EWR 10 (2011), Nr. 2 (März/April)

Susanne Lin-Klitzing / David Di Fuccia / Gerhard Müller-Frerich (Hrsg.)
Übergänge im Schulwesen
Chancen und Probleme aus sozialwissenschaftlicher Sicht
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2010
(190 S.; ISBN 978-3-7815-1768-4; 17,90 EUR)
Übergänge im Schulwesen Der zweite Band der 2009 gegründeten Reihe „Gymnasium – Bildung – Gesellschaft“ widmet sich vor dem Hintergrund der Debatte um Bildungsgerechtigkeit den Chancen und Problemen schulischer Übergänge aus einer disziplinenübergreifenden Perspektive mit pädagogischen, psychologischen, politologischen und soziologischen Beiträgen. Die drei Herausgeber (Lin-Klitzing, Di Fuccia, Müller-Frerich) betonen bereits in ihrem Vorwort den Blick auf die mit schulischen Übergängen verbundenen „Chancen in einem differenzierten Schulsystem allgemeiner und beruflicher Bildung, dessen Reichtum international häufig nicht erkannt wird, eben weil ein solches Gesamtkonzept allgemeiner und beruflicher Bildung eher singulär ist“ (7). Die Beiträge sind nach den spezifischen Übergangssituationen gegliedert und beginnen mit dem Übergang vom Elementar- in den Primarbereich (Beiträge von Dollase, Hansel, Beutel). Es folgen Ausführungen zum Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe (Beiträge von Denner, Perleth & Sen, Lehmann) sowie zum Übergang zwischen allgemeinbildenden und beruflichen Schulen (Beitrag von Jongebloed). Im letzten Abschnitt werden mit dem Beitrag von Fend Bildungsverläufe im Erwachsenenalter thematisiert. Das Buch schließt mit einem Gespräch zwischen Klaus Landfried und dem Deutschen Philologenverband zum Thema „Übergänge von der Schule zur Hochschule“.

Dem Band wird ein Aufsatz von Heinz-Peter Meidinger, dem Vorsitzenden des Deutschen Philologenverbandes, vorangestellt, der Übergänge als Merkmal des gesamten Lebenswegs betrachtet. Der Übergang von der Grundschule auf die weiterführenden Schulformen stellt für ihn keine Bedrohung dar, sondern eine Entwicklungsperspektive und Chance, der die Viertklässler mit Vorfreude begegnen. Meidinger unterstreicht die Bedeutung einer hohen Durchlässigkeit insbesondere an den Schnittstellen in der Mittelstufe (24) und befürwortet eine Koppelung der Übertrittsentscheidung an die Noten, ergänzt durch standardisierte Testverfahren und die Berücksichtigung wichtiger Persönlichkeitsmerkmale (25). Die vierte Klasse erachtet er als den richtigen Zeitpunkt des Übergangs in die Sekundarstufe und spricht sich damit gegen eine sechsjährige Grundschulzeit aus (29).

Rainer Dollase eröffnet mit seinem Beitrag den Diskurs über den Übergang vom Elementar- in den Primarbereich und legt den Fokus auf eine individualpsychologische Sichtweise, in der der Übergang als individuelles Anpassungsproblem erscheint. Diesem Zugang stellt er eine soziologische Sichtweise gegenüber, in der der Übergang ein organisatorisches und administrativ zu lösendes Problem ist. Dollase spricht sich u.a. gegen die Früheinschulung aus und führt praktische Möglichkeiten des Personals zum Umgang mit anpassungsproblematischen Kindern („difficult children“) an (38).

