EWR 9 (2010), Nr. 1 (Januar/Februar)

Lothar Wigger
Wie ist Bildung möglich?
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2009
(229 S.; ISBN 978-3-7815-1505-5; 17,90 EUR)
Wie ist Bildung möglich? Seit einigen Jahren bereits lĂ€sst sich in erziehungswissenschaftlichen DiskussionszusammenhĂ€ngen eine Fragerichtung ausmachen, die nicht zuvorderst zu klĂ€ren versucht, was Bildung ist oder sein soll, sondern in den Blick nimmt, wie Bildung ĂŒberhaupt möglich werden kann. Eine solche Fragerichtung plĂ€diert demzufolge auch fĂŒr einen Perspektivenwechsel, der den Bildungsdiskurs vom Niveau hoher und gleichsam abstrakter ‚Feierlichkeit‘ auf die Ebene des Konkreten holt. Es sollen die konkreten Bedingungen von Bildungsprozessen aufgeklĂ€rt und empirische AnschlĂŒsse des Nachdenkens ĂŒber Bildung hergestellt werden. Die hierbei im Mittelpunkt stehende Frage lautet: Wie ist Bildung möglich?

Mit dieser Frage beschĂ€ftigt sich auch der von Lothar Wigger im Jahr 2009 herausgegebene Sammelband. Die hierin abgedruckten BeitrĂ€ge gehen – so wird es in der Einleitung (7-13) des Herausgebers erlĂ€utert – allesamt auf eine Ringvorlesung zurĂŒck, die schon im Sommersemester 2001 an der UniversitĂ€t Dortmund stattfand. Ausgangspunkt dieser Ringvorlesung war es, die Polyvalenz des Bildungsbegriffs sowie die Heteronomie von Bildungstheorie und Bildungsforschung zum Thema zu machen und die Analyse der Bedingungen von Bildung unter der Frage „Wie ist Bildung möglich?“ mit den Mitteln der empirischen Forschung zu diskutieren. Dabei sollten aus der Perspektive unterschiedlicher Wissenschaften und erziehungswissenschaftlicher Teildisziplinen insbesondere Möglichkeiten einer fruchtbaren Relationierung von Bildungstheorie und Bildungsforschung ausgelotet werden, sodass sich sagen lĂ€sst, dass diese Tagung den Beginn einer Reihe von Versuchen markiert, in denen das VerhĂ€ltnis von bildungstheoretischem RĂ€sonieren und empirischem Erforschen auf der Agenda stand [1].

