Auf gemeinsame Initiative der Bibliothek fĂŒr Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) in Berlin und des Georg-Eckert-Instituts fĂŒr internationale Schulbuchforschung (GEI) in Braunschweig fand im April 2008 in Berlin eine Tagung zum Thema âBildungsrĂ€ume im langen 19. Jahrhundert. Wahrnehmungs- und Transferprozesse in der deutschen Staatenweltâ statt. Erweitert um drei dort nicht vorgestellte BeitrĂ€ge, versammelt der vorliegende Band sieben fĂŒr die Publikation bearbeitete VortrĂ€ge dieser Tagung.
Folgt man dem Vorwort der Herausgeber und der von Eckhardt Fuchs und Sylvia Kesper-Biermann verfassten Einleitung des Bandes, dann wollten die Initiatoren der Tagung vorrangig einem Forschungsdefizit der Historischen Bildungsforschung begegnen, als dessen chronische Symptome sie zum einen die notorische ĂberschĂ€tzung PreuĂens als maĂstabsetzendes Modell fĂŒr die Entwicklung des Bildungssystems in Deutschland und zum anderen die nicht minder bestĂ€ndige Neigung diagnostizieren, innerhalb PreuĂens âeine mehr oder weniger einheitliche, lineare Entwicklung von den preuĂischen Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts bis hin zum Kaiserreichâ zu unterstellen (nahezu wortidentisch 7 und 11).
Insofern erscheint es folgerichtig, dass sich die BeitrĂ€ge am âBorussozentrismusâ der Historischen Bildungsforschung abarbeiten sollen. Wenn Eckhardt Fuchs und Sylvia Kesper-Biermann in Bezug auf die angeprangerte PreuĂenfixiertheit der Forschung und deren LinearitĂ€tsannahmen bilanzieren, dieser âZustandâ beginne âsich seit einigen Jahren mit dem Entstehen von Regional- bzw. Territorialstudien zu Ă€ndern, die einen differenzierteren Blick auf die Bildungslandschaft im Deutschland des 19. Jahrhunderts ermöglichenâ (12) und zum Beleg vorrangig auf neuere Studien im vorliegenden Band vertretener Autorinnen und Autoren verweisen, dann allerdings darf erstens nach dem Zeitempfinden und zweitens nach dem Umgang mit dem Forschungsstand gefragt werden. Denn seit rund einem Vierteljahrhundert werden Studien vorgelegt, die sich in ihren Analysen der Bildungssystementwicklung keineswegs auf PreuĂen beschrĂ€nken und die im Blick auf den innerpreuĂischen Bildungsraum die komplexen Wechselwirkungen zwischen gesamtstaatlichen, regionalen und lokalen Entwicklungsprozessen und ihren jeweiligen Bedingungskonstellationen herausarbeiten.
Jenseits schmĂŒckender AusfĂŒhrungen zur Globalisierung, zum europĂ€ischen Integrationsprozess, zu Renationalisierungsbestrebungen und zum Wiedererstarken regionaler BezĂŒge und IdentitĂ€ten beschreiben Eckhardt Fuchs und Sylvia Kesper-Biermann als Hauptanliegen des Bandes, im Rahmen vergleichender Analysen der Gestaltung und Wahrnehmung unterschiedlicher âBildungsrĂ€umeâ und âTransferprozesseâ die LeistungsfĂ€higkeit âdes von uns vorgeschlagenen Forschungskonzepts der âBildungsrĂ€umeââ (15 f) vor Augen zu fĂŒhren. Dabei wird nach eigenem Bekunden ein Ansatz verfolgt, der zum ersten bestrebt ist, âdie deutschen Staaten im 19. Jahrhundert als eigenstĂ€ndige Gebilde und handelnde Akteure ernst zu nehmenâ, zum zweiten versucht, âtheoretische Raum- und TransferansĂ€tze, die im Kontext der Ent-Nationalisierung von Nationalgeschichte verfolgt werden, fĂŒr intranationale und interregionale Prozesse zu rekonzeptualisierenâ, und zum dritten âdas Konzept der âBildungsrĂ€umeââ nutzt (11).