Aufgrund der unterschiedlichen Funktionalität von Schul- und Frühpädagogik, dem „Kern des Dilemmas“ (51), sieht Antonius Hansel derzeit eine an pädagogischen und didaktischen Gestaltungsprinzipien orientierte Anschlussfähigkeit zwischen Elementar- und Primarbereich nicht gegeben. Aus der konzeptionellen Divergenz von schul- und frühpädagogischer Bildung und der Überzeugung, dass nicht alle Bildungsinhalte notwendigerweise in der Lebenswelt jedes Kindes vorkommen, betont er die Erfordernis von Instruktion auch in der frühpädagogischen Förderung, woraus er eine auch auf die Vermittlung didaktischer Kompetenz ausgerichtete Neuordnung der Erzieherinnenausbildung fordert (65).

Silvia-Iris Beutel spricht sich für eine differenzierende, lernförderliche Leistungsbewertung im Rahmen schulischer Übergangsentscheidungen aus. Sie stellt an ausgewählten schulischen Beispielen Möglichkeiten der Lerndiagnose und Leistungsbeurteilung dar. Im gegenwärtigen Wandel der Schuleingangsphase sieht sie eine Chance, Elementar- und Primarbereich stärker miteinander zu verknüpfen (70).

Liselotte Denner steigt mit ihrem Beitrag in den zweiten Abschnitt des Bandes „Von der Grundschule in die weiterführenden Schulen“ ein und beschäftigt sich mit der Frage nach den Ursachen eines erfolgreichen Lernens von Zuwandererkindern in der Grundschule. Dabei stützt sie sich auf eine leitfadengestützte Interviewstudie des Projekts „Bildungsteilhabe von Zuwandererkindern“ (BiZuKi), in der Faktoren für hohen oder geringen Schulerfolg aus Kinder-, Eltern- und Lehrersicht erhoben wurden (91). Zentrale Befunde werden aus diesen drei Perspektiven dargestellt und diskutiert. Sowohl die von den Lehrern als auch die von den Eltern identifizierten Faktoren für den Schulerfolg liegen verstärkt auf der Schüler- und Elternseite, während die Qualität des Unterrichts kaum thematisiert und – auffällig deutlich von Lehrern bei leistungsschwachen Schülern – die Bedeutung der Schule für den Bildungserfolg als gering eingeschätzt wird (97).

Der Frage nach der Verlässlichkeit von Prognosen auf der Grundlage von kognitiven Fähigkeitstests, Lehrerurteilen und Elterneinschätzungen für die Wahl der weiteren Schullaufbahn gehen Christoph Perleth und Mitra Anne Sen nach. Sie weisen auf die hohe Stabilität der Intelligenzwerte ab Ende der Grundschulzeit hin und unterstreichen die gute Prognosekraft standardisierter Schulleistungstests für spätere Schulleistungen. Trotzdem müssten bei langfristigen Leistungsprognosen auch Faktoren wie Motivation, Interessen, Arbeitsverhalten etc. berücksichtigt werden (113). Während Noten bzw. Lehrerurteilen am Ende der Grundschulzeit eine immerhin ausreichende Zuverlässigkeit für spätere Schulleistungen zukomme, könnten Elternurteile die Prognosen zwar ergänzen, seien allein aber nicht zur Leistungsprognose geeignet (124).

Rainer H. Lehmann thematisiert in seinem Beitrag „Länger gemeinsames Lernen – erschwert oder erleichtert es den Übergang in weiterführende Schularten?“ vier Leitfragen (130), die er unter Bezugnahme auf die von ihm selbst durchgeführte ELEMENT-Studie sowie die von Jürgen Baumert erfolgte Re-Analyse beantwortet. Er kommt zu dem Schluss, dass der Übergang an das Gymnasium nach Klasse vier für besonders leistungsstarke Schüler Vorzüge biete, während sich für einen beachtlichen Anteil der Schülerschaft – insbesondere bei uneindeutiger und verzögerter Lernentwicklung – eine längere gemeinsame Schulzeit mit qualifiziertem Fachunterricht in Klasse fünf und sechs positiv auswirken könne (137).