Der Abdruck der BeitrĂ€ge folgt weitestgehend der Chronologie der Ringvorlesung. Eine interne, d.h. ĂŒber das Rahmenthema hinausgehende Binnenstruktur weist der Band nicht auf, was einerseits insofern ein wenig bedauerlich ist, als einige BeitrĂ€ge durchaus in einem engeren sachlichen VerhĂ€ltnis zueinander stehen als andere. Andererseits wird durch die chronologische Abfolge gleichsam die Dramaturgie der Ringvorlesung beibehalten. Wie zur Ringvorlesung, eröffnet deshalb Andreas von Prondczynsky mit dem zwischenzeitlich auch an anderer Stelle [2] publizierten Beitrag „Bildungstheorie – Bildungskritik – Bildungsforschung“ (15-33) die BeschĂ€ftigung mit der Frage, wie Bildung möglich ist. Hauptgegenstand seiner AusfĂŒhrungen ist die Entfaltung einer zweifachen These zum VerhĂ€ltnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung, die er ĂŒber aktuelle Auseinandersetzungen um die Relevanz des Bildungsbegriffs einleitet und an exponierten historischen Stationen verdeutlicht. Die eine These betont das Auskommen der Bildungstheorie ohne Bildungsforschung, weil und insofern bildungstheoretische Konzepte auf den Sachverhalt des Unbestimmten abheben und damit eine prĂ€zise empirische Bestimmung von Bildung verhindern. Mit der anderen These wird die Umkehrung der Relation von Bildungstheorie und Bildungsforschung betont: Bildungsforschung fĂŒhlt sich den Standards der sozialwissenschaftlichen Forschung verpflichtet und ist nicht grundlegend bildungstheoretisch motiviert. Vor allen Dingen die erste These diskutiert von Prondczynsky ausfĂŒhrlich und rekurriert dazu auf die bildungstheoretischen EntwĂŒrfe von Wilhelm von Humboldt, Friedrich Nietzsche und Theodor W. Adorno, wobei er auch die jeweiligen Wandlungen der Bildungssemantik fokussiert. Als frĂŒhe Vermittler zwischen Bildungstheorie einerseits und Bildungsforschung andererseits werden zudem die Konzeptionen von Friedrich Paulsen und Aloys Fischer ins Feld gefĂŒhrt. Bei Paulsen finde man – so von Prondczynsky – „eine FĂŒlle von Fragen angeschnitten, die spĂ€ter dann von der empirischen Bildungsforschung thematisiert werden“ (26). Und Fischers PĂ€dagogische Soziologie verweise „vorgreifend auf interaktionistische und ethnografische Beobachtungen und DeutungsansĂ€tze beispielsweise von schulischer und Klassenraumsozialisation“ (27). War in diesen beiden Programmen die Theorie der Bildung als ‚pĂ€dagogisches Essential‘ jedoch noch eingebunden, so verliere sich ihre Spur in der Erziehungswissenschaft als empirisch forschender Sozialwissenschaft. Neue VerknĂŒpfungsanstrengungen gibt es – darauf verweist von Prondczynsky abschließend – derweil jedoch durch die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung, die das Anliegen verfolgt, „die Unbestimmtheit des Bildungsbegriffs mit Bezug auf zeitgenössische Bildungsprozesse empirisch“ (32; Hervorh. i. O.) zu bestimmen und dazu nolens volens einen neuerlichen Wandel der Bildungssemantik vornimmt.

Wie sich ein solches Anliegen konkret gestaltet, demonstriert Hans-Christoph Koller in seinem Beitrag „Der klassische Bildungsbegriff und seine Bedeutung fĂŒr die Bildungsforschung“ (24-51). Darin verfolgt er die Frage, wie eine Thematisierungsform von Bildung möglich ist, die sowohl den begrifflich-konstruktiven als auch den empirisch-deskriptiven Zugang miteinander verknĂŒpft, ohne jedoch jeweilige Eigenlogiken bzw. kategoriale Differenzen zu ignorieren. Er sucht also nach einer VerknĂŒpfungsstrategie, die einer „wechselseitigen ErgĂ€nzung, Infragestellung und Weiterentwicklung“ (45) von Bildungstheorie und Bildungsforschung Rechnung trĂ€gt. Dazu prĂŒft er am Beispiel der Bildungstheorie von Humboldts in einem ersten Schritt, inwieweit diese gegenwĂ€rtig und angesichts verĂ€nderter gesellschaftlicher Herausforderungen noch als Orientierungskategorie fĂŒr bildungstheoretische Überlegungen brauchbar ist. Plausibilisiert wird dabei, dass eine AktualitĂ€t des Bildungsdenkens von Humboldts vor allem in Bezug auf dessen Anerkennung der PluralitĂ€t von Sprachen und Sprechweisen zu sehen ist, da durch eine dialogische Auseinandersetzung mit fremden Sprachen und Sprechweisen bestehende individuelle Selbst- und Weltsichten erweitert oder sogar transformiert werden können. In einem zweiten Schritt werden Verbindungen zur empirischen Erforschung tatsĂ€chlicher Bildungsprozesse gezogen, indem die Bedeutung dieses Bildungskonzepts fĂŒr die Bildungsforschung am Beispiel der Erforschung biographischer Bildungsprozesse von Migranten aufgezeigt wird. In der kurzen Rekonstruktion der Lebensgeschichte einer zweisprachig aufgewachsenen jungen Frau arbeitet Koller drei verschiedenartige Umgangsweisen mit sprachlichen Differenzerfahrungen heraus, die zugleich als Dimensionen eines Bildungsprozesses verstanden werden: reine Anpassung an die Sprache der ‚Ankunftsgesellschaft‘, Wahrung der sprachlichen PluralitĂ€t und kreative Hervorbringung einer individuell begrĂŒndeten Auswahl.

