EWR 11 (2012), Nr. 6 (November/Dezember)

Sabine Seichter
Erziehung und ErnÀhrung
Mit einem Vorwort von Micha Brumlik
Weinheim/Basel: Beltz/Juventa 2012
(285 S.; ISBN 978-3-7799-2807-2; 34,95 EUR)
Erziehung und ErnĂ€hrung Sabine Seichter hat mit ihrer Studie eine umfassende Untersuchung des bisher – und dies gilt besonders fĂŒr die erziehungswissenschaftliche Disziplin – wenig beachteten VerhĂ€ltnisses zwischen Erziehungs- und ErnĂ€hrungskonzepten prĂ€sentiert, das sie exemplarisch anhand von aktuellen Studien zum ErnĂ€hrungs- und Bewegungsmangel von Schulkindern der zustĂ€ndigen Bundesministerien bis in die Antike zurĂŒckverfolgt. Dem von ihr ermittelten Befund, dass das Thema „ErnĂ€hrung“ national wie international von ErnĂ€hrungs- und Gesundheitswissenschaftlern, von Medizinern, Ökonomen, Soziologen und Ethnologen sowie Philosophen und Psychologen, aber eben nicht von PĂ€dagogen bearbeitet wird, ist zuzustimmen. Jedoch zeigt die Autorin schon zu Beginn ihrer Untersuchung, dass es ihr in ihrem Unternehmen weniger um die historische Rekonstruktion unterschiedlicher ErnĂ€hrungspraxen und ihrer konkreten BezĂŒge zu zeitgleichen Konzeptualisierungen von Erziehung, sondern in erster Linie um eine KlĂ€rung des paradoxen und unscharfen Begriffs der Erziehung innerhalb der Entstehung der PĂ€dagogik geht. ErnĂ€hrung und Nahrung dienten, so zeigt insbesondere das erste, in die Thematik einfĂŒhrende Kapitel, den oft schwer fass- und beschreibbaren Erziehungsprozessen in bestimmten historischen Kontexten vielmehr als Folie, anhand derer die Vermittlung von Wissen als Nahrung und als „Gabe“ metaphorisiert wurde.

ErklĂ€rter Anspruch der Autorin ist es, eine „historisch-systematische“ Untersuchung aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive vorzunehmen, um die historisch und kulturell stark differierenden, teils expliziten, teils impliziten metaphorischen Bezugnahmen der Erziehungskonzeptionen auf Praxen der ErnĂ€hrung zu bergen. Sie bedient sich dabei – in erklĂ€rter Abwendung von den Praxen sozialwissenschaftlicher „Umschriften“ der PĂ€dagogik (23) – einerseits Verfahren der Etymologie und Metaphorologie; andererseits verschrĂ€nkt sie ihre Verfahren mit kultursoziologischen, bildungs- und wissenschaftshistorischen BezĂŒgen. Die Autorin beschreibt ihr methodisches Vorgehen als Versuch, „den in einem engeren VerstĂ€ndnis rein ‚pĂ€dagogischen‘ Sinn von Erziehung zu dekonstruieren oder wenigstens fragwĂŒrdig erscheinen zu lassen“ (22) und möchte in ihrer Untersuchung nach der „Entstehung der Erziehung aus dem ‚Geiste‘ der ErnĂ€hrung“ (ebd.) und weniger nach deren „Zweck- oder Funktionszusammenhang“ fragen. Vielmehr ist sie bestrebt, nah der Collagetechnik Klaus Mollenhauers, primĂ€r „Texte sprechen zu lassen“ (24) und den Blick auf deren „Sinn- und Bedeutungszusammenhang“ (22) zu richten.

Mit ihrem Buch serviert Sabine Seichter eine opulente Mahlzeit mit drei sehr gehaltvollen HauptgĂ€ngen, in denen zum ersten die Beziehungen zwischen Erziehung und ErnĂ€hrung unter der Perspektive „Erziehung als ErnĂ€hrung“ untersucht werden. Ihre etymologische und metaphorologische Arbeitsweise wird von einer kritischen Reflexion beider Verfahren begleitet, was sich als profunder Gaumenkitzler erweist. Es gelingt Seichter sehr ĂŒberzeugend, den steten Fluss der Analogien und Metaphern aufzudecken, die auf die enge, im ErziehungsverhĂ€ltnis bedingte Verstrickung von Nahrungs- mit Bildungsgaben hinweisen. Dies gilt sowohl fĂŒr die griechischen wie römischen Klassiker, wie in deren Adaptionen und Transformationen vom Mittelalter bis zur Neuzeit, hin zu den pĂ€dagogischen Hauptwerken der AufklĂ€rung. Dieses Kapitel macht, besonders durch den ĂŒberzeugenden Vergleich der Etymologien des Erziehungsbegriffs, der in mehreren europĂ€ischen Sprachen BezĂŒge zum Begriff der Nahrung und ErnĂ€hrung aufweist, auch nach sechzig detailgespickten Seiten Lust auf mehr.

