EWR 8 (2009), Nr. 2 (März/April)

Renate-Berenike Schmidt / Uwe Sielert (Hrsg.)
Handbuch Sexualpädagogik und sexuelle Bildung
Weinheim/München: Juventa 2008
(790 S.; ISBN 978-3-7799-0791-6; 69,00 EUR)
Handbuch Sexualpädagogik und sexuelle Bildung Sexualpädagogik bezieht sich heute nicht mehr nur auf Kinder und Jugendliche, sondern richtet sich auch an Erwachsene – bis ins höchste Alter. Dadurch wird eine Form der Sexualpädagogik fragwürdig, die einst vorrangig mit dem Erziehungsbegriff verknüpft war. So erscheint es folgerichtig, dass das vorliegende Handbuch die Sexualpädagogik um den Begriff der sexuellen Bildung erweitert.

Die Herausgeberin und der Herausgeber sind durch ihre Publikationen zur Sexualpädagogik bestens ausgewiesen – Schmidt nicht zuletzt mit ihrer Habilitationsschrift zum „Lebensthema Sexualität“ und Sielert als Autor und Herausgeber einer Reihe einschlägiger Publikationen. Insgesamt haben 56 AutorInnen aus Wissenschaft und sexualpädagogischer Praxis zum Handbuch beigetragen; fast alle sind in Deutschland tätig.

Wenngleich das Handbuch auch Impulse für Forschung und Theoriebildung geben soll und auch gibt, liegt die besondere Stärke in seinen Sichtweisen auf die praktische Arbeit. Das Handbuch empfiehlt sich mit Recht für sexualpädagogisch Tätige im Erziehungs-, Sozial- oder Gesundheitswesen – und darüber hinaus für alle PädagogInnen, die vielleicht nur ab und zu mit Aspekten von Sexualität befasst sind. Ebenso eignet sich das Handbuch für Studierende in einschlägigen Fächern. Es ist durchweg gut lesbar geschrieben, und die Artikel setzen kaum spezielles Wissen voraus.

Auf eine Einleitung folgen insgesamt 66 Artikel, die zehn Abschnitten zugeordnet sind. Die Artikel sind durch häufige Zwischenüberschriften gut und übersichtlich gegliedert, und am Ende fast jeden Artikels finden sich Literaturangaben, mitunter auch nützliche Hinweise auf Materialien. Tabellen und Abbildungen sind indessen eher selten, was aber nicht als ein Fehlen zu gelten hat. Am Schluss stehen ein Sach- und ein Personenregister sowie Angaben zu den AutorInnen.

Die Inhalte sind orientiert am aktuellen Stand der Diskussion in der „Sexual-Pädagogik“ und an dem der „Sexual-Andragogik“ (15), die in ihren Anfängen steht. Der Anspruch, Sachverhalte erschöpfend zu behandeln oder Vollständigkeit bezüglich sexueller Lebensweisen, der Zugänge der Einzelwissenschaften, der möglichen Themen oder Personen zu erlangen, wird nicht erhoben. Als Rezensent, der in der Allgemeinen Pädagogik zu Hause ist, habe ich nichts vermisst – und war besonders gespannt auf das, was zur sexuellen Bildung gesagt wird. Diesem Stichwort gilt ein eigener Abschnitt, in dem in sieben Artikeln Grundlagen sexueller Bildung erörtert werden: von „Der Mensch – ein Sexualwesen von Anfang an“ (Norbert Kluge) bis „Die Kunst des Scheiterns und Gelingens in Lust und Liebe“ (Elke Mahnke, Sielert).

Da der Umfang der Rezension nicht ausreicht, alle Inhalte vorzustellen, wähle ich aus. Ich orientiere mich an dem, was Herausgeberin und Herausgeber hervorheben, weil es neu sei oder aus neuer Sicht betrachtet werde. Das trifft am wenigsten für den ersten Abschnitt zu, der eher eine Bestandsaufnahme bezüglich Geschichte, Theorie und Forschungsstand der Sexualpädagogik ist. Doch schon der zweite Abschnitt ist explizit in die Zukunft gerichtet, indem es hier um sexuelle Bildung „als neuem Zentralbegriff“ (16) geht. Diesen hat Sielert schon im vorigen Abschnitt definiert (im Artikel „Sexualpädagogik und Sexualerziehung in Theorie und Praxis“): „Sexuelle Bildung meint die über präventive Kompetenzen hinausgehende und durch lernförderliche Impulse gestützte Selbstformung der sexuellen Identität einer Person mit dem Ziel ihrer individuell befriedigenden und sozial verträglichen Entfaltung auf allen Persönlichkeitsebenen und in allen Lebensaltern“ (39; Hervorhebung im Original). Im Artikel von Karlheinz Valtl wird diesem Begriff später sogar paradigmatischer Status zugeschrieben („Sexuelle Bildung: Neues Paradigma einer Sexualpädagogik für alle Lebensalter“), was gegenwärtig allerdings noch mehr Wunsch als Wirklichkeit ist.

