Für wenig andere Begriffe kann in den aktuellen erziehungs- und sozialwissen-schaftlichen Debatten und Diskursen eine ähnliche Popularität und Auseinander-setzungsaffinität festgehalten werden, wie das für Relationalität konstatiert werden kann. Die systematisch-theoretische Arbeit an diesem Begriff ist dabei vielfältig. Seine Verwendung allein beantwortet dabei aber noch nicht die sich darüber erge-benden Fragen danach, welche Relationen in den Blick genommen, welche Dicho-tomien darüber aufgelöst und was genau in einer solchen Perspektive relationiert werden soll.
Eine mögliche Antwort bietet der von Björn Kraus vorgelegte Band „Relationaler Konstruktivismus – Relationale Soziale Arbeit. Von der systemisch-konstruktivistischen Lebensweltorientierung zu einer Relationalen Theorie Sozialer Arbeit“. Beantwortet werden die Fragen zum einen über eine erkenntnistheoretische Positionierung, zum anderen über eine sich darüber konstituierende, theoretisch-konzeptionelle Auseinandersetzung mit Sozialer Arbeit.
Der Band, der sich als Zusammenführung und -fassung verschiedener Einzelbei-träge, Veröffentlichungen und Publikationen des Autors beschreiben lässt, stellt sich als Ergebnis der bereits in den 1990er Jahren beginnenden Auseinanderset-zungen des Autors mit konstruktivistischen Theorien sowie einer intensiven Be-schäftigung mit den Maximen des Konzepts der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit dar. Ausgangspunkt dieser Überlegungen, so leitet Kraus die Leser*innen ein, sind zwei unterschiedlich gelagerte Erkenntnisinteressen: Die Erkenntnis- und Interaktionsbedingungen des Individuums in der Welt sowie die Konstitution von Sozialer Arbeit in Verbindung mit der Frage danach, was sie ist, was sie sein sollte und was sie überhaupt sein kann.
Resultat dieses Erkenntnisinteresses ist ein Buch, das einen anspruchsvollen Bei-trag, nicht nur für eine epistemologische Debatte über die Frage nach der An-schlussfähig- und Weiterentwicklungsfähigkeit (radikal) konstruktivistischer Positi-onen leistet. Vielmehr legt der Autor mit seiner Konzeptualisierung einer Relationa-len Sozialen Arbeit auch einen Beitrag zu ihrer Theoriebildung vor, der sich im Schnittfeld von erkenntnistheoretischer Fundierung, Praxisbezug und disziplinärer Selbstbegründung bewegt. Der Gewinn des Bandes, eine systematisch geschlos-sene Ausarbeitung dieser Perspektive zu leisten und sie auf den Ansatz der Le-bensweltorientierung zu beziehen, kann gleichzeitig aber auch als seine Schwäche ausgelegt werden. So entwirft Kraus die spezifische Argumentationsfigur des Rela-tionalen Konstruktivismus zumindest zum Teil auch auf Kosten der Anschlussfä-higkeit an andere, die Möglichkeiten und Grenzen der Theoriebildung und Gegen-standkonstitution von Sozialer Arbeit grundsätzlicher hinterfragende und reflektie-rende Perspektiven [1] [2].
Innerhalb des Buches entfaltet Kraus so ein spezifisches Deutungsangebot das sich in den einzelnen Beiträgen in unterschiedlichen Fokussierungen ausdifferen-ziert. Dabei folgt der Aufbau dem vom Autor formulierten Anliegen sich vom Allge-meinen dem Spezifischen zuzuwenden. So ergibt sich eine Sortierung der sieben Aufsätze und zwei Exkurse, die sich zunächst mit den grundlagentheoretischen Überlegungen, der erkenntnistheoretischen Positionierung sowie den daraus fol-genden Prämissen und Differenzierungen hinsichtlich von Kommunikation, Inter-aktion und Macht befassen. Diese führen im Anschluss zu einer systemisch-konstruktivistischen Konzeptualisierung von Lebenswelt und Lebenslage sowie der Dimension von Hilfe und Kontrolle innerhalb der Sozialen Arbeit (Kapitel 1), um sich in einem nächsten Schritt der Sozialen Arbeit als Wissenschaft und Praxis (Kapitel 2) zuzuwenden.
