Wer sich mit Mädchen und jungen Frauen in der Jugendbewegung des deutschen Kaiserreichs beschäftigt, kommt nicht an dem frühen Standardwerk „Die Frau und die Jugendbewegung“ vorbei. Elisabeth Busse-Wilson, die diese Schrift 1920 publizierte, steht mit ihren zahlreichen Veröffentlichungen, ihrer Biographie sowie mit ihren persönlichen und beruflichen Kontakten im Zentrum der Dissertation von Britt Großmann, die 2015 in der Fakultät Erziehungswissenschaften der TU Dresden verteidigt und 2017 publiziert wurde. Geleitet ist die Monographie von dem „Versuch, mittels einer Aufarbeitung des Beitrags Elisabeth Busse-Wilsons zur zeitgenössischen kritischen Auseinandersetzung mit den „geistigen Energien“ (Nohl 1926) der Jugendbewegung, einer Diskursgeschichte der Sozialpädagogik zuzuarbeiten.“ (19) Für die Rekonstruktion von Leben und Werk Busse-Wilsons kann Großmann nicht nur die einschlägigen Bestände im Archiv der deutschen Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein nutzen, sondern auch auf den sich im Privatbesitz der Familie Busse befindlichen Nachlass von Elisabeth Busse-Wilson zugreifen. Eine aus diesem Quellenbestand stammende 1967 verfasste Selbstdarstellung durchzieht neben wenigen eingestreuten Tagebuchaufzeichnungen und privaten Korrespondenzen die auf sechs Kapitel angelegte biographische Darstellung der jugendbewegten, emanzipierten Frau. Dabei orientiert sich die Kapiteleinteilung nicht an den großen politischen Zäsuren des 20. Jahrhunderts, sie ist vielmehr an den Lebensstationen der Protagonistin ausgerichtet. Die Kapitelüberschriften und die der nachgeordneten Abschnitte sind von Zitaten aus den Ego-Dokumenten von Busse-Wilson bestimmt.
In einem liberalen bürgerlichen Elternhaus – der Vater war Jurist, die Mutter hatte eine seminaristische Lehrerinnenausbildung – aufgewachsen, gehörte sie zu den ersten thüringischen Abiturientinnen und später, an den von ihr besuchten Universitäten Jena, Leipzig, Bonn und München, zur ersten Studentinnengeneration. Während ihrer Studienzeit in Jena, die wie das Elternhaus und die Schulzeit in Kapitel 2 dargestellt werden, hatte sie sich dem Serakreis, ein jugendbewegter geselliger Zusammenschluss von Studierenden um den Verleger Eugen Diederichs, angeschlossen. In den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg kam sie mit der Freideutschen Jugend in Kontakt und lernte dort ihren späteren Mann Kurt Heinrich Busse kennen. Einigen Mitgliedern beider studentischer Assoziationen blieb sie über Jahrzehnte verbunden: Für die von Eugen Diederichs herausgegebene Monatsschrift „Die Tat“ verfasste sie in den 1920er Jahren zahlreiche Beiträge. Mit den Sera-Freunden Martha Hörmann und Walter Fränzel verband sie eine lebenslange Freundschaft.
Mit der Wahl ihrer Studienfächer, des Promotionsthemas und der akademischen Lehrer unterschied sie sich nicht von den anderen nichtkorporierten Studierenden. Herman Nohl, Karl Lamprecht und schließlich Wilhelm Wundt als Doktorvater begleiteten das Studium in der Philosophischen Fakultät, welches 1915 mit einer kunsthistorisch-ethnologischen Promotion an der Universität Leipzig abgeschlossen wurde. Als junge Ehefrau folgte sie ihrem Mann zu seinen beruflichen Stationen in Frankfurt am Main und Würzburg. Über ihn fand sie auch immer mehr Zugang zu den politischen Debatten der Freideutschen Jugend. Nach Kriegsende versuchte sie mit den kriegsheimkehrenden Jugendbewegten in der revolutionären Umbruchszeit soziale Utopien zu konkretisieren. Dieser Lebensabschnitt ist wie die Kriegszeit Gegenstand des dritten Kapitels. In diese Zeit der kulturellen und politischen Neuordnung fiel auch eine Neuordnung der Geschlechterverhältnisse. Dem Anti-Feminismus eines Hans Blühers hielt Elisabeth Busse-Wilson ihre Kritik der Geschlechterrollen entgegen. In dieser – und auch in späteren – Veröffentlichungen stellt sich Busse-Wilson eindeutig auf die Seite der Frauen, aber nicht auf die der organisierten Frauenbewegung, wie Großmann deutlich herausarbeitet.
