EWR 12 (2013), Nr. 6 (November/Dezember)

Helmut Bremer / Mark Kleemann-Göhring / Christel Teiwes-KĂŒgler / Jana Trumann (Hrsg.)
Politische Bildung zwischen Politisierung, Partizipation und politischem Lernen
BeitrĂ€ge fĂŒr eine soziologische Perspektive
Weinheim: Beltz Juventa 2013
(341 S.; ISBN 978-3-7799-1589-8; 39,95 EUR)
Politische Bildung zwischen Politisierung, Partizipation und politischem Lernen Der zum Großteil auf eine Tagung der Sektion Bildung und Erziehung der Deutschen Gesellschaft fĂŒr Soziologie zurĂŒckgehende Sammelband umfasst neben einer thematisch einfĂŒhrenden Einleitung 15 BeitrĂ€ge, die entlang von drei Registern organisiert sind: ZunĂ€chst wird in den unter der Überschrift „Gesellschaft – Politik – Poltische Bildung“ gefassten BeitrĂ€gen der Zusammenhang von grundbegrifflichen Aspekten und historischen Entwicklungslinien politischer Bildung thematisiert, so dass deren Verwobenheit mit sozialen und gesellschaftspolitischen Transformationen im Vordergrund steht. Das zweite Register „Politisierung – Partizipation – Lernkontexte“ versammelt Auseinandersetzungen mit spezifischen und aktuellen Bedingungen politischer Partizipation und Bildung, die empirisch-analytische Einsichten mit programmatisch-konzeptionellen EntwĂŒrfen verbinden. Im dritten Abschnitt „Politisierung – Entpolitisierung – Politisches Lernen“ finden sich BeitrĂ€ge, die als kritische Auseinandersetzungen mit aktuellen SelbstverstĂ€ndigungsdiskursen politischer Bildung (wie der Kontroverse zwischen Politikdidaktik und DemokratiepĂ€dagogik) angelegt sind und alternative ZugĂ€nge zu eröffnen suchen. Damit ist insgesamt eine vielfĂ€ltige und intensive Diskussion zeitgenössischer Debatten, Bedingungen und Perspektiven politischer Bildung angezeigt, in denen unterschiedliche Disziplinen und Erfahrungen zu Wort kommen.

Der Untertitel des Buches macht das Anliegen deutlich, das die HerausgeberInnen mit dem Sammelband verbinden: Die „Soziologie als analytische Beobachtungs- und Reflexionswissenschaft“ fĂŒr die gegenwĂ€rtigen Fragen und Herausforderungen politischer Bildung (wieder) zur Geltung zu bringen, um insbesondere die Verflechtungen zwischen Konzepten politischer Bildung, ungleichen Partizipationschancen und gesellschaftlichen „KrĂ€fteverhĂ€ltnissen“ (11) aufzuklĂ€ren. Die EinfĂŒhrung in den Band deutet damit eine vielversprechende Programmatik an, die dem Anspruch folgt, die demokratisierenden „Potenziale politischer Bildung zu erhöhen“ (ebd.). Soziologie ist aus dieser Sicht nicht nur eine Bezugsdisziplin, die spezifisches Sachwissen ĂŒber gesellschaftliche Entwicklungen und sozialstrukturelle ZusammenhĂ€nge zur VerfĂŒgung stellt. Vielmehr könne Soziologie ein Wissen liefern, das „auf die politische Bildung selbst anzuwenden ist und das deren Möglichkeiten und Begrenztheiten kritisch durchleuchtet.“ (12) Es geht also nicht um irgendein VerhĂ€ltnis von Soziologie und politischer Bildung, sondern um deren Zusammenhang im Horizont des politischen Projekts „partizipatorischer Demokratie“ (13).