Peter Lundgreen wandelt auf den Spuren der Historischen Bildungsforschung, wenn er zum VerhĂ€ltnis von Bildung und BĂŒrgertum seit dem 18. Jahrhundert referiert und damit die Frage „Wie war Bildung möglich?“ (52-65) zu beantworten versucht. Dazu zeigt er nicht nur auf, auf welche Weise die meritokratische Rekrutierung der Beamten im 18. Jahrhundert konstitutive Merkmale der bĂŒrgerlichen Leistungsgesellschaft prĂ€figurierte. Er macht auch deutlich, inwieweit dieser Rekrutierungsmodus bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf eine neuhumanistische Bildungs- und Schulkarriere aufbaute, wodurch Bildung zu einem Parameter wurde, durch den Zugangsberechtigungen ĂŒberprĂŒfbar und Allokationen normiert wurden. Dass dann im Zuge der Bildungsexpansion der 1960er Jahre eine starke Inflationierung von Bildungstiteln und -patenten stattfand, die die bis dahin vorhandene enge Kopplung von Berechtigung und Berufszugang brĂŒchig werden ließ, deutet er als ausschlaggebend dafĂŒr, dass das BildungsbĂŒrgertum in eine eklatante Krise geraten ist.

Der Marburger Literaturwissenschaftler York-Gothart Mix setzt sich mit dem bildungskritischen Diskurs im Schulroman der frĂŒhen Moderne – gemeint ist die Zeit um 1900 – auseinander. Der Titel seines Beitrags lautet: „LiterarizitĂ€t und reformpĂ€dagogischer Impetus“ (66-81). Einerseits beleuchtet er darin die kulturellen AnlĂ€sse von literarischen Werken wie Frank Wedekinds FrĂŒhlings Erwachen oder Hermann Hesses Unterm Rad, die nach Mix „die aus den jeweiligen Gemeinschafts- und MachtverhĂ€ltnissen erwachsenden Rollen- und IdentitĂ€tskonflikte vor dem Hintergrund der dominierenden Leitbilder, Mittel und Absichten öffentlich sanktionierter Erziehungs- und Bildungsvermittlung“ (69) erhellen. Andererseits inspiziert er auch die zeitgenössische Rezeption dieser und weiterer Werke, die mit der Gattungsbezeichnung Schul- bzw. Erziehungsroman um 1900 zu einem literarischen Modethema avancierten. Hier bezieht er seine Betrachtungen insbesondere auf reformpĂ€dagogische Debatten der Wilhelminischen Zeit. Zugleich arbeitet er auf diese Weise sowohl Gemeinsamkeiten als auch substantielle Unterschiede zwischen literarisch und reformpĂ€dagogisch konnotierten bildungskritischen Einlassungen heraus. Gemeinsam ist den Einlassungen etwa eine „Remystifizierung des NatĂŒrlichen“ (78), die bis in die gegenwĂ€rtige Kulturkritik fortwirkt. Unterschiede lassen sich seines Erachtens hingegen feststellen, wenn es um den jeweiligen Anspruch des Ästhetischen geht, da Schul- und Erziehungsromane – trotz zumeist vorhandener autobiographischer BezĂŒge – immer als narrative Fiktionen zu verstehen sind.