Die Auflistung diverser Raum- und Transferkonzepte aus verschiedenen Bereichen der Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften lĂ€sst nicht erkennen, auf welche der doch recht unterschiedlichen Theorieangebote sich das hier vorgeschlagene Konzept in besonderer Weise stĂŒtzt. Aufschlussreicher sind die ErlĂ€uterungen zum Begriff der BildungsrĂ€ume, die verstanden werden sollen âals ein bewusst weites Spektrum von RĂ€umen verschiedener QualitĂ€t und Reichweite. Sie umfassen sĂ€mtliche Teilbereiche des Bildungswesens und können eine lokale, regionale, nationale oder transnationale Ausdehnung haben. So wird es möglich, verschiedene Ebenen, Formen und Funktionen sowie die Beziehungen zwischen BildungsrĂ€umen einschlieĂlich der beteiligten Akteure zu analysieren.â Unterschieden werden dabei drei Kategorien von BildungsrĂ€umen: âDiese können erstens physisch fassbar als GebĂ€ude oder Bildungsinstitutionen sein. Es kann sich zweitens um durch naturrĂ€umliche, verwaltungsmĂ€Ăige oder politische Grenzen markierte geografische Einheiten unterschiedlicher GröĂenordnung (z.B. StĂ€dte, Regierungsbezirke, Staaten) handeln. Der Begriff umfasst drittens Raumwahrnehmungen und -konstruktionen, also die schon angesprochenen mental mapsâ (16). Ein solcherart entgrenztes VerstĂ€ndnis des Bildungsraums öffnet zwar ein breites Einsatzspektrum, lĂ€uft aber Gefahr, dass der Raumbegriff, um eine Formulierung Stephan GĂŒnzels aufzunehmen, âzum Passepartout ohne Notwendigkeitâ wird [1].
Im ersten der insgesamt vier BeitrĂ€ge des Kapitels âRegionenâ beleuchtet David KĂ€bisch die institutionelle und konzeptionelle Entwicklung der evangelischen Religionslehrerausbildung an den drei mitteldeutschen UniversitĂ€ten in Jena, Leipzig und Halle. Die postulierte Bedeutung von BildungsrĂ€umen ist nicht recht ersichtlich, auch wenn âunter Raum kein geographisches Konstrukt, sondern eine mental map verstanden werden sollâ (34). Entsprechend konstruiert muten die BezĂŒge zur Regions- und Raumthematik an. Der eigentliche Ertrag des Beitrags besteht darin, die diversen Konzeptionen der Katechetik und ReligionspĂ€dagogik entgegen gĂ€ngiger Epochalisierungen als Ergebnis individueller theologischer Vorlieben der jeweils maĂgeblichen bildungspolitischen Akteure entlarven zu können.
Am Beispiel des Lehrerbildungsnormativs von 1857 und seiner Neufassung im Jahr 1866 untersucht Johannes Wischmeyer die Leitlinien der Zentralregierung Bayerns zur Reform der Lehrerbildung und zur Professionalisierung der geistlichen Schulaufsicht im Volksschulwesen sowie die diesbezĂŒglichen Reaktionen regionaler und kirchlicher Akteure. Die UnschĂ€rfe der Verweise auf Aushandlungsprozesse und SpielrĂ€ume erschwert eine systematische Analyse des WechselverhĂ€ltnisses zwischen dem um Vereinheitlichung bemĂŒhten bayerischen Kultusministerium und den auf Einflusswahrung bedachten kirchlichen EntscheidungstrĂ€gern. Form und Wirkung der angedeuteten regionalen und konfessionellen Partikularismen bleiben undeutlich. Dass sich in Bayern âkonfessionell bestimmte BildungsrĂ€umeâ (82) ausmachen lassen, ĂŒberrascht im Blick auf das Volksschulwesen wahrlich nicht.