Um eben diesem Horizont eine erste sowohl systematische wie gesellschaftspolitische Kontur zu verleihen, ist eigens der aus dem Jahr 1960 stammende Text „Partizipatorische Demokratie und die Natur des Menschen“ des bereits verstorbenen amerikanischen Philosophen Arnold S. Kaufmann ins Deutsche ĂŒbersetzt worden (30-51). Bedeutsam sind die darin angestellten Überlegungen nicht nur als historischer Quellentext, der fĂŒr die US-amerikanische SelbstverstĂ€ndigung der BĂŒrgerrechts- und Demokratiebewegung entscheidende Bezugspunkte lieferte. Indem Kaufmann die Voraussetzungen und Kriterien von politischer Partizipation in Auseinandersetzung mit theoretischen Gegnern und Verfechtern „pessimistische(r) Menschenbilder“ (30) diskutiert, entwickelt er vielmehr eine Argumentationslinie, deren Aneignung und Aktualisierung sich gerade auch fĂŒr gegenwĂ€rtige Bestimmungen des Partizipationskonzepts lohnen dĂŒrfte. So stellt er klar, dass die „Hauptlegitimation“ partizipatorischer Demokratie – im Unterschied zu den Zwecken und BegrĂŒndungen des ReprĂ€sentativsystems – in dem Beitrag besteht, „den sie zur Entwicklung der menschlichen FĂ€higkeiten des Denkens, FĂŒhlens und Handelns leisten kann“ (36). Der Beitrag von Michael Vester ist als direkter Anschluss an Kaufmanns programmatische Streitschrift konzipiert (52-79). In „sozialhistorischen Skizzen“ (52) folgt Vester den gesellschaftspolitischen KĂ€mpfen und dem SpannungsverhĂ€ltnis zwischen den Formen „gelenkter Demokratie“ (53) und den BemĂŒhungen um partizipatorische Demokratie. Im Anschluss an Bourdieu analysiert er die MilieuabhĂ€ngigkeit hinsichtlich der Wirkung gesellschaftlicher WidersprĂŒche auf die Forderung nach mehr politischer Beteiligung. Demnach findet sich zwar auf allen Ebenen der „sozialen Schichtung [
] (die, C.B.) Spannung zwischen autoritĂ€ren und demokratisierenden Strebungen“ (72); dennoch sind diese auf ungleiche Weise von den Mechanismen der Ausschließung und dem daraus resultierenden „GefĂŒge ungleicher Partizipationschancen“ (ebd.) betroffen.

Es ist diese Problemdiagnose eines „Reproduktionszusammenhang(s) zwischen politischen Entscheidungen, der Akzeptanz, wie diese Entscheidungen durch etablierte politische Prozesse zustande kommen und den daraus folgenden Partizipationschancen des Einzelnen bzw. bestimmter Gruppen“ (10), die wie ein roter Faden die meisten der BeitrĂ€ge miteinander verbindet. Dennoch entfalten die weiteren Texte nicht nur eine Vielstimmigkeit, die sich in den drei Registertiteln kaum abbildet, sondern auch wechselseitige EinsprĂŒche und Gegenargumentationen.