An die davor von Lundgreen hervorgebrachten Analysen knĂŒpft in gewisser Weise der Beitrag von Sigrid Metz-Göckel an, in welchem der Prozess der Bildungsexpansion vor dem Hintergrund sozialstruktureller und geschlechtlicher Ungleichheit bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts eingehender betrachtet wird. Die leitende Frage von Metz-Göckel ist: „Welche Bildung und fĂŒr wen?“ (82-102). Dabei ist sie bestrebt, die soziale AbhĂ€ngigkeit von Bildung aufzuzeigen, wozu sie mit Rekurs auf den Etikettierungsansatz nicht nur eine interaktionistische Lesart als Theorierahmen eröffnet, sondern auch eine FĂŒlle an statistischen Zahlen sowie empirischen Befunden heranzieht. Leider wurden – wie auch in allen anderen BeitrĂ€gen – diese Daten fĂŒr die Veröffentlichung des Vortrags nicht aktualisiert, sodass die neuesten Angaben aus dem Jahr 2001 stammen. An der „Beharrlichkeit sozialer Ungleichheitsstrukturen“ (88), die anhand des Übergangs ins Studium, dem Studienerfolg sowie dem Zusammenhang von Geschlecht und Studium illustriert werden, Ă€ndert das allerdings nichts.

Andreas Gruschka nimmt in seinem komplexen Beitrag „Unvermeidbar oder ohnmĂ€chtig“ (103-134) Thesen zum Bedeutungswechsel der Bildung in den Blick und untersucht, was heute von der klassischen Bildung ĂŒbrig geblieben ist. Dazu diskutiert er zuerst die im Kontext einer Reaktivierung traditioneller Bildung zu verstehenden Positionen von Dietrich Schwanitz und Helmut Peukert, die er antithetisch gegenĂŒberstellt und mittels derer er zu einer Diagnose gelangt, die den Bedeutungs- und Funktionsverlust des traditionellen Bildungsideals als soziokultureller Leitvorstellung herausstellt. Seine Analysen sowie aus Politik, Wirtschaft und Medien herangezogene Beispiele untermauern dabei jedoch nicht nur den Befund, dass die „Faszination der ĂŒberkommenen Bildung“ (127) nicht wieder hervorgebracht werden kann – auch und gerade nicht durch Versuche, wie sie Schwanitz mit einem „populistischen Reader’s Digest der Bildung“ (105) oder Peukert mit einem hoffnungsbesetzten Konzept zur Zukunft der Bildung verfolgen. Sie betonen auch, dass es gegenwĂ€rtig insgesamt zu einer sozialen BedeutungsverĂ€nderung von Bildung, Halbbildung und Unbildung komme. Wie angesichts der beschriebenen ZustĂ€nde dennoch einer „kritischen Bildung, die die konsequente Konfrontation mit den WidersprĂŒchen der Welt betreibt“ (128), Rechnung getragen werden kann, wird von Gruschka durch den Entwurf verbindlicher Voraussetzungen sozialer wie auch methodischer Art im organisatorischen Handeln der Schule markiert. Dass dabei „eine strategische Allianz mit dem ehemaligen Gegner: der Halbbildung“ (133) zum Tragen kommt, ist durchaus das Überraschende dieser im Geiste Kritischer Theorie gefĂŒhrten Überlegungen.