Korrespondierend mit dem Aufbau wird bereits im ersten Beitrag die grundlegende Perspektive des Relationalen Konstruktivismus eröffnet, in der Kraus auch deren Einordung vornimmt. Er formuliert seine Perspektive so zum einen in Abgrenzung zur solipsistischen Position, und setzt damit sowohl Subjekte als auch Umwelten in ihren jeweiligen Existenzen und Relationen voraus. Es geht ihm mit Relationalität also nicht um die Dezentrierung oder Auflösung von Subjekten und Umwelten. Zu-gleich soll damit aber auch keine substantialistische Setzung von Entitäten und Re-lationen vorgenommen werden, gegen die er sich in konstruktivistischer Manier un-ter Bezug auf die grundlegende Beobachter*innenabhängigkeit von Aussagen verwahrt. Durch die Fokussierung auf Subjekte, Umwelten und ihre Relationen, werden Relationen zwar als Aushandlungsräume denkbar. Die Frage nach dem „Wie“ und in einer nicht-substantialistischen, relationalen Perspektive auch nach den Konstitutionsprozessen von Subjekten, ihrer Positionen und Rahmenbedin-gungen – in ihrer gegenseitigen Hervorbringung – wird dabei aber nicht in konse-quenter Weise gestellt, bzw. bleibt augenscheinlich unbeantwortet.
Seine Position wird demnach zum einen als Binnenkritik gegenüber subjektivisti-schen Verkürzungen (radikal) konstruktivistischer Perspektiven ausgewiesen. Zum anderen formuliert er diese aber auch als Antwort auf die den Ansätzen dieser Pro-venienz entgegengebrachte Kritik der Machtblindheit und subjektivistischen Über-höhung. Damit wird ein Verständnis von Subjektivität artikuliert, das Subjekte als erkennend und handeln positioniert, sich aber der „Befangenheit in der Subjektper-spektive“ (19) und darüber vermittelter Verantwortungsindividualisierung durch den Bezug auf Rahmen- und Interaktionsbedingungen, und damit wiederum auf Relati-onalität, zu entziehen versucht. Kraus erkenntnistheoretische Position, auf die er sich innerhalb des Bandes bezieht, formiert sich so über die Betonung des subjekti-ven Eigensinns und dem Festhalten an der operationellen Geschlossenheit menschlicher Kognition. Die individuellen Lebenswirklichkeiten werden darin als subjektive, von außen nicht determinierbare Konstruktionen ausgewiesen. Zugleich werden diese Konstruktionsleistungen, über die Konzepte der strukturellen Kopp-lung und Viabilität, an ihre Umwelten gebunden, was diese zwar als subjektiv ge-schlossene aber eben nicht als beliebige erscheinen lässt.
Eine spannende Ausdifferenzierung erfährt die Perspektive in dem Beitrag „Macht-Hilfe-Kontrolle“. Die darin artikulierten machttheoretischen Überlegungen fassen Macht als soziales Phänomen und damit als Durchsetzungspotenziale in sozialen Relationen, welche Kraus im Horizont der Unterscheidung von „instruktiver und de-struktiver Macht“ ausdifferenziert. Dabei wird „instruktive Macht“ als abhängig von der Unterwerfung des Eigensinns der Subjekte, „destruktive“ – durch das Vorenthal-ten von Möglichkeiten – als unabhängig von diesem denkbar. Erarbeitet wird eine Machtkonzeption, die einerseits anschlussfähig an konstruktivistische Positionen ist. Anderseits wird sie, der Weberschen Definition folgend, immer durch einen in-tentionalen Willen und somit primär als repressiv verstanden. Die Gleichzeitigkeit von Repression und Produktivität, wie sie im Anschluss an andere (macht)theoretische Perspektiven denkbar ist, wird von Kraus lediglich bei der Über-tragung dieser Denkfigur auf die sozialarbeiterischen Bereiche von Hilfe, vor allem aber in Bezug auf Kontrolle hervorgehoben.
Auch in dem Exkurs „Lebenswelt und Lebensweltorientierung“ wird die Perspektive vom Autor vertiefend entfaltet. Dieser bietet zum einen eine gewinnbringende Re-flexion der Lebenswelt- und Alltagsorientierung in der Sozialen Arbeit. Zum ande-ren und ausgehend von einer Problematisierung der undifferenzierten Verwen-dung des Konzepts der Lebensweltorientierung entwirft Kraus eine relational-konstruktivistische Reformulierung. Diese vollzieht sich als Übertragung und in Analogie zu der konstruktivistischen Unterscheidung von subjektiv konstruierter „Wirklichkeit“ und objektiver, physikalisch vorhandener „Realität“.
