EWR 8 (2009), Nr. 4 (Juli/August)

Dieter Gröschke
Heilpädagogisches Handeln
Eine Pragmatik der Heilpädagogik
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2008
(271 S.; ISBN 978-3-7815-1638-0; 18,90 EUR)
Heilpädagogisches Handeln Seit einigen Jahren gibt es in der Heil- und Sonderpädagogik einen kleinen Boom von diversen Handbüchern und Einführungen. Demgegenüber sind Arbeiten, die sich mit theoretischen, begrifflichen und konzeptionellen Grundlagen und wissenschaftstheoretischen Begründungsfragen beschäftigen, eher selten geworden. Obwohl man es dem Titel von Dieter Gröschkes neuem Buch nicht auf den ersten Blick ansieht, handelt es sich hier um ein solches Werk. Es versteht sich als Beitrag zur Selbstbeschreibung und Selbstverständigung der Heilpädagogik, die als Praxis und Handlungswissenschaft wissenschaftstheoretisch begründet werden soll. Damit beschreitet Gröschke einen in dieser Form ganz eigenen Weg und setzt einen spannenden Impuls für die Weiterentwicklung grundlagentheoretischer Fragen des Fachs.

Der Vorrang der Praxis spiegelt sich bereits in der Gliederung des Buches. Der Gedankengang wird in drei großen Teilen entwickelt: „Heilpädagogik als Praxis, Profession und Wissenschaft“, „Sprache als Paradigma von Praxis“ und „Heilpädagogische Handlungsgrammatik“. Ausgehend von den Praxisbegriffen ‚Alltag’, ‚Lebenswelt’ und ‚Berufspraxis’ versucht Gröschke, „Heilpädagogik als Wissenschaft mit praxistheoretischen und praxeologischen Begriffen“ (109) zu beschreiben. Unter anderem geht es ihm darum zu zeigen, dass heilpädagogische Professionalität eher Alltagsexpertise als wissenschaftliches Expertentum ist und dass praktisches Handeln nicht primär durch wissenschaftliches, sondern durch praktisches Wissen orientiert ist. Komplementär dazu besteht Gröschke zufolge die primäre Aufgabe der Heilpädagogik als Praxiswissenschaft in der Entwicklung, Überprüfung und Implementierung von Handlungskonzepten – wobei die Begründung dieses Zugangs ihrerseits ein theoretisches Unterfangen ist. Die Begründungsarbeit wird vornehmlich unter Rückgriff auf historische (vor allem ideen-, begriffs- und sozialgeschichtliche), sozialtheoretische und sprachtheoretische Denkfiguren geleistet.

Im Mittelpunkt dieser Theorie steht die Sprache als umfassendes Paradigma menschlichen Handelns. Als ebenso fundierend werden ein kritisches Geschichtsbewusstsein sowie eine ethische und anthropologische Ausrichtung der Heilpädagogik ausgewiesen. Dem kritischen Geschichtsbewusstsein wendet sich Gröschke als erstes zu, und die hierauf bezogenen Überlegungen machen die Originalität seines Ansatzes exemplarisch deutlich. Zwar ist das Projekt der konsequenten Historisierung der Heilpädagogik durch einen sozial-, ideen-, mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Zugang nicht neu, sehr wohl aber die gedächtnistheoretische Grundierung dieses Versuchs. Demnach erfordert Heilpädagogik, die nach Gröschke auch eine „Erinnerungsgemeinschaft“ ist, als Profession und Disziplin die Ausbildung eines historischen Bewusstseins. In Anlehnung an den Philosophen Margalit geht Gröschke noch einen Schritt weiter und stellt heraus, dass solche Erinnerungsgemeinschaften auch „ethische Gemeinschaften“ (40) sind. Wichtig ist dies allein deshalb, weil es einen unauflösbaren Zusammenhang zwischen Gedächtnis, Kollektiven und Identität gibt. Dass Erinnerungen trügerisch sind, ist Gröschke sehr wohl bewusst, etwa durch die Gefahr, die Vergangenheit zu stilisieren und zu mythisieren. Deshalb bedarf die Heilpädagogik, wie Gröschke betont, auch eines (wiederum historischen) Blicks von außen, durch den sie im Sinne Foucaults als Wissens-Macht-Komplex und damit als Dispositiv kenntlich wird.