Neue Vergemeinschaftungsformen sind der gemeinsame Bezugspunkt der BeitrĂ€ge von Ronald Hitzler und Winfried Marotzki. Hitzler fragt im Beitrag „Spaß-Verpflichtung und Moral-VerfĂŒhrung“ (135-150) in einem wissenssoziologischen sowie modernisierungstheoretischen Zugriff, wie es im Rahmen neuartiger, sogenannter posttraditionaler Vergemeinschaftungsformen dazu kommt, dass den eigensinnigen Relevanzsetzungen von Individuen in spĂ€tmodernen Gesellschaften so entsprochen wird, dass sich jene als „Kultur-Wert-Produzenten“ (135) und „Moral-Erziehungs-‚Anstalten‘“ (ebd.) formieren. Dazu richtet er sein Augenmerk auf drei Jugendszenen, die Techno-, Hip-Hop- und Gothic-Szene, und zeigt auf, inwiefern diese sich durch ihre jeweilige Konsensmoral voneinander unterscheiden. Dabei macht er auch deutlich, dass die szenekonsensuellen Moralismen in einem ‚unsichtbaren‘ Bildungsprogramm der Jugendszenen inkorporiert sind. Marotzki widmet sich demgegenĂŒber Vergemeinschaftungsprozessen im Internet und untersucht „Bildung in virtuellen Welten“ (151-167). Er geht von der These aus, dass mit dem Internet ein neuer Kultur- und Bildungsraum besteht, der ĂŒber eine Neukonfiguration des Sozialen auch eine verĂ€nderte Konstitution von SubjektivitĂ€t mit sich bringt. Anhand von Online-Communities, die als ProjektionsflĂ€che fĂŒr neue Formen von Vergemeinschaftung vielfach anziehend wirken, diskutiert Marotzki Konsequenzen fĂŒr das Selbst-, Fremd- und WeltverhĂ€ltnis von Menschen. Dabei verdeutlicht er nicht nur, dass Online-Communities Chancen fĂŒr eine basisdemokratische Partizipationskultur bereithalten. Er sieht auch mögliche Bildungseffekte, nĂ€mlich Flexibilisierung und Steigerung von ReflexivitĂ€t, weshalb es seines Erachtens auch erforderlich ist, die virtuellen Welten als einen neuen pĂ€dagogischen Gestaltungsraum zu erschließen.

Die biowissenschaftlichen Voraussetzungen von Bildung stehen im Zentrum der Überlegungen von Annette Scheunpflug. In ihrem Beitrag „Bildung in einer natĂŒrlich determinierten Welt“ (168-184) nimmt sie die Schwierigkeiten der Erziehungswissenschaft im Umgang mit den Biowissenschaften kritisch in den Blick und demonstriert, dass zentrale pĂ€dagogische Kategorien mittels biowissenschaftlicher Erkenntnisse reformuliert und empirisch gesĂ€ttigt werden können. Ausgehend von dem biologischen Modell der genzentrierten Entwicklung, das die Bedeutung der genetischen Anlagen fĂŒr die Erfassung und Verarbeitung von Umweltinformationen herausstellt, diskutiert sie verschiedene „Impulse fĂŒr die Bildungstheorie“ (173). Dabei kommt sie zu dem Befund, dass sich wichtige Muster der Bildungstheorie „vor dem Hintergrund naturwissenschaftlich fundierter anthropologischer ZusammenhĂ€nge, wie sie die Biologie beschreibt, darstellen“ (181) und fĂŒr eine erziehungswissenschaftliche Theoriebildung fruchtbar machen lassen. Eben deshalb endet der Beitrag auch mit einem PlĂ€doyer, in welchem einer selbstbewussten Rezeption der biowissenschaftlichen Befunde in erziehungswissenschaftlichen DiskussionszusammenhĂ€ngen Ausdruck verliehen wird.

Im Beitrag „Bildende Fremdheit“ (185-200) von Alfred SchĂ€fer wird Bildung – im Kontrast zu Erziehung und Sozialisation – als ein „Möglichkeitsdenken“ (187) gedeutet, da es Entwicklungsprozesse unter dem Gesichtspunkt der Ermöglichung gelingender Subjektivierung betrachtet. Angaben ĂŒber ein operationales Ziel können mit ihm indes nicht erlangt werden. Gleichwohl ist in diesem Möglichkeitsdenken der Erfahrungsbegriff bzw. eine bestimmte Konzeption von Erfahrung von enormer Bedeutung. SchĂ€fer diskutiert diese Bedeutung anhand des Zusammenhangs von Fremdheit und Bildung, wozu er sich auf seine seit den 1990er Jahren in Afrika betriebenen und unter dem Terminus „Bildungsethnologie“ gefassten Studien beruft. Diese gehen davon aus, dass Prozesse des Aufwachsens sowie als pĂ€dagogische Verhaltensweisen wahrgenommene Aktionen in anderen Kulturen gemĂ€ĂŸ der dort vorherrschenden Sinnbestimmungen untersucht werden mĂŒssen. Das jedoch ist alles andere als unproblematisch, da ‚Bildungsprozessen‘ in anderen Kulturen ein differentes Selbst- und WeltverhĂ€ltnis entspricht. Anhand ausgewĂ€hlter bildungsphilosophischer Analysen um die Themen Freundschaft, Respekt, Scham, NĂ€he etc. macht SchĂ€fer im Verlauf seiner Argumentation eindrĂŒcklich deutlich, „dass der Andere nicht nur das Gleiche anders denkt, sondern anders ‚ist‘“ (199). Es besteht deshalb sogar eine uneinholbare Differenz zum Selbst- und WeltverstĂ€ndnis der Fremden.