Der Beitrag von Hans-Carl Jongebloed bildet den dritten Schwerpunkt des Bandes. Er beschreibt die bereits bestehenden Übergangsmöglichkeiten zwischen allgemeinbildender und beruflicher Schule. Entgegen der Meinung vieler Bildungsforscher stellt Jongebloed heraus, dass die entscheidende Weichenstellung für die je individuellen Bildungswege nicht die Übergangsempfehlung am Ende der Primarstufe sei, sondern die erfolgreich absolvierte Mittlere Reife am Ende der Sekundarstufe I (150).

Unter der Überschrift „Bildungsverläufe im Erwachsenenleben“ verfolgt Helmut Fend im letzten Teil des Buches anhand der Daten der LifE-Studie das Ziel, die Folgen der in der Bevölkerung verbreiteten Einschätzung von erfolgreichen Bildungslaufbahnen am Kriterium des Abiturs zu skizzieren. Auf einer historisch-institutionellen Ebene zeichnet er elterliche Bildungserwartungen und die Entwicklung des Gymnasiums nach (166), während er auf einer biographischen Ebene die individuellen Entwicklungen der Abiturienten und Nicht-Abiturienten u.a. unter dem Gesichtspunkt beleuchtet, welche Kinder einen sozialen „Aufstieg“ und welche einen „Abstieg“ über Bildung erlebten (175).

Die Zusammenschau der Beiträge verdeutlicht, dass es den Herausgebern aus Schule, Fachdidaktik und Schulpädagogik gelungen ist, die Bandbreite schulischer Übergänge aufzuzeigen. Die Schwerpunkte liegen auf dem Übergang vom Elementar- in den Primarbereich und dem Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe. Die Beiträge von Dollase, Hansel und Beutel, in denen zentrale frühpädagogische Fragen, u.a. zu individuellen Anpassungsproblemen beim Übergang, Früheinschulung, Bildungsprozessen und Anschlussfähigkeit diskutiert und argumentativ stringent dargestellt werden, sind lesenswert. Aufschlussreich und weiterführend sind auch die von Denner berichteten Befunde aus der BiZuKi-Studie sowie die auf den Daten der ELEMENT-Studie basierenden Ausführungen von Lehmann. Die von Perleth und Sen aus pädagogisch-psychologischer Perspektive angestellten Überlegungen zur Verlässlichkeit von Prognosen bei der Wahl der weiterführenden Schullaufbahn können für pädagogische Überlegungen in diesem Kontext fruchtbar gemacht werden.

Der Beitrag von Meidinger dagegen mit seinem Plädoyer für einen frühen Übergang nach der vierten Klasse, dem ein „Zauber des Neubeginns“ (21) innewohne, wirkt aufgrund von normativen Behauptungen wenig fundiert. Es wird eher seine Sorge um das Gymnasium als eigenständige Schulform deutlich. Der Beitrag von Jongebloed regt durch seine kritische Betrachtung des veränderten Bildungsbegriffs und des differenzierten Blicks auf das Berufsbildungssystem zum Nachdenken an, greift aber – auch vor dem Hintergrund vorliegender Studien – zu kurz, wenn er den Vorwurf sozialer Disparitäten im Bildungssystem von der Hand weist und im deutschen Schul- und Bildungssystem „eines der […] durchlässigsten Systeme“ sieht, in dem jedem – „völlig unabhängig davon, woher man stammt“ – alle Chancen offen stehen (152). Die Folgen der Bildungswege, die Fend anhand der Daten der intergenerational und längsschnittlich angelegten LifE-Studie nachzeichnet, sind demgegenüber gehaltvoll und schließen eine Forschungslücke.
Sanna Pohlmann-Rother (Bamberg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sanna Pohlmann-Rother: Rezension von: Lin-Klitzing, Susanne / Fuccia, David Di / Müller-Frerich, Gerhard (Hg.): Ãœbergänge im Schulwesen, Chancen und Probleme aus sozialwissenschaftlicher Sicht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 2 (Veröffentlicht am 27.04.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151768-1.html