Rosemarie Godel-GaĂner legt eine vergleichende Rekonstruktion der in der zweiten HĂ€lfte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Professionalisierung des weltlichen Lehrerinnenberufs in Baden und WĂŒrttemberg vor. Der Fokus ist auf die direkten und mittelbaren Einflussnahmen von Regierungen und Bildungsadministrationen, von Frauen- und Lehrerinnenvereinen sowie kommunalen und kirchlichen Akteuren gerichtet. HeiĂt es am Anfang des Beitrags, die Wahl des Untersuchungsraums wende sich âgegen die preuĂenzentrierte Schul- und Bildungsgeschichtsforschungâ (87), so lautet das ResĂŒmee: âDie Frage, inwieweit sich WĂŒrttemberg und Baden an preuĂischen Entwicklungen orientierten, kann an dieser Stelle nicht umfassend geklĂ€rt werdenâ (106). So bleibt es bei der vorsichtigen Aussage, âhinsichtlich einer Reihe von Entwicklungsschrittenâ habe âPreuĂen aber eindeutig nicht als MaĂstab fĂŒr sĂŒdwestdeutsche Entwicklungenâ fungiert (106).
Auf der Suche nach âTransfers in das Bildungswesen Sachsensâ (109) vergleicht Hans-Martin Moderow die Seminarordnung von 1857/59, das Realschulregulativ von 1860 sowie das MĂ€dchenschulgesetz von 1910 mit den jeweiligen preuĂischen GegenstĂŒcken, den Stiehlschen Regulativen, der Unterrichts- und PrĂŒfungsordnung von 1859 fĂŒr die realgymnasialen Unterrichtsanstalten und der MĂ€dchenschulreform von 1908. Alle drei sĂ€chsischen Untersuchungsbeispiele offenbaren augenfĂ€llige AffinitĂ€ten, Parallelen und strukturelle Ăquivalente zur preuĂischen Entwicklung, und so zeugt denn der Beitrag von der Schwierigkeit des Verfassers, ostentatives BemĂŒhen um den Nachweis von Differenzen mit einem Aufweis substantieller Unterschiede zu untermauern (vgl. 121). Das Fazit, MaĂstab fĂŒr das Bildungswesen im Königreich Sachsen sei nicht PreuĂen, sondern âder diffuse Diskussionsraum der Ăkumene des deutschen (protestantischen) Bildungswesensâ (127) gewesen, in dem âTransfers nur schwer nachzuvollziehenâ seien, ĂŒberrascht durch eigenwillige Begrifflichkeit und eine die Fallbeispiele ĂŒberwiegend konterkarierende Quintessenz.
Das zweite Kapitel ĂŒber âRegion und Nationâ wird von Klaus Dittrich eingeleitet, der am Beispiel der Weltausstellungen in Paris 1867 und Chicago 1893 der Frage nachgeht, wie die deutschen Staaten ihr Bildungswesen international prĂ€sentierten und ob dabei nach der ReichsgrĂŒndung auf ein gesamtdeutsches Bildungssystem Bezug genommen wurde. Die Pariser Darbietungen PreuĂens und Sachsens werden als Indiz fĂŒr eine gewisse Konkurrenzsituation und zugleich als gemeinsame Zurschaustellung deutscher Ăberlegenheit im Volksschulbereich gedeutet, der deutsche Auftritt in Chicago als Beleg fĂŒr âpreuĂischen SuperioritĂ€tsanspruchâ (147) und preuĂische Ăbermacht â ein Befund, der so gar nicht zur obligaten Kritik am âBorussozentrismusâ der Forschung (134) passen will. Ăber die Konzeption der AusstellungsbeitrĂ€ge und deren Protagonisten informiert der Beitrag allenfalls oberflĂ€chlich. Ăberdies erscheint der Vergleich der Ausstellungen unter der hier verfolgten Fragestellung problematisch: Schwerpunktthema in Paris waren die Volksschulen, in Chicago die UniversitĂ€ten â Bereiche des Bildungssystems also mit gĂ€nzlich unterschiedlichem Bezug zu RegionalitĂ€t und Zentralstaatlichkeit.
