
Im ersten Teil der Arbeit geht der Autor von dem 1999 aus einer Tagung der Kommission Wissenschaftsforschung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft hervorgegangenen Sammelband mit ersten Versuchen der Rekonstruktion lokaler Wissenschaftskulturen aus, die in der Vielfalt der Ansätze zugleich unübersehbare Unschärfen bei den Leitbegriffen des „Lokalen“ und der „Wissenschaftskulturen“ aufweisen [2]. In Abgrenzung von der lange vorherrschenden Ideen- und Theoriegeschichte der traditionellen Disziplinhistoriographie wird anschließend mit breiten Bezügen auf die Wissenschaftssoziologie das Konzept einer Disziplingeschichte im lokal-institutionellen Kontext als Beitrag zur „’Realgeschichte’ der Disziplin“ entwickelt, in der „theorieexterne, institutionelle und lokale Bedingungsgrößen […] klar im Vordergrund“ stehen, „ohne dass die kognitive Entwicklung unberücksichtigt bleiben muss“ (72, Hervorhebung im Original). Das dabei angewandte, in der Geschichtswissenschaft in den 1980er Jahren insbesondere von Ginzburg/Poni begründete Konzept der Mikrohistorie [3] „definiert sich nicht über die Kleinheit und Überschaubarkeit ihrer Gegenstände, sondern über einen durch einen verkleinerten Beobachtungsmaßstab entstehenden ‚mikroskopischen Blick’, durch den eine mikrohistorische Betrachtung ihre spezifischen Erkenntnismöglichkeiten gewinnt“ (77).
Der wiederholt betonte Bezug mikrohistorischer Disziplinuntersuchungen auf die Gesamtdisziplin, ohne den der Ansatz in einer „lediglich identitätsstiftenden oder auch romantisierenden Disziplingeschichtsschreibung befangen bliebe“ (85), schließt den ersten Teil mit einer Skizze der Expansion der Erziehungswissenschaft, damit verbundenen Differenzierungsprozessen in wissenschaftlich und organisatorisch unterschiedlich profilierte „Milieus“ sowie der einschlägigen Untersuchungen zur Forschung, Lehre und Nachwuchsqualifikation ab.
Nach dieser gelegentlich etwas ausufernden theoretischen Lokalisierung des mikrohistorischen Ansatzes folgt eine überaus materialreiche und tief in Details gehende luzide Analyse der Entwicklung der Erziehungswissenschaft an der Universität Münster. Unterschieden werden die drei Entwicklungsperioden am Beginn des 20. Jahrhunderts, von 1945 bis zum Vorabend der Bildungsreform der 1960er Jahre sowie „Expansion und Differenzierung“ bis in die 1980er Jahre. Ein eigenes Kapitel widmet sich der – wie auch andernorts – konfliktreichen Integration der Pädagogischen Hochschule in die Universität mit dem Ergebnis „getrennter Welten unter einem Dach“ (277ff.). Die Verarbeitung der eingangs erwähnten, für Münster übernommenen Datensätze aus abgeschlossenen anderen Projekten schließt die Arbeit in drei weiteren, vorwiegend empirisch ausgerichteten Kapiteln – immer wieder auch die Gesamtentwicklung mit derjenigen Münsters vergleichend – zur Entwicklung von Lehre, Forschung und Publikationsaktivität der Münsteraner Erziehungswissenschaftler ab.
