Sicherheit wird momentan zu einem gesellschaftlichen Leitbild. Angesichts der Zunahme an Verunsicherung im Zusammenhang mit medial inszenierten Gewalttaten aber auch Kindeswohlgefährdungen bekommt der Schutz vor Bedrohungen eine besondere Bedeutung. Wenn von Sicherheit gesprochen wird, wird vorausgesetzt, dass es Gefahren gibt, die es abzuwenden gilt. In einer Sicherheitsgesellschaft wird Freiheit als Sicherheit vor Bedrohungen aufgefasst. Gefährdungen, die in der Umwelt zu verorten sind, werden in Risiken transformiert, die kalkulierbar sind. Dadurch wird das Individuum in die Lage versetzt Entscheidungen zu treffen. Diese Logik bekommt auch im Bereich der frühen Hilfen eine größere Bedeutung.
Kindeswohlgefährdung wird medial inszeniert und zu einem Problem stilisiert, das die bisherigen Hilfsangebote zu überfordern scheint und sowohl rechtliche, organisatorische als auch professionelle Reformen erfordert. Dieses spiegelt sich auch in einem Boom an Publikationen zu diesem Thema wider. Es stellt sich also die Frage, wie sich das Buch „Frühe Hilfen im Kinderschutz“ im Diskurs zur Kindeswohlgefährdung verortet und was das Buch aufzugreifen vermag, was bisher publizierte Bücher noch nicht geleistet haben.
Zunächst soll der Entstehungszusammenhang des Buches, Aufbau und Argumentationsgang und die wesentlichen Ergebnisse dargestellt werden: Das Buch präsentiert Ergebnisse aus dem Modellprojekt „Guter Start ins Kinderleben“, welches von mehreren Bundesländern getragen und vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Aktionsprogramms „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme“ evaluiert wurde. Im Vordergrund standen dabei zum einen die Expertise zur Kooperation der Gesundheits- und Kinder- und Jugendhilfe unter besonderer Berücksichtigung der sozialrechtlichen Grundlagen und der Datenschutzbestimmungen und zum anderen eine Expertise, der es um die Entwicklung eines Risikoinventars ging.
Das Buch gliedert sich in drei Abschnitte: Im Einführungsteil wird von Ute Ziegenhain und Jörg M. Fegert zunächst auf die Notwendigkeit früher und präventiver Hilfen im Kinderschutz hingewiesen, indem die empirisch nachgewiesenen Folgen insbesondere von Vernachlässigung aufgezeigt werden. Ziel früher Hilfen sei, so die Autoren, durch frühe Förderung nicht-diskriminierend einzugreifen und rechtzeitig Hilfen bereit zustellen (vgl. 12). Diagnostische Kompetenz sei notwendig, die ein Entwicklungsrisiko prognostizieren und nicht nur feststellen kann, dass eine akute Gefährdung vorliegt. Das ermöglicht einzugreifen, bevor sich Probleme verfestigt haben. Die Autoren/innen plädieren für ein empirisch abgesichertes Screening- und Diagnoseverfahren, das aber nur zu 70% die Wahrscheinlichkeit eines Irrtums reduzieren könne (vgl. 14). Es trotzdem einzusetzen begründet sich mit der höheren Wahrscheinlichkeit einer richtigen Diagnose im Vergleich zur Urteilsfähigkeit eines durchschnittlichen Sozialarbeiters oder Klinikers (vgl. ebd.). Es seien aber nicht diese Screeningverfahren selbst, welche Erfolg versprechend sind, sondern die Diskussion der Ergebnisse und die abschließende konsensuelle Entscheidung in einem formalisierten Entscheidungsmodell, an dem mehrere Experten beteiligt sind. Darüber hinaus wird auf die Notwendigkeit der Kooperation zwischen Gesundheits- und Kinder- und Jugendhilfe hingewiesen, um Hilfen aufeinander abstimmen zu können. Deswegen sei es notwendig, sich intensiv mit den sozialrechtlichen sowie den Datenschutzbestimmungen auseinanderzusetzen.