Manfred Heinemann schĂ€rft das Bewusstsein fĂŒr die eminente Bedeutung, die die bildungsrechtlichen Grundlagen und ihre jeweiligen Konstellationen fĂŒr die föderative Entwicklung des Bildungssystems und der Bildungsverwaltungen in den deutschen LĂ€ndern wĂ€hrend des 19. und 20. Jahrhunderts besaĂen. Der Beitrag bestĂ€tigt, dass zumal in PreuĂen das Verwaltungshandeln der Bildungsadministration keinem simplen Top-down-Prinzip folgte. In insgesamt dreizehn kurzen und zuweilen etwas unsortiert wirkenden Abschnitten werden KontinuitĂ€tslinien regionaler schul- und bildungspolitischer GestaltungsrĂ€ume bis hin zu den heutigen Formen des âkonstruktiven Föderalismusâ skizziert. KritikwĂŒrdig erscheint freilich die PauschalitĂ€t, mit der âdie Annahme zentralstaatlicher ZustĂ€ndigkeitenâ als âunausrottbares MissverstĂ€ndnis in der Geschichte des preuĂischen Schul- und Hochschulwesensâ (157) zum Quasi-Standard bildungshistorischer Forschung hochstilisiert wird â ein âMissverstĂ€ndnisâ, das der Beitrag durch weitgehende Ausblendung der diese FehleinschĂ€tzung korrigierenden Arbeiten gröĂer erscheinen lĂ€sst, als es ist.
Zu Beginn des unter der Ăberschrift âTransferâ stehenden dritten Kapitels fragt Rebekka Horlacher nach dem Stellenwert, den die Elementarmethode Pestalozzis im Denken und SelbstverstĂ€ndnis der Schulreformer des neu gegrĂŒndeten Königreichs WĂŒrttemberg und in der alltĂ€glichen Arbeit der wĂŒrttembergischen Lehrer und deren Ausbilder im frĂŒhen 19. Jahrhundert einnahm. Anhand ausgewĂ€hlter Briefwechsel gelingt es zu rekonstruieren, wie die beteiligten Akteure die Bezugnahme auf die Methode Pestalozzis zu instrumentalisieren und sich ĂŒber die rĂ€umliche Distanz zur Schweiz mit dem Nimbus der Eingeweihten zu umgeben verstanden. Verdeutlicht wird die Wirksamkeit institutioneller wie personaler InteressengegensĂ€tze, Eitelkeiten und RivalitĂ€ten bei der Konzeptionalisierung und Implementierung von Schulreformen. Von der Ăberhöhung des Erkenntnisgewinns dieses Beitrags durch die Herausgeber (vgl. 20) hebt sich das differenzierte Fazit Rebekka Horlachers wohltuend ab. Sofern ĂŒberhaupt von einem Transferprozess die Rede sein kann, âwar dieser eher geistig und immateriell als materiell und damit bemerkenswert wenig geeignet ein Bildungswesen zu reformieren oder gar aufzubauenâ (206).
Aus seiner Habilitationsschrift von 2008 schöpfend, zeichnet Marcelo Caruso die Rezeption des Bell-Lancaster-Modells des âwechselseitigen Unterrichtsâ und dessen Adaption in der hybriden Form der sogenannten âwechselseitigen Schuleinrichtungâ in den unter dĂ€nischer Herrschaft stehenden HerzogtĂŒmern Schleswig und Holstein wĂ€hrend der 1820er und 1830er Jahre nach. Begrifflich wie unterrichtstechnologisch fungierte die âwechselseitige Schuleinrichtungâ als Kompromiss, der das innovative Potential der Bell-Lancaster-Methode abzurufen erlaubte, ohne die dominant bleibende Orientierung an der deutschen Tradition des âZusammenunterrichtsâ unter der Leitung eines Erwachsenen aufgeben zu mĂŒssen. Die Prozesse der Entlehnung, der âBegriffsreinigung und Hybridisierungâ (213) lassen sich insofern als Beitrag zur InnovationsfĂ€higkeit der traditionellen deutschen Unterrichtsorganisation und zur IdentitĂ€tsbildung der âimaginierten Gemeinschaftâ (226) der Volksschullehrerschaft in den deutschen Staaten werten. Die Analyse regt dazu an, die Kategorien des Eigenen und Fremden wie auch das Spannungsfeld von Universalismus und Partikularismus stĂ€rker als bisher in der Bildungsgeschichte zu berĂŒcksichtigen.