Das Anliegen des Buches findet sich in expliziter Weise im Beitrag von Katrin SpĂ€te aufgenommen. In ihrer „kritischen Diskussion schulischer politischer Bildungskonzepte“ (184-202) arbeitet sie ĂŒberzeugend heraus, dass die didaktische Orientierung am „Idealtypus eines demokratiekompetenten BĂŒrgers“ (186) den Blick auf die soziale Ungleichheit der Partizipationsmöglichkeiten, die „Dialektik von Fremd- und Selbstausschließung“ (199), verstellt. DemgegenĂŒber fokussiert sie das Konzept einer „reflexiven politischen Bildung“, die sich zur Selbstreflexion ihrer Effekte nicht allein einer Bildungssoziologie im Sinne einer „makrosoziologisch ausgerichtete(n) formalen Analyse von Bildungszertifikaten“ bedient, sondern „stĂ€rker die kulturellen Wirkungen von schulischen Bildungsprozessen mikrosoziologisch in den Blick nimmt“ (185). Wie eine Fortsetzung und Zuspitzung der Argumentationslinie lĂ€sst sich der Beitrag von Mark Kleemann-Göhring lesen (276-292), der sich aus der Perspektive außerschulischer politischer Erwachsenenbildung kritisch mit den Zuschreibungen von „Politikferne“ auseinandersetzt. Auch er problematisiert die Konzeption von normativen BĂŒrgertypen, die als Legitimation und Reproduktion einer Defizitperspektive auf unterschiedliche ZugĂ€nge zum „politischen Feld“ (Bourdieu) wirken. Die Analyse solcher Distinktions- und Teilungspraktiken zwischen dem, was sich legitimerweise „politisch“ nennen darf, und dem als „unpolitisch“‘ Identifiziertem (vgl. 280) eröffnet eine Perspektive auf die selbst umkĂ€mpfte Konstitution des politischen Feldes und damit auf einen weiten Begriff des Politischen, der sich von der Politik im engeren Sinne eines sozialen Subsystems unterscheiden lĂ€sst. Damit fallen mögliche AnschlĂŒsse zur zeitgenössischen politischen Philosophie wie der radikalen Demokratie- und Hegemonietheorie ins Auge. Diese wird unter anderem im Beitrag von Frederick de Moll, Christian Kirschner, Markus Riefling und Margit Rodrian-Pfennig aufgenommen (293-314) und im Hinblick auf die EU-Grenzpolitik als Beispiel eines möglichen Themenfeldes politischer Bildung konzeptionell gewendet. Wenn hier allerdings die Reflexion auf die „Grundlosigkeit“ – das heißt die stets umkĂ€mpfte Konstitution – des Sozialen wiederum in eine Reihe von Kompetenzen ĂŒbersetzt wird, die politische Bildung als „Vorhof politischer AktivitĂ€t“ (302) zu entwickeln habe, so erscheint dies doch eher unterkomplex und verweist auf – teils bewusst in Kauf genommene (vgl. 299) – theoretische Inkonsistenzen. Zumal der Kompetenzbegriff hier keine – wie der Titel verspricht – „Dezentrierung“ erfĂ€hrt, wie sie bspw. Kleemann-Göhring als inneres SpannungsverhĂ€ltnis von FĂ€higkeiten und Befugnissen herausarbeitet (vgl. 281), sondern weitgehend analog zu derzeit ĂŒblichen „Kompetenzkatalogen“ (Bremer/Trumann kritisch: 317) gebraucht wird, erscheint der Beitrag eher wie eine irritierende Re-zentrierung des politisch handlungsfĂ€higen Kompetenzsubjekts. Dass die – in Kompetenzmodellen wie im modernen Bildungsdenken insgesamt – angelegte Tendenz zur Individualisierung und die Aufforderung zur Selbststeigerung gerade einen Teil der gegenwĂ€rtig wirkmĂ€chtigen Subjektivierungsweisen darstellt und daher grundsĂ€tzlicher diskutiert werden muss, arbeitet Christine Thon heraus (80-97). Ebenfalls unter RĂŒckgriff auf die Hegemonietheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe entwickelt sie aufschlussreiche Suchbewegungen fĂŒr eine weiterfĂŒhrende Bestimmung des VerhĂ€ltnisses von Bildung und Politischem, die jene Vorstellung von „souverĂ€n partizipierenden oder durch Bewusstseinsbildung zu aktivierenden Subjekten [
] hinter sich lĂ€sst“ (93).

Spannungsreich verhalten sich auch die BeitrĂ€ge von Bremer/Trumann, Bittlingmayer u.a. und Reinhardt zueinander. In allen drei BeitrĂ€gen steht die Frage einer Konzeption von politischem Lernen sowie dessen VerhĂ€ltnis zu sozialem Lernen im Vordergrund. WĂ€hrend Sibylle Reinhardt unter RĂŒckgriff auf die Unterscheidung von privat und öffentlich bei Arendt bzw. deren Strukturwandel nach Habermas sowie auf empirische Erhebungen die Differenz der beiden Lernformen betont (239-252), schlagen Helmut Bremer und Jana Trumann vor, den Begriff des politischen Lernens gegenĂŒber bloßen Inhaltsvorgaben zu allererst im Hinblick auf die spezifische Form des Lernprozesses zu bestimmen (315-338). DafĂŒr zeigen sie die Potenziale der Lerntheorie Holzkamps wie der Habitustheorie Bourdieus auf, die sie gerade aufgrund und eingedenk ihrer unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen fĂŒr ein VerstĂ€ndnis politischen Lernens zu verbinden suchen. Uwe H. Bittlingmayer, JĂŒrgen Gerdes, Diana Sahrai und Albert Scherr diskutieren wiederum die Beziehung von sozialem Lernen – genauer: von „schulischen Social- und Life Skills-Programmen“ – und politischen Partizipationschancen stĂ€rker auf der Ebene der Effekte spezifischer Bildungskonzeptionen (253-275). Entgegen einer Überbetonung der Differenz von sozialem und politischem Lernen rekonstruieren die AutorInnen deren Zusammenhang im Horizont eines Demokratielernens, das gerade auch auf die Umgangsformen und Einstellungen im lebensweltlichen Alltag verweise (vgl. 260f). Unter dem Aspekt der Förderung politischer Partizipation wird hier jedoch die Ambivalenz der StĂ€rkung von SelbstwirksamkeitsĂŒberzeugungen fokussiert: Einerseits können diese als eben die Voraussetzung gelten, nicht nur fĂ€hig zur Partizipation zu sein, sondern sich auch als entsprechend berechtigt zu fĂŒhlen. Zur Entpolitisierung trage die demokratiepĂ€dagogische Konzeption jedoch andererseits bei, so die AutorInnen ĂŒberaus ĂŒberzeugend, wenn Partizipation schlicht mit gesellschaftlicher Teilhabe gleichgesetzt werde und die Förderung von Engagement damit Gefahr laufe, die „inzwischen vorherrschende Ideologie des aktivierenden Staates zu bedienen“ (269).