Der dritte Abschnitt greift die Diskussion um Normen und Werte auf. Spiritualität, die Sexualethiken der christlichen Kirchen und des Islam sind Gegenstand. „Gesellschaftliche Normen der Sexualität“ (Rüdiger Lautmann) sind dann Thema im vierten Abschnitt, der sich auch auf das Individuelle, die „Diversität von Begehren, sexuellen Lebensstilen und Lebensformen“ (Elisabeth Tuider) bezieht. Insofern sind die Themen hier sehr breit gestreut – unter anderem auch „Sexuelles Begehren im Cyberspace“ (Nicola Döring) und „Sexualität und Behinderung“ (Ralf Specht). Der fünfte Abschnitt dagegen bietet wiederum eine stärker fokussierte Perspektive, und zwar auf sexuelle „Genderbildung“ (ein nicht unbedingt geläufiger Begriff, der auch im Handbuch in Anführungszeichen geschrieben ist). Enthalten sind Artikel zur Mädchen- und Jungenarbeit sowie zur Frauen- und Männerbildung: wobei dies aber keinesfalls als einfache Zuordnung gedacht ist, sondern unter der Prämisse steht, dass gelebte Sexualität „ein Kontinuum mit vielen möglichen intraindividuellen [!] Varianten ist“ (18).

Am Lebenslauf ausgerichtet ist der sechste Abschnitt: von der „Sexualität im Kindesalter“ (Christa Wanzeck-Sielert) bis zur „Sexualität in Alten- und Pflegeheimen“ (Erich Grond). Letzteres ist ein Thema, mit dem das Handbuch weitgehend Neuland betritt, dessen Berechtigung es aber gut begründet: Sexualität wird hier verstanden als „Sehnsucht nach Zuwendung und Körperkontakt“ (427), als ein sexuelles Grundbedürfnis, das nicht vom Alter abhängt oder durch Pflegebedürftigkeit zum Erliegen kommt; dies wird durch Ergebnisse einer empirischen Studie belegt. Es zeigt sich hier auch, dass das Handbuch Ernst macht, Sexualpädagogik unter dem Zentralbegriff sexuelle Bildung auf alle Lebensalter auszudehnen. Der siebte Abschnitt gilt den Gefahren- und Schutzdiskursen: unter anderem bezüglich HIV/AIDS, sexueller Gewalt, sexuellem Missbrauch und Jugendmedienschutz. Unter dem Eindruck öffentlicher Debatten verwahren sich Herausgeberin und Herausgeber jedoch dagegen, Sexualpädagogik als eine Pädagogik zur Gefahrenabwehr zu etikettieren: Deshalb ist hier ein Artikel über „Sexuelle Rechte – eine Grundlage weltweiter sexueller Bildung“ (Elke Thoss) ebenso wichtig. Der achte Abschnitt gilt dann der Institution Familie, den Institutionen des Erziehungs- und Bildungswesens – von Kindertageseinrichtungen bis zu den Volkshochschulen – und anderen gesellschaftlichen Institutionen wie etwa unter dem Thema „Sexualität in Justizvollzugsanstalten“ (Döring).

Fragen der Didaktik und Methodik sowie Fragen von Medien und Materialien greift der neunte Abschnitt auf. Herausgeberin und Herausgeber weisen darauf hin, dass laut neueren Untersuchungen bei Kindern und Jugendlichen ein Wissen über komplexere sexuelle Vorgänge immer noch Mängel aufweist: Ein Thema wie „Körper- und Sexualaufklärung“ (Beate Martin) bleibt deshalb aktuell. Es geht in diesem Abschnitt aber auch um Handlungsformen wie „Sexualpädagogische Beratung“ (Renate Freund), „Sexfilme(n) – Sexualpädagogische Videoarbeit mit Jugendlichen“ (Andreas von Hören) oder „Virtuelle Beratung Jugendlicher“ (Alexandra Klein). Zum Schluss handelt der zehnte Abschnitt von der Professionalisierung der Sexualpädagogik: Die Artikel legen eine Bestandsaufnahme vor und diskutieren die zukünftige Perspektive. Dabei wird auf die sexualpädagogische Ausbildung von Studierenden ein besonderes Augenmerk gerichtet, und auch die Frage sexueller Bildung wird nochmals aus erziehungswissenschaftlicher Sicht angerissen.

Rückblickend lässt sich – ausgehend vom Leseinteresse des Rezensenten – sagen, dass viele AutorInnen sexuelle Bildung als neuen Zentralbegriff der Sexualpädagogik noch gar nicht gebrauchen. Der Begriff ist auch nicht überall, wo er verwendet wird, mit einem konkretisierten Vorstellungsinhalt verbunden. Seitens seines exponiertesten Vertreters wird das so genannte neue Paradigma auf „Akzentverschiebungen“ (Valtl, 127), obzwar „in einigen wesentlichen Punkten“ (125), zurückgenommen. Vor allem Subjekthaftigkeit und Selbstgestaltung werden damit unter Berücksichtigung sozialer, psychologischer und kultureller Bedingungen stärker betont sowie Sexualität im Kontext eines lebenslangen Lernens. Das hat Plausibilität, auch wenn aus erziehungswissenschaftlicher Sicht noch weitere Begründung zu leisten ist (vgl. dazu Kluges Artikel: „Sexuelle Bildung: Erziehungswissenschaftliche Grundlegung“, 115 ff.). LeserInnen, die mit dem grundsätzlichen Verständnis sexueller Bildung übereinstimmen, werden im Handbuch schon jetzt Anstöße zum Weiterdenken, zur Reflexion und für die praktische Arbeit finden.
Christian Beck (Wörrstadt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christian Beck: Rezension von: Schmidt, Renate-Berenike / Sielert, Uwe (Hg.): Handbuch Sexualpädagogik und sexuelle Bildung. Weinheim/München: Juventa 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 2 (Veröffentlicht am 27.03.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377990791.html