In dem sehr dichten Text werden eine Reihe von Grundproblemen der Heilpädagogik als Disziplin und Profession diskutiert, etwa die Standortbestimmung zwischen Medizin und Pädagogik, normative und anthropologische Fragen oder, wie bereits erwähnt, die Verstrickung in gesellschaftliche Machtverhältnisse. Diese Grundprobleme werden immer wieder auf die Zentralperspektive des Buchs, die Heilpädagogik mitsamt ihrer sprachlichen und historischen Dimension, aber auch auf aktuelle Entwicklungen, etwa die Ökonomisierungsdebatte, bezogen. Mit dem vorliegenden Buch bewegt sich Gröschke in einem hochkomplexen und theoretisch vielschichtigen Feld. Da es ein theoretisches Projekt verfolgt, stellt sich auch die Frage nach seiner theoretischen Schlüssigkeit. Diesbezüglich wirft das Buch tatsächlich auch Fragen auf.

Zentral scheint mir die folgende zu sein: Gröschke versteht seinen Ansatz explizit als geisteswissenschaftlich (vgl. z.B. 101 ff), greift aber auf einen äußerst heterogenen Fundus von Arbeiten und Positionen zurück, etwa aus der Sozialgeschichte, Phänomenologie, Hermeneutik, Zeichen- und Symboltheorie, Sprachphilosophie, dem Symbolischen Interaktionismus, der Theorie des kommunikativen Handelns und der Philosophischen Anthropologie – um nur einige der wichtigeren zu nennen. Allerdings wird nicht immer deutlich, welchen spezifischen Erkenntnisgewinn das Referieren einer in der Tat beeindruckenden Fülle vornehmlich philosophischer Referenzpunkte für den grundlegenden Gedanken des Buches bringt. Vor allem aber fehlt eine Diskussion darüber, ob und wie sich das teilweise wissenschafts- und erkenntnistheoretisch sowie begrifflich sehr heterogene Material konsistent in eine spezifische Theorie der Heilpädagogik einschmelzen lässt. So implizieren einige von Gröschkes Bezugstheorien beispielsweise höchst unterschiedliche anthropologische und sozialtheoretische Prämissen, von denen keineswegs klar ist, ob sie überhaupt durch ein eher additives miteinander verknüpfbar sind. Trotz der pragmatischen Ausrichtung des Buchs erscheint es theoretisch als nicht unproblematisch, Aristoteles, Kant, Husserl, Plessner, Cassirer, Heidegger, Merleau-Ponty, Wittgenstein, Ricoeur, Levinas, Foucault, Bourdieu, Habermas ohne metatheoretische Reflexionen in eine Theorie einzuschmelzen.

Ein anderer Diskussionspunkt sind Gröschkes Überlegungen zu den Tugenden. Bemerkenswert scheint mir, dass Gröschke in ethischer Hinsicht erneut und aus meiner Sicht völlig zu recht deren große Bedeutung für die Praxis der Heilpädagogik herausstellt. Das ist deshalb bemerkenswert, weil es gegen den Trend in der philosophischen Ethik und im heilpädagogischen Fachdiskurs geht. So spielen Tugenden im heilpädagogischen Professionalisierungsdiskurs (bizarrer Weise, muss man sagen) praktisch keine Rolle. Tugenden – das klingt in zeitgenössischen Ohren nach Fußball („deutsche Tugenden“) oder unzeitgemäßer, säuerlich schmeckender Moral. Wenn aber Heilpädagogik als Praxis auch ethische Aspekte hat, dann scheint es evident, dass diese auch gelebt und verkörpert werden müssen und somit als Tugenden sichtbar werden. Allerdings stellt sich angesichts von Gröschkes eher implizit vorgenommener Gewichtung verschiedener Tugenden auch eine Frage: Warum sind Gelassenheit (96 ff) und Skepsis (155 ff) im Konzert einer Fülle von Tugenden offensichtlich Grundtugenden, nicht aber etwa Wohlwollen oder Gerechtigkeit? Hier fehlt eine klare Begründung für die Priorität der einen Tugenden gegenüber den anderen.

Fazit: Mit diesem Buch treibt Gröschke seine Arbeit der letzten beiden Jahrzehnte voran und legt einen eigenständigen und in einigen Punkten höchst originellen Ansatz vor. Trotz der genannten Kritikpunkte ist zu sagen, dass „Heilpädagogisches Handeln“ ein interessantes, perspektivenreiches, manchmal provokantes und zwischen (wert-)konservativen und radikal-kritischen Positionen schillerndes Buch ist, dem viele Leser und eine kritische, für die Heilpädagogik gewinnbringende Diskussion zu wünschen ist.
Markus Dederich (Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Markus Dederich: Rezension von: Gröschke, Dieter: Heilpädagogisches Handeln, Eine Pragmatik der Heilpädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 4 (Veröffentlicht am 31.07.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151638.html