Besonders plastisch fĂŒhren diejenigen BeitrĂ€ge den sozialen Ort politischer Bildung vor Augen, die spezifische Kontexte und Bedingungen von politischer Partizipation und Bildung reflektieren: Norbert Reichling rekonstruiert die Politisierungs- und BildungszusammenhĂ€nge des „Montagskreises Meiningen“ in den letzten Jahren der DDR (143-158). Christel Teiwes-KĂŒgler diskutiert die strukturellen Grenzen der Mitbestimmung von ArbeiterInnen und fragt nach der aktuellen Angemessenheit des (gewerkschaftlichen) Delegationsprinzips (220-238). Julika BĂŒrgin entwickelt aus der Analyse von neuen, ‚indirekten‘ Steuerungsformen und den Erfahrungen von ArbeiterInnen und Angestellten in unterschiedlichen Betrieben eine sehr beachtenswerte Konzeption „arbeitspolitischer Bildung“ (203-219), die sie gerade nicht nur als gewerkschaftliche Bildung im engeren Sinne, sondern als relevantes Aufgabenfeld aller Bildungsbereiche versteht (vgl. 216).

Zu den weiteren, weniger eingebunden wirkenden BeitrĂ€gen zĂ€hlt die Diskussion von Sabine Digel und Thomas Hallmayer (123-142). Die beiden Autoren gehen der Frage nach, ob politische Weiterbildung zum Politiksystem oder zum Erziehungssystem zu zĂ€hlen ist; eine Fragestellung, die vermutlich nur innerhalb einer systemtheoretischen Perspektive Relevanz zu generieren vermag. Klaus-Peter Hufer parallelisiert in einem historischen RĂŒckblick von den Nachkriegsjahren bis zur Gegenwart – leider weitgehend stichwortartig – gesellschaftspolitische Entwicklungen mit den jeweiligen Diskursen politischer Fachdidaktik und Erwachsenenbildung (98-122). Andreas Petrik schlĂ€gt eine Konzeption genetischen Politiklernens vor, das sich an den ‚latenten‘ oder expliziten politischen Haltungen der SchĂŒlerinnen und SchĂŒler orientiert (159-183). Inwiefern die ĂŒber Ergebnisse und Methoden der Wertewandelforschung gewonnene Typologie geeignet ist, die politischen Haltungen von SchĂŒlerInnen zu verstehen und zu thematisieren, kann hier nicht beurteilt werden.

In einer zusammenfassenden Betrachtung changiert der Band zwischen der inneren HeterogenitĂ€t eines Tagungsbands und einem eigenen – nicht allein disziplinpolitischen – Einsatz. Letzterer stellt nicht nur eine echte Bereicherung und Öffnung des bisweilen auf wenige ZugĂ€nge und Fragestellungen verengten Fachdiskurses politischer Bildung dar. Vielmehr finden sich hier zahlreiche Ă€ußerst produktive Anregungen fĂŒr die Reflexion des sozialen Ortes politischer Bildung und ihren möglichen Beitrag im Hinblick auf die – ungleichen – Voraussetzungen politischer Partizipation. Dabei sind es gerade die Vorsicht gegenĂŒber idealisierenden bzw. normativen Zielvorstellungen und der Abstand zum Pathos, die dem hier verfolgten Anliegen einer soziologischen Perspektive „auf“ und „fĂŒr“ politische Bildung seinen Nachdruck verleihen und den Band in großen Teilen so lesenswert machen.
Carsten BĂŒnger (Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Carsten BĂŒnger: Rezension von: Bremer, Helmut / Kleemann-Göhring, Mark / Teiwes-KĂŒgler, Christel / Trumann, Jana (Hg.): Politische Bildung zwischen Politisierung, Partizipation und politischem Lernen, BeitrĂ€ge fĂŒr eine soziologische Perspektive. Weinheim: Beltz Juventa 2013. In: EWR 12 (2013), Nr. 6 (Veröffentlicht am 03.12.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377991589.html