Im letzten Beitrag, in dem Heinz-Elmar Tenorth der Frage „Bildungstechnologie – mehr als ein Oxymoron?“ (201-227) nachgeht, werden Vorbehalte der pĂ€dagogischen Zunft gegenĂŒber der VerknĂŒpfung von Bildung und Technologie zum Anlass genommen, um die These zu plausibilisieren, dass die PĂ€dagogik „ihre Spezifik als Praxis und Reflexion darin hat, dass man sie als Bildungstechnologie rekonstruieren kann“ (202). Dazu legt Tenorth ein BegriffsverstĂ€ndnis des ‚Bildungsbetriebswirts‘ Gerhard E. Ortner zu Grunde und demonstriert, wie sehr Bildungstechnologie als die Lehre von den Verfahren (Prozessen, Instrumenten, Strukturen), mit deren Hilfe man jemanden, im Grenzfalle sich selbst, bilden kann, zum grundlegenden Repertoire der PĂ€dagogik gehört. Verdeutlicht wird dies anhand von historischen Beispielen, die sich auf den Unterricht in Schulen, auf die Konstruktion von Lernumgebungen sowie auf die sonderpĂ€dagogischen Prinzipien der Einwirkung und Selbstwirksamkeit beziehen. Den Grund dafĂŒr, warum in rebus paedagogicis dennoch weithin die semantische NĂ€he zur Technologie vermieden wird, sieht Tenorth derweil in der Berufssituation der Profession: „Die Abwehr von Technologie erlaubt nicht nur die souverĂ€ne Disposition ĂŒber die Ursachen von Erfolg und Misserfolg und damit die Abwehr bescheidener Erwartungen, sondern auch die Übersteigerung von Versprechen.“ (223)