Wie schon in seiner Göttinger Habilitationsschrift untersucht Andreas Hoffmann-Ocon am Beispiel des 1866 von PreuĂen annektierten Königreichs Hannover Formen und Auswirkungen unterschiedlicher Strategien, mit denen die preuĂische Administration gesamtstaatliche Normierungsprozesse im höheren Schulwesen durchzusetzen versuchte. Einmal mehr wird bestĂ€tigt, was Regionalanalysen seit gut zwei Jahrzehnten belegen: Die Diskrepanz zwischen den staatlichen Vorgaben und den Bedingungskonstellationen vor Ort sowie die letztlich unverzichtbare Kooperationsbereitschaft der Kommunen machten das Ausloten konsensualer Lösungsstrategien und die Billigung regionaler Besonderheiten unumgĂ€nglich. Das Wissen um komplexe Steuerungsstrategien hinter der Fassade bildungspolitischer Symbolik entspricht seit den 1990er Jahren ebenso dem Forschungsstand wie der Befund, dass die preuĂische Bildungsadministration mit dem Normaletats fĂŒr die höheren Schulen und dem rechtlichen Konstrukt des Kompatronats ĂŒber zwei wirksame Instrumente verfĂŒgte, um die KrĂ€fteverhĂ€ltnisse zu ihren Gunsten zu verschieben. Inwieweit die Verwendung des system- und steuerungstheoretischen Vokabulars zur Gewinnung neuer Erkenntnisse beitrĂ€gt, wĂ€re zu hinterfragen.
Sylvia Kesper-Biermann lenkt die Aufmerksamkeit auf die ihrer EinschĂ€tzung nach bislang unzureichend ausgewertete Quellensorte der im 19. Jahrhundert verfassten Berichte ĂŒber Besuche von Bildungseinrichtungen und fragt nach der Bedeutung der von den Zeitgenossen so genannten pĂ€dagogischen Reisen fĂŒr die Beschaffung und den Austausch von Informationen. Exemplarisch werden diverse Formen, AnlĂ€sse und VerlĂ€ufe pĂ€dagogischer Reisen sowie Charakteristika der Berichterstattung vorgestellt. Im Fortgang der Schulsystementwicklung verloren die Reisen gegen Ende des Jahrhunderts an amtlicher Relevanz zugunsten persönlicher Fort- und Weiterbildungszwecke. Dass der abschlieĂende Blick auf die Wechselwirkungen zwischen den pĂ€dagogischen Reisen und der Wahrnehmung von BildungsrĂ€umen nachdrĂŒcklich die Bedeutung belegt, die PreuĂen in maĂstabsetzender Weise zukam â im höheren Schulwesen ohnehin und im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend auch fĂŒr die ĂŒbrigen Schulsektoren â das ist in einem Band, der mit besonderer Verve den âBorrussozentrismusâ anprangert, nicht ohne Ironie.
Wie zahlreiche Publikationen dieses Genres prĂ€sentiert auch dieser Tagungsband BeitrĂ€ge unterschiedlicher GĂŒte und zugleich ein breites Spektrum methodischer und thematischer ZugĂ€nge. Man kann das wahlweise als Ausdruck begrĂŒĂenswerter Vielfalt loben oder als Symptom unzureichender KohĂ€renz tadeln. Jenseits solcher BewertungsprĂ€ferenzen lĂ€sst sich bei dem hier in Rede stehenden Band aber eben doch nicht ĂŒbersehen, dass sich die in ihrer analytischen QualitĂ€t und ihrem thematisch-methodischen Zugriff gleichermaĂen stark differierenden BeitrĂ€ge nur mĂŒhsam in den ĂŒberaus groĂzĂŒgig dimensionierten Rahmen des âBildungsraumsâ einpassen. Ihren kleinsten gemeinsamen Nenner finden die BeitrĂ€ge in einem mal engeren, mal loseren Bezug zur Raum- und Transferthematik. Vielerlei Details, die im jeweiligen Entstehungs- und Ursprungskontext der BeitrĂ€ge ihren Stellenwert gehabt haben mögen, verstĂ€rken die HeterogenitĂ€t. Als obligate Themenklammer, so scheint es, hat sich der in nahezu allen BeitrĂ€gen getadelte âBorussozentrismusâ angeboten. Eine systematische PrĂŒfung der eminenten Bedeutung PreuĂens fĂŒr die jeweils thematisierten Facetten regionaler Bildungsentwicklungen in Deutschland wird in den vorliegenden BeitrĂ€gen jedoch gar nicht oder nur ansatzweise geleistet, und insofern vermitteln die in nahezu jedem Beitrag vorgebrachten Beanstandungen der PreuĂenfixiertheit bisheriger Forschung ĂŒberwiegend den Eindruck einer rhetorischen PflichtĂŒbung. Das fĂŒhrt insbesondere in solchen BeitrĂ€gen zu argumentativen Verrenkungen, in denen die explizit verneinte preuĂische Vormachtstellung indirekt bestĂ€tigt wird.