„Lebenswelt“ wird als subjektive Konstruktion aufgefasst. Sie konstituiert sich unter Rahmen- und Umweltbedingungen, welche wiederum durch die Lebenslage beeinflusst sind. Damit werden die Rahmenbedingungen – in ihrer materiellen wie immateriellen – Bedeutsamkeit hervorgehoben und in ihrer Wirksamkeit beschreibbar. Weiter zu diskutieren bleibt in diesem Zusammenhang aber die Frage nach der Kontingenz „viabler“ Wissensmodelle, über die sich auch der Wissensvorsprung der Fachkräfte der Sozialen Arbeit gegenüber ihren Adressat*innen legitimiert. Dieser wird für Kraus somit zu einem professionalitätsbegründenden Ausgangspunkt, auch wenn der Wissensvorsprung erarbeitet und ständig aktualisiert werden muss und mit ihm wegen des wirksam werdenden Machtgefälles verantwortungsvoll umzugehen ist.
Zugleich führt dies allerdings nicht zu einer reflexiven Auseinandersetzung mit pro-fessionskritischen Überlegungen und den darin auch relevant werdenden Fragen nach Prozessen subversiver Transformationen und den stabilisierenden Reproduk-tionsmechanismen sozialarbeiterischer Praxis. Zudem und durch die Fokussierung auf menschliche Kognition, auch unter Berücksichtigung ihrer Bedingtheit, rückt einerseits die Frage nach Aspekten der Vulnerabilität, anderseits aber auch die Fra-ge nach dem nicht intentionalen, normativen Vollzug sozialarbeitersicher Praxis und damit auch nach der Hervorbringung und (Re-)Produktion dieser Rahmenbe-dingungen in den Hintergrund.
Im Anschluss an die Lektüre lässt sich das Buch als ein umfangreich ausgearbeite-ter Beitrag für die wichtige Theoriedebatte der Sozialen Arbeit beschreiben. Dabei zeigt Kraus wie gewinnbringend die relational-konstruktivistische Erweiterung einer etablierten Theorie sein kann und welche Möglichkeiten sich über eine Hinwen-dung zur Relationalität für die Theoriebildung in der Sozialen Arbeit eröffnen las-sen. Dennoch lässt sich am Ende kritisch und im Hinblick auf die aktuellen Bewe-gungen und Entwicklungen der Theoriedebatte anmerken, ob dies die einzige Al-ternative ist oder nicht vielmehr die etablierten Zugänge selbst einer erkenntniskriti-schen, historisierenden und empirisch anschlussfähigen Revision hinsichtlich ihrer gegenstandskonstituierenden Prämissen unterzogen werden müssten. Leider bleibt der vorgelegte Band eine Antwort auf diese Frage schuldig.
[1] Dollinger, Bernd (2019): Reflexive Sozialpädagogik. Eine narrationstheoretische Wegbeschreibung. In: Zeitschrift für Sozialpädagogik 17(3), S. 297-314.
[2] Neumann, Sascha/Sandermann, Philipp (2019): Empirie als Problem? Theorien der Sozialen Arbeit nach dem Bedeutungsverlust der Grand Theories. In: Zeitschrift für Sozialpädagogik 17(3), 232-250.
EWR 19 (2020), Nr. 4 (September / Oktober)
Relationaler Konstruktivismus – Relationale Soziale Arbeit
Von der systemisch-konstruktivistischen Lebensweltorientierung zu einer Relationalen Theorie Sozialer Arbeit
Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2019
(214 S.; ISBN 978-3-7799-3949-8; 29,95 EUR)
Deborah Nägler (Tübingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Deborah Nägler: Rezension von: Kraus, Björn: Relationaler Konstruktivismus – Relationale Soziale Arbeit, Von der systemisch-konstruktivistischen Lebensweltorientierung zu einer Relatio-nalen Theorie Sozialer Arbeit. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2019. In: EWR 19 (2020), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.11.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377993949.html
Deborah Nägler: Rezension von: Kraus, Björn: Relationaler Konstruktivismus – Relationale Soziale Arbeit, Von der systemisch-konstruktivistischen Lebensweltorientierung zu einer Relatio-nalen Theorie Sozialer Arbeit. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2019. In: EWR 19 (2020), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.11.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377993949.html