Mittels verschiedener Zugriffe auf die leitende Frage „Wie ist Bildung möglich?“ wird der von Lothar Wigger herausgegebene Band seinem Anspruch gerecht und demonstriert, wie es gelingen kann, Perspektiven der Bildungstheorie und Bildungsforschung so zu vereinen, dass sie – statt sich diametral gegenĂŒber zu stehen – konstruktiv miteinander ‚interagieren‘. Die Veröffentlichung der auf der Ringvorlesung gehaltenen VortrĂ€ge ist dabei als ein genuin historisches Dokument zu begreifen. Denn beschĂ€ftigt wird sich mit dem Diskussionsstand bis zum Jahr 2001; die jĂŒngere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Problemfeld wird nicht erschlossen. Auch weist der Band zwei Schwierigkeiten auf. Die erste Schwierigkeit bezieht sich auf eine grundlegende Intention des Sammelbands. Behauptet wird, dass es dem Band „nicht um neue Antworten auf die Frage „Was ist Bildung?“, um Ideen oder Ideale“ (8) der Bildung gehe, sondern ausdrĂŒcklich und ausschließlich um die Beantwortung der leitenden Wie-Frage. Dabei zeigt sich allerdings, dass die Frage, wie Bildung möglich ist, nur dann beantwortet werden kann, wenn eine Idee darĂŒber existiert, was Bildung ĂŒberhaupt meint. Und alle Autorinnen und Autoren operieren in ihren BeitrĂ€gen freilich – mal expliziter, mal impliziter – mit einem spezifischen BildungsverstĂ€ndnis, das sie zu Grunde legen (mĂŒssen), um die Wie-Frage zu beantworten. So wird Bildung von Koller etwa bezeichnet als die „Erweiterung des bisherigen Welt- und SelbstverhĂ€ltnisses“ (44), die ĂŒber die Konfrontation mit anderen Sprachen und Sprechweisen erfolgt. FĂŒr Metz-Göckel ist sie ein „Prozess der Aneignung kultureller Traditionen“ (83), der soziale Ungleichheiten aufweist. Und fĂŒr Marotzki zeichnet sich Bildung durch eine „Flexibilisierung und Steigerung von ReflexivitĂ€t“ (159) aus. Mit dem Umstand, dass die Wie-Frage also notgedrungen mit einer Was-Perspektive und konkreten kategorialen Angaben zu verknĂŒpfen ist, damit sinnvolle Antworten gegeben werden können, hĂ€tte man m.E. durchaus offensiver umgehen können – zumal hiermit wichtige Fragen um Probleme der BegrĂŒndung und Rechtfertigung einer Kontextualisierung von Theorie und Empirie angesprochen sind. Die zweite Schwierigkeit bezieht sich indes auf die in den einzelnen BeitrĂ€gen verwendeten Bildungsbegriffe und die hieran anschließenden empirischen Studien. Diese weisen insgesamt eine sehr große HeterogenitĂ€t auf, da sich die Autorinnen und Autoren z.T. auf sehr unterschiedliche TheoriestrĂ€nge beziehen. Auf diese Weise wird nun zwar sicherlich der Facettenreichtum dargestellt, den Redeweisen ĂŒber Bildung mit sich bringen. Auch die verschiedenartigen empirischen AnschlĂŒsse werden deutlich. Dass andere Umgangs- und Verfahrensweisen nicht nur möglich, sondern mit großem Gewinn realisierbar sind, sollte jedoch durchaus erwĂ€hnenswert sein [3]; auch und gerade vor dem Hintergrund der von Lothar Wigger in der Einleitung getroffenen Aussage, dass ein „einheitlicher Bildungsbegriff [
] bei so unterschiedlichen HerkĂŒnften und Herangehensweisen nicht vorausgesetzt“ (8) werden könnte.

Dass die BeitrĂ€ge dieser Ringvorlesung nach acht Jahren nun in einem Band verfĂŒgbar gemacht werden, ist dennoch als sehr erfreulich zu werten: NĂ€mlich deshalb, weil auf diese Weise – wie es auch der Herausgeber in der Einleitung formuliert – „Gedanken und BeitrĂ€ge am Beginn einer wichtigen Diskussion“ (12) lebendig gehalten werden, zum Durch- und Weiterdenken einladen und den Anstoß zu weitergehenden Arbeiten im Kontext eines Forschungsgebiets, das sich durch die PluralitĂ€t der Zugangsweisen und Perspektiven auszeichnet, liefern können.

[1] Siehe hierzu z.B. auch die Besprechung des Bands „Bildungsphilosophie und Bildungsforschung“ (hg. von Ludwig Pongratz / Michael Wimmer / Wolfgang Nieke): http://www.klinkhardt.de/ewr/93807633.html
[2] Prondczynsky, Andreas von: „Bildungstheorie – Bildungskritik – Bildungsforschung. Zum Wandel der Bildungssemantik“. In: Zeitschrift fĂŒr Philosophie und Sozialwissenschaften 2. Jg. (2006), H. 2, S. 7-36. http://www.uni-flensburg.de/philosophie/PDF_Daten/ZPS_2.1.pdf
[3] Vgl. Koller, Hans-Christoph / Marotzki, Winfried / Sanders, Olaf (Hg.): Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung, BeitrÀge zu einer Theorie
transformatorischer Bildungsprozesse. Bielefeld: transcript 2007. Siehe auch die Besprechung unter: http://www.klinkhardt.de/ewr/9783899425.html
Thorsten Fuchs (Gießen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Thorsten Fuchs: Rezension von: Wigger, Lothar: Wie ist Bildung möglich?. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 1 (Veröffentlicht am 05.02.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151505.html