Im zweiten Teil des Buches werden die Ergebnisse der Expertise zur Analyse der rechtlichen Rahmenbedingungen der Kooperation von Thomas Meysen und Lydia Schönecker dargelegt. Die Autoren/innen zeigen auf, unter welchen Bedingungen ein Austausch der Daten zwischen den verschiedenen Akteuren im frühen Kinderschutz nicht nur sinnvoll, sondern rechtlich auch möglich ist. Sie machen deutlich, dass auf die Vertrauensbeziehungen zu den Patienten/innen und Klient/innen „geachtet und trotzdem verlässliche Partnerschaft zwischen den Hilfesystemen gelebt werden“ (27). Nur dadurch kann die Bereitschaft gewährleistet werden Hilfe anzunehmen. Um das Vertrauen zu wahren, müsse das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gewahrt bleiben; d. h. dass die Informationen, die weitergegeben werden, für alle Beteiligten transparent sind, der Verwendungszweck der Weitergabe bestimmt ist und dass die Erhebung und Verwendung der Daten zu dem angestrebten Zweck in einem vernünftigen Verhältnis stehen (vgl. 27). Diese allgemeine Orientierung im Hinblick auf Datenschutzbestimmung wird dann im Kontext der Gesundheits- und Kinder- und Jugendhilfe spezifiziert, indem jeweils der Auftrag dargestellt wird, wie auch die damit einhergehende Regelung der Möglichkeit der Datenerhebung bei Betroffenen oder Dritten. Dabei wird auf die hohe Bedeutung des Hilfekontrakts hingewiesen, der erst verbindlich klar zu stellen ermöglicht, ob die Datenerhebung und -weitergabe auch im Zusammenhang mit dem Verwendungszweck steht. Zugleich können diese Kontrakte sich vor dem Ermittlungshintergrund von Kindeswohlgefährdung ändern. Zwar wird die Einwilligung der Eltern angestrebt, aber bei Einbezug des Familiengerichts oder bei Wechsel der Fallzuständigkeit im Jugendamt ist die Einwilligung nicht zwingend notwendig. Diese grundlegenden Ausführungen werden für die unterschiedlichen Akteure präzisiert. Darüber hinaus wird auf die neue Funktionszuschreibung der Gesundheitsämter in einigen Bundesländern hingewiesen, die in die frühen Hilfen mit eingebunden werden, aber nicht als Gefährdungsabwendungsbehörde, sondern präventiv wirksam werden sollen (vgl. 52). Ebenfalls wird betont, dass das Jugendamt mit den Änderungen der gesetzlichen Grundlagen im § 8a KJHG nicht zu einer Meldebehörde wird, sondern dieses vielmehr Mitteilungen entgegen nehmen soll, die es ermöglichen, dem Präventions- und Schutzauftrag gerecht zu werden.
Die Autoren/innen weisen auf die Notwendigkeit hin, zwischen frühen Hilfen und Frühförderung zu differenzieren, da damit die Zuständigkeit unterschiedlicher Sozialsysteme einhergeht. Bei der Diagnose eines Entwicklungsrückstands ist diese Aufteilung problematisch, da zwischen seelischer Behinderung (Jugendhilfe) und geistiger bzw. körperlicher Behinderung (Gesundheitshilfe) kaum unterschieden werden kann. Damit gehen auch Probleme bei der Finanzierung früher Hilfen einher. Hebammen werden z. B. für ihren umfassenden Auftrag von der gesetzlichen Gesundheitsversicherung nur unzureichend finanziert und Jugendämter sind nur potenziell aber nicht verpflichtend im Kontext des § 16 KJHG für die Finanzierung der Aufgabe der Familienerziehung durch Hebammen zuständig. Die Autoren/innen weisen kritisch darauf hin, dass die Probleme nicht durch Kooperation und Zwang zur Früherkennung allein gelöst werden können, sondern darüber hinaus die Qualifizierung derer, die für einen professionellen Kinderschutz zuständig sind, gewährleistet werden muss.