Die – aufgrund der wechselnden Berufstätigkeiten ihres Mannes – sich ändernden Wohnorte zwischen Frankfurt am Main, Würzburg, Berlin und Hannover, die in den Kapiteln vier und fünf thematisiert werden, und die damit auch einhergehenden sich ändernden beruflichen Interessen waren trotzdem typisch für ihre akademisch vorgebildete jugendbewegte Generation: Arbeit in der Erwachsenenbildung, in den neuen Volkshochschulen (Hannover), Engagement im sozialen Feld (Berlin), Nähe zu den religiösen Sozialisten – dazwischen die Geburt des Sohnes – und schließlich der Versuch, an einer der neugegründeten Pädagogischen Akademien in Preußen, eine Anstellung zu bekommen, um den bürgerlichen Lebensstandard wahren und der Familie ein finanzielles Auskommen sichern zu können. Anders als bei vielen ihrer Freunde aus dem Serakreis und der Freideutschen Jugend mündete die Bewerbung von Busse-Wilson an mehreren Pädagogischen Akademien schließlich nicht in eine Festanstellung. Zwar wird hier die unzureichende schulpädagogische Ausbildung als Grund referiert (323-329), ebenso aber hätte auch das Geschlecht der Bewerberin dafür reflektiert werden können.
Die späten Jahre der Weimarer Republik und der Nationalsozialismus werden in Kapitel sechs als ein Suchen zwischen schriftstellerischem Schaffen – die Monographie über die Heilige Elisabeth von Thüringen erschien 1931 –, psychotherapeutischer Ausbildung, Scheidung sowie Lehr- und Erziehungstätigkeit in den Landerziehungsheimen Haubinda und Gaienhofen (366-372) einer dann auch alleinerziehenden Mutter beschrieben.
Im letzten Kapitel, konzentriert auf die Lebensjahre in der frühen Bundesrepublik, dominiert wieder die Jugendbewegung. Als Schriftstellerin – nach zehn Jahren hatte sie eine Biographie über Annette Droste-Hülshoff abgeschlossen – fand sie für ihre Arbeiten keinen Verlag. Das Ansinnen des Chronisten der Jugendbewegung, Werner Kindt, Elisabeth Busse-Wilson als Autorin für den dritten Band seiner Geschichte der Jugendbewegung zu gewinnen, führte – so legt es die zitierte Korrespondenz in Vorbereitung des angefragten Beitrags über die Frauensiedlung Schwarzerden nahe – zu einer erneuten Auseinandersetzung mit ihren bisher wissenschaftlich bearbeiteten Themen Geschlecht und Jugendbewegung. Diese führte schließlich dazu, dass die Anfrage zurückgezogen wurde.
Zweifelsohne hat Britt Großmann mit ihrer Biographie über Elisabeth Busse-Wilson gerade über die Auswertung des Nachlasses einige Leerstellen in den bisherigen Veröffentlichungen über die jugendbewegte Frau schließen können. Viele Personen und Sachverhalte erläuternde Fußnoten informieren ausführlich über Referenzpunkte im Leben und Werk der Protagonistin. Neben dieser Informationsfülle tun sich aber einige Fragen hinsichtlich des Interpretationsrahmens, der Methodologie und der Disziplingeschichte der Pädagogik auf. Großmann beendet die Lebensbeschreibung nicht mit dem Ende der Weimarer Republik oder des Nationalsozialismus, sie verfolgt den Lebensverlauf weiter bis an sein Ende und zeigt dabei, dass Elisabeth Busse-Wilson in der Nachkriegszeit als Schriftstellerin nicht Fuß fassen konnte. Mit einer Erklärung dafür ist Großmann sehr zurückhaltend, obwohl beispielsweise über den Vergleich mit den Karrieren einiger reformpädagogisch orientierter jugendbewegter Männer, Interpretationsvarianten möglich gewesen wären. Die 1967 abgeschlossene Selbstdarstellung ist in der Beschreibung der einzelnen Lebensstationen immer wieder Bezugspunkt. Die aus der Biographieforschung bekannte Erkenntnis, dass die Verfasser*innen im autobiographischen Schreiben dem gelebten Leben ihren Sinn einschreiben, wird für die Verwendung der Selbstdarstellung Busse-Wilsons allerdings nicht ausreichend reflektiert. Durch die Übernahme von Selbstaussagen der Protagonistin in die Kapitelüberschriften leiten diese den Interpretationsrahmen.
Die Biographie als eine Werk- und Netzwerkanalyse war auch als Zuarbeit zu einer „Diskursgeschichte der Sozialarbeit“ (19) angekündigt. Worin diese – über den bisherigen Kenntnisstand über die Jugendbewegung, die Gilde Soziale Arbeit, Nationalökonominnen als frühe Sozialarbeiterinnen, etc. hinausgehend – bestanden haben könnte, wird hingegen nicht deutlich herausgearbeitet.
EWR 17 (2018), Nr. 1 (Januar/Februar)
Elisabeth Busse-Wilson (1890-1974)
Eine Werk- und Netzwerkanalyse
Weinheim: Beltz Juventa 2017
(482 Seiten; ISBN 978-3-7799-1325-2; 68,00 EUR)
Edith Glaser (Kassel)
Zur Zitierweise der Rezension:
Edith Glaser: Rezension von: GroĂźmann, Britt: Elisabeth Busse-Wilson (1890-1974), Eine Werk- und Netzwerkanalyse. Weinheim: Beltz Juventa 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 1 (Veröffentlicht am 26.02.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377991325.html
Edith Glaser: Rezension von: GroĂźmann, Britt: Elisabeth Busse-Wilson (1890-1974), Eine Werk- und Netzwerkanalyse. Weinheim: Beltz Juventa 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 1 (Veröffentlicht am 26.02.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377991325.html