Das zweite Kapitel, ĂŒberschrieben mit „Erziehung und ErnĂ€hrung – im Prozess der Zivilisation“, orientiert sich an einer anderen methodologischen Rezeptur und beschreibt zunĂ€chst aus der Perspektive der MentalitĂ€ts- und Sozialgeschichte die Praxen der Inkorporierung von Fremd- in SelbstzwĂ€ngen sowie ihre Adaption in der Verwissenschaftlichung der PĂ€dagogik. Die Autorin greift weit aus und zeigt, beginnend in der Neuzeit, im Übergang zur AufklĂ€rung bis hin ins 19. Jahrhundert, die Anstrengungen und Verwicklungen der PĂ€dagogiken und Anthropologien in Bezug auf die Überwindung des Animalischen, die „Verwissenschaftlichung“ der PĂ€dagogik mittels der naturwissenschaftlichen Methoden des Vermessens und Klassifizierens und der Systematisierung der Beobachtungspraxen. DarĂŒber hinaus werden die im 18. und 19. Jahrhundert engen Verflechtungen zwischen den „pĂ€dagogischen Medizinern“, „medizinischen PĂ€dagogen“ und den daraus entstehenden „pĂ€dagogischen Pathologien“ problematisiert, die u.a. in Kants Bezugnahmen auf die DiĂ€tik Hufelands in seiner Grundlegung von Anthropologie und PĂ€dagogik mĂŒnden, und sich auch im 20. Jahrhundert noch einmal in Gestalt Maria Montessoris vereinen werden. Dieser gehaltvolle „pot au feu“, der sehr unterschiedliche Erziehungsideologien und Vermessungs- und Beobachtungstechnologien ĂŒber- und nebeneinander schichtet, soll offenbar die Grundlage fĂŒr die anschließende (empirische) Konkretisierung der „Erziehung durch ErnĂ€hrung“ bilden.

Im dritten Kapitel prĂ€sentiert Seichter die Erprobung popularisierter gesellschaftlicher Erziehungsvorstellungen auf dem familiĂ€ren Mittagstisch als Feld der Erziehung, als Disziplinierung mittels Ermahnungen zur Inkorporierung bĂŒrgerlicher Tischmanieren, als moralische Erziehung zur selbstauferlegten Unterwerfung unter Zeit- und DiĂ€tplĂ€ne. Dies wird besonders aus kulturgeschichtlicher Perspektive an der von Rousseau inszenierten „moralgeladenen Stilldebatte“ deutlich gemacht (223ff). Deren Verlauf wird von der Autorin bis in die aktuellen Debatten um das Stillen verfolgt. Es gelingt ihr ĂŒberzeugend aufzuzeigen, dass die Debatte um das Stillen schon seit jeher, seit Beginn des 18. Jahrhunderts „zwischen Moral, Ökonomie und Politik“ (232) gefĂŒhrt wird. Unter der Überschrift „Kultivierung durch ErnĂ€hrung“ werden sowohl Tischmanieren, die Kommunikationen wie auch die Bedeutung des GenerationenverhĂ€ltnisses bei Tisch sowie das Essen als Familienritual kulturgeschichtlich von den familiĂ€ren Praxen des 18. Jahrhundert bis in das 21. Jahrhundert, auch bis hin zu Ritzers McDonaldisierung, verfolgt.

In einem Exkurs geht die Autorin zudem der Frage nach, ob Erziehungstheorien „essbar“ seien und vergleicht dabei die zeitgleichen ErnĂ€hrungspraxen in DDR-KindergĂ€rten und westdeutschen KinderlĂ€den. Hier ist, auch angesichts der sehr kurzen, somit manchmal auch verkĂŒrzten PrĂ€sentation der beiden Praxen (254-266), jedoch Micha Brumliks Anmerkung im Vorwort zuzustimmen, dass „an diesem Punkt mit der Verfasserin darĂŒber zu streiten (wĂ€re), ob die von ihr gezogenen starken Parallelen beider Praxen ob ihrer Herkunft aus dem Marxismus so tatsĂ€chlich ĂŒberzeugen“ (7). Die Autorin beendet ihre Studie mit einer Kontextualisierung der Frage „Das Kind – Sache oder Person?“ unter Verweis auf William Sterns vergessene Theorie des Personalismus und prĂ€sentiert, ausblickend, die Idee einer „personalen Erziehung“ als Option fĂŒr ein „innovatives Ferment von Erziehung und Erziehungsreform“ (285).

In der Tat wirft Sabine Seichters kulturwissenschaftliche Studie weiterfĂŒhrende Fragen auf, wie etwa nach einer explizit kulturwissenschaftlichen Methodologie oder der erneut gestellten Frage, was eine kulturwissenschaftliche PĂ€dagogik [1] ausmachen könnte. Die Autorin arbeitet ohne Zweifel mit kulturwissenschaftlichem „Besteck“: Sowohl die ĂŒberzeugend angewandte Metaphorologie wie auch ihre sozial- und mentalitĂ€tsgeschichtliche Perspektive gehören zum deklariert kulturwissenschaftlichen Instrumentarium [2]. Angesichts der InterdisziplinaritĂ€t und vielfĂ€ltigen Traditionen der Kulturwissenschaft sowie der MultiperspektivitĂ€t der vorliegenden Studie muss man sich jedoch fragen, ob nicht einer Entscheidung fĂŒr eine kulturwissenschaftliche Methode und/oder Theorie – etwa ein Bezug auf die von Iris DĂ€rmann kĂŒrzlich vorgelegten Kulturtheorien zu „KĂŒche und Tischgemeinschaft“ [3] – der Untersuchung noch dienlicher gewesen wĂ€re als Mollenhauers „Collagetechnik“.

[1] Brumlik, Micha (2006): „Kultur“ ist das Thema. PĂ€dagogik als kritische Kulturwissenschaft. In: Zeitschrift für PĂ€dagogik 52, 60-68.
[2] Böhme, Hartmut/Mattussek, Peter/ MĂŒller, Lothar (2002): Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will. Hamburg: rororo.
[3] DĂ€rmann, Iris (2011): Kulturtheorien zur EinfĂŒhrung. Hamburg: Junius, 11-31.
Birgit Althans (Trier)
Zur Zitierweise der Rezension:
Birgit Althans: Rezension von: Seichter, Sabine: Erziehung und ErnĂ€hrung, Mit einem Vorwort von Micha Brumlik. Weinheim/Basel: Beltz/Juventa 2012. In: EWR 11 (2012), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377992807.html