Im dritten Teil wird von Heinz Kindler dargestellt, wie ein überzeugendes Risikoinventar, das zur Professionalisierung der frühen Hilfen beitragen könnte, zusammengesetzt werden müsste. Der Autor führt ein, was überhaupt unter einem Risikofaktor zu verstehen ist, wie diese zu bemessen sind und was überhaupt Bemessungsgrundlage dieses Inventars sein kann. Darüber hinaus werden Qualitätskriterien eines gelungenen Risikoinventars differenziert dargelegt. Zum Schluss wird aufgezeigt, welche Risikofaktoren sich in der Grundlagenforschung als sinnvoll für eine Verwendung in einem Risikoinventar erwiesen haben. Dabei wird zwischen jenen Inventaren unterschieden, welche sich auf Vernachlässigung und Misshandlung beziehen, und solchen, die auf Erziehungsschwierigkeiten und Entwicklungsauffälligkeiten ausgerichtet sind.
Abschließendes Fazit: Das Buch füllt eine Forschungslücke aus, indem es detailliert über Datenschutzbestimmungen, rechtliche und finanzielle Möglichkeiten der Kooperation innerhalb und zwischen der Jugend- und Gesundheitshilfe aufklärt. Darüber hinaus bietet es eine systematische und überzeugende Auseinandersetzung mit dem Risikoinventar. Es fehlt allerdings eine problematisierende Perspektive auf die von den Autoren/innen vertretenen Einschätzungen zu einer gelungen Gestaltung früher Hilfen. Dazu gehört, dass die Freiwilligkeit der Weitergabe von Informationen bei den Datenschutzbestimmungen einerseits gegeben sein soll. Dies ist aber andererseits nicht voraussetzungslos, da knappe Ressourcen sehr schnell dazu beitragen können, Freiwilligkeit in Zwang zu überführen, ohne dass rechtliche Grundlegungen des Datenschutzes überschritten werden. D. h. die Ausblendung der konkreten sozialen Praxis der frühen Hilfen kann dazu beitragen, dass die Nebenfolgen der Einführung dieser Instrumente nicht systematisch reflektiert werden können.
Bleibt die Frage offen, für wen dieses Buch zu empfehlen ist: Fachkräfte aus der Jugend- und Gesundheitshilfe, die sich Klarheit über rechtliche Handlungsspielräume in ihrem Feld verschaffen und Hinweise darüber haben wollen, welche standardisierten Instrumente der Risikodiagnose für Kindeswohlgefährdung aus welchen Gründen sinnvoll sind, können von diesem Buch profitieren. Für Studierende oder Professionelle, die sich aber erst einmal grundsätzlich in das Feld einarbeiten wollen, stellt es nur eine unter mehreren Perspektiven auf die Möglichkeit der Gestaltung der frühen Hilfen dar, ohne dass der Diskurs, in dem die Autoren/innen sich verorten, transparent wird.
EWR 8 (2009), Nr. 5 (September/Oktober)
Frühe Hilfen im Kinderschutz
Rechtliche Rahmenbedingungen und Risikodiagnostik in der Kooperation von Gesundheits- und Jugendhilfe
Weinheim; München: Juventa 2008
(262 S.; ISBN 978-3-7799-2260-5; 21,00 EUR)
Bettina Hünersdorf (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Bettina Hünersdorf: Rezension von: Meysen, Thomas / Schönecker, Lydia / Kindler, Heinz: Frühe Hilfen im Kinderschutz, Rechtliche Rahmenbedingungen und Risikodiagnostik in der Kooperation von Gesundheits- und Jugendhilfe. Weinheim; München: Juventa 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 5 (Veröffentlicht am 02.10.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377992260.html
Bettina Hünersdorf: Rezension von: Meysen, Thomas / Schönecker, Lydia / Kindler, Heinz: Frühe Hilfen im Kinderschutz, Rechtliche Rahmenbedingungen und Risikodiagnostik in der Kooperation von Gesundheits- und Jugendhilfe. Weinheim; München: Juventa 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 5 (Veröffentlicht am 02.10.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377992260.html