicher Qualität geeignet, sie führt auch zu einer Geringschätzung der von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern generierten didaktischen Literatur in der Scientific Community. Defizite der Qualitätssicherung von didaktischen Publikationen gilt es durch aktive Beteiligung von Forscherinnen und Forschern an einer „Gestaltungsöffentlichkeit“ anzugehen.
Cornelia Gräsel beschäftigt sich im vierten Grundlagenbeitrag mit der „Kooperation von Forschung und LehrerInnen bei der Realisierung didaktischer Innovationen“. Unter Berücksichtigung verschiedener Studien sieht sie deutliche Beschränkungen traditioneller Top-Down-Strategien für den Transfer wissenschaftlich gewonnener didaktischer Erkenntnisse in die Praxis. An zwei Beispielen illustriert sie Möglichkeiten mittels Lerngemeinschaften von Wissenschaft und Praxis Transferhandlungen zu unterstützen. Im Anschluss benennt sie empirische Befunde.
In den vier Projektbeschreibungen werden jeweils unterschiedliche Umsetzungsansätze präsentiert. Agi Schründer-Lenzen und Stephan Mücke stellen die Entwicklung und Evaluation des Sprachförderprogramms FÖRMIG vor. Auch sie setzen ein Netzwerkprogramm gegen Top-Down-Strategien der Vermittlung. Deutliche Effekte werden ausgemacht, wenn es gelang die Akteure in das Programm einzubinden. Eva-Maria Kirschhock und Meike Munser-Kiefer erläutern in einem zweiten Beitrag die Entwicklung und empirische Überprüfung eines Lesestrategietrainings. Ihre Projektbeschreibung orientiert sich an den von Einsiedler in seinem Grundlagenbeitrag entwickelten Standards Didaktischer Entwicklungsforschung. Eva Heran-Dörr, Alexander Rachel und Christine Waltner berichten in ihrem Praxisbeitrag über die Entwicklung und Evaluation einer Lehr-Lernumgebung zum Magnetismus für den naturwissenschaftlichen Sachunterricht der Grundschule. Dabei wurde eine unter Laborbedingungen erprobte Lernumgebung in Schulklassen realisiert. Die Forschungsergebnisse sollen in die Weiterentwicklung der Lernumgebung einfließen. Silke Grafe stellt in einem letzten Praxisbeitrag die Verzahnung von Forschung und Entwicklung in einem Projekt zur Förderung von Problemlösefähigkeiten unter Einbezug von Computersimulationen in der Sekundarstufe I vor. Sie zielt dabei sowohl auf die Weiterentwicklung theoretischer Grundlagen als auch auf die Überprüfung und Nutzbarmachung von Unterrichtskonzepten.
Der Band vereint verschiedene Autorinnen und Autoren sowie Ansätze der Unterrichtsentwicklung und Didaktischen Entwicklungsforschung, die teilweise schon früher in diesen Feldern publiziert haben. Es bleibt für die Unterrichtsentwicklung zu hoffen, dass der im deutschen Sprachraum noch weniger als im anglo-amerikanischen Sprachraum verfolgte und ausgearbeitete Ansatz einer systematischen Verknüpfung von Bildungsforschung und Bildungspraxis durch diese Publikation einen neuen Schub erfährt. Dieser Band kann dabei nicht nur als Anstoß für eine innovative, anspruchsvolle Verzahnung der genannten Pole dienen, sondern auch einen Ausgangspunkt für weitere Publikationen im Bereich der Didaktischen Entwicklungsforschung bilden.
In Folgepublikationen gilt es insbesondere noch stärker herauszuarbeiten, wie quantitative, qualitative und kombinierte Verfahren und die damit verbundenen spezifischen Gütekriterien in die Didaktische Entwicklungsforschung und deren Standards eingebunden werden können. Die Praxisbeispiele geben sinnvolle Anregungen für die Gestaltung weiterer Forschungsprojekte. In ihrer Exemplarität hervorzuheben sind insbesondere jene Beispiele, die explizit Bezug zu dem Grundlagenteil des Buches nehmen. Zur Erweiterung der Vielfalt wären in künftigen Publikationen insbesondere auch Forschungsprojekte von Interesse die noch gezielter, wie etwa in explorativen Studien, Kontexte der Umsetzung von Erkenntnissen der Bildungsforschung erfassen. Auch Forschungs- und Entwicklungsprojekte, bei denen spezifische Kontexte nicht erst weitgehend am Ende des Forschungsprozesses einfließen, sondern in denen in kürzeren Zyklen Forschungs- und Entwicklungsprozesse aufeinander bezogen werden, können neue Perspektiven für die Entwicklungsforschung eröffnen. Bei der Realisierung weiterer innovativer Projekte gilt es auch zu prüfen, inwiefern die von Einsiedler entwickelten Standards einer adaptierten Weiterentwicklung bedürfen.
EWR 11 (2012), Nr. 6 (November/Dezember)
Unterrichtsentwicklung und Didaktische Entwicklungsforschung
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011
(184 S.; ISBN 978-3-7815-1794-3; 16,90 EUR)
Thomas Irion (Leipzig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Thomas Irion: Rezension von: Einsiedler, Wolfgang (Hg.): Unterrichtsentwicklung und Didaktische Entwicklungsforschung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151794.html
Thomas Irion: Rezension von: Einsiedler, Wolfgang (Hg.): Unterrichtsentwicklung und Didaktische Entwicklungsforschung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151794.html