Hinsichtlich der im Universitätsarchiv sowie (wegen der ministeriellen Gegenakten) im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf untersuchten Einrichtung, Besetzung bzw. Wiederbesetzung von Lehrstühlen (vgl. die gut strukturierte Übersicht, 203) überzeugt der mikrohistorische Ansatz ohne Frage. So werden beispielsweise Berufungsverfahren bis in die Feinheiten ihrer Vorgeschichte hinein rekonstruiert, etwa bei der Empfehlung Alfred Petzelts – damals noch in Leipzig – durch den Caritasverband als ersten Lehrstuhlinhaber an die CDU-Ministerin Christine Teusch mit der anschließenden Warnung des Finanzministers, „von weiterer Übernahme überalterter Beamten und Lehrer aus der Ostzone abzusehen“ (148). Ebenso erhellend die Berufung Ernst Lichtensteins als Petzelts Nachfolger, zu der anhand der Stellungnahmen von Wilhelm Flitner, Theodor Litt und Herman Nohl deren Präferenzen zu den möglichen Kandidaten Albert Reble, Josef Dolch, Fritz Stippel, Josef Derbolav usw. berichtet werden. Diese in der Tat mikroskopische Auflösungstiefe wird bis in die Expansionszeit der späten 1960er Jahre hinein durchgehalten und bis zu den Berufungen auf den dritten Lehrstuhl (Heinrich Döpp-Vorwald) und dem gescheiterten Verfahren für den vierten Lehrstuhl (Saul B. Robinsohn) demonstriert – Herwig Blankertz zufolge hatte das Ministerium die Verhandlungen absichtlich unterminiert.
In seinem Fazit betont Rothland die besondere Rolle der Lehrerbildung als Entwicklungsparameter der Münsteraner Erziehungswissenschaft und verweist zugleich auf die zuvor dokumentierten inneruniversitären Widerstände der mathematisch-naturwissenschaftlichen, aber auch der philosophischen Fakultät gegen pädagogische Anteile im gymnasialen Lehramtsstudium. Ebenso wurde seitens der philosophischen Fachvertreter der Loslösung der Pädagogik von der Philosophie und der Etablierung der Erziehungswissenschaft als eigener Disziplin widersprochen – unterstützt sogar von einzelnen, philosophisch ausgerichteten Erziehungswissenschaftlern. In einem weiteren und weiter ausgreifenden Argumentationsstrang wird abschließend wiederholt die „Kontinuität der Entwicklung“ hervorgehoben, „die die Aspekte des disziplinären Wandels in der Regel überlagert“ (361, Hervorhebung im Original). Diese Diagnose bezieht sich besonders auf die in Münster nach der „’sozialwissenschaftlichen Wendung’“ ausgebliebene empirische Forschungsausrichtung (362) im Vergleich zur Kontinuität der „theoretisch-analytischen Forschungsorientierung“ (363) auf der Basis kleinformatiger Einzelforschung. So gesehen spiegelt die Entwicklung in Münster „mit ihrer tendenziell eher konservativen, zögerlichen Disziplinentwicklung auch weitestgehend die Normalität der Disziplin an den übrigen Universitätsstandorten wider“ (364). Perspektivisch ist Rothland darin zuzustimmen, dass – im Kontrast Münster-Gesamtdisziplin nur schwach ausgeprägte – Entwicklungsunterschiede eher bei Vergleichen zwischen verschiedenen institutionellen Kontexten auf der Mikroebene zu erwarten sind. Hier dürfte gerade die außeruniversitäre Forschung beispielsweise im Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt schon in den 1950er Jahren, anschließend dann vor allem, aber nicht nur des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung einen signifikanten Gegenpol zu der relativ trägen, traditionell eher innovationsfeindlichen Entwicklung an den Universitäten darstellen.
[1] Hauenschild, Helga/Herrlitz, Hans-Georg/Kruse, Birigt (1990): Die Lehrgestalt der westdeutschen Erziehungswissenschaft von 1945-1990 (LEWERZ). Göttingen; Baumert, Jürgen/Roeder, Peter Martin (1990): Expansion und Wandel der Pädagogik. Zur Institutionalisierung einer Referenzdisziplin. In: Alisch, Lutz-Michael et al. (Hg.): Professionswissen und Professionalisierung. Braunschweig. S. 79-128; Keiner, Edwin (1999): Erziehungswissenschaft 1947-1990. Eine empirische und vergleichende Untersuchung zur kommunikativen Praxis einer Disziplin. Weinheim.
[2] Langewand, Alfred/Prondczynsky, Andreas von (Hg.) (1999): Lokale Wissenschaftskulturen in der Erziehungswissenschaft. Weinheim.
[3] Ginzburg, Carlo/Poni, C.: Was ist Mikrogeschichte? In: Geschichtswerkstatt 6 (1985), S. 48-52.