So bietet denn die hier vorgestellte Publikation neben vielerlei Anregungen eben auch Anlass, einmal mehr darĂŒber nachzudenken, inwieweit es sich die Historische Bildungsforschung leisten kann, dass von ihr lĂ€ngst in den Blick genommene â wenn auch lĂ€ngst noch nicht zureichend bearbeitete â Fragestellungen immer wieder âneuentdecktâ werden. Dass der vorliegende Band, wie auf dessen RĂŒckseite zu lesen ist, âerstmals in vergleichender Perspektive die regionale Ebene in das Zentrum bildungsgeschichtlicher Analysen stellt und dabei ĂŒber PreuĂen als allgemeinen Referenzpunkt hinausgehtâ, ist eine werbliche Ăbertreibung, die unter dem Gesichtspunkt des Selbstmarketings opportun erscheinen mag, aber die Historische Bildungsforschung im konkreten Fall deutlich schlechter aussehen lĂ€sst, als sie es ihrem Forschungsstand nach verdient. Im institutionellen Wettbewerb der Teildisziplinen erscheint der Status der Historischen Bildungsforschung nicht von der Art, dass derlei Vermarktungsstrategie zur Regel werden sollte.
Nicht minder problematisch erscheint die Neigung, sich von Konzepten benachbarter Fachdisziplinen in dem MaĂe enthusiasmieren zu lassen, wie man konzept- und methodenkritischen Bestandsaufnahmen der Nachbardisziplinen keine Beachtung schenkt. AuffĂ€llig ist, dass der in diesem Band als Paradigmenwechsel hofierte sogenannte Spatial Turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften (vgl. 9) seit geraumer Zeit keineswegs nur Beifall findet, kritische Sichtweisen und Befunde, wie sie beispielsweise Jörg Döring und Tristan Thielmann (s. Anm. 1) zusammengetragen haben, im vorliegenden Band jedoch konsequent ausgeblendet bleiben.
Die Historische Bildungsforschung leidet ja nicht unter einem Ăberfluss an ertragreichen Regionalstudien und deshalb ist es schade, dass die Mehrzahl der BeitrĂ€ge dieses Bandes das Potential regionalanalytischer Arbeiten nicht oder nur eingeschrĂ€nkt abruft.
[1] GĂŒnzel, Stephan: Spatial Turn â Topographical Turn â Topological Turn. Ăber die Unterschiede zwischen Raumparadigmen. In: Döring, Jörg / Thielmann, Tristan (Hrsg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld: Transcript. 2. Aufl. 2009, S. 219-237 (hier: S. 220, Anm. 6).
EWR 11 (2012), Nr. 3 (Mai/Juni)
Regionen in der deutschen Staatenwelt
BildungsrÀume und Transferprozesse im 19. Jahrhundert
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011
(274 S.; ISBN 978-3-7815-1790-5; 19,90 EUR)
Ulrich G. Herrmann (Bochum)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ulrich G. Herrmann: Rezension von: Fuchs, Eckhardt / Kesper-Biermann, Sylvia / Ritzi, Christian (Hg.): Regionen in der deutschen Staatenwelt, BildungsrĂ€ume und Transferprozesse im 19. Jahrhundert. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 3 (Veröffentlicht am 31.05.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151790.html
Ulrich G. Herrmann: Rezension von: Fuchs, Eckhardt / Kesper-Biermann, Sylvia / Ritzi, Christian (Hg.): Regionen in der deutschen Staatenwelt, BildungsrĂ€ume und Transferprozesse im 19. Jahrhundert. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 3 (Veröffentlicht am 31.05.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151790.html