Im vorliegenden Sammelband wird das Verhältnis von Ethik und Beruf beleuchtet. Der Anspruch, Jugendliche in ihrer moralischen Entwicklung zu fördern, lässt sich unter anderem aus dem Berufsbildungsgesetz sowie einigen Handreichungen zur Erarbeitung der Rahmenlehrpläne der Kultusministerkonferenz ableiten (7). Moralisches Handeln, mit einer entsprechenden Ethik untermauert, zu fördern, wäre folglich eine Zielgröße beruflicher Bildung. Seit jeher ist ein Anspruch der beruflichen Bildung, Jugendliche auch in ihrer Persönlichkeit zu stärken und zu fördern. Darunter subsumierbar sind folglich auch die moralische Entwicklung der Auszubildenden sowie die individuelle Auseinandersetzung mit dem eigenen Beruf und seinen je spezifischen Anforderungen. Dieser Band möchte mit Hilfe verschiedener interdisziplinärer Zugänge die Fachdiskussion weiter in Gang halten und neue Perspektiven erschließen. Geschrieben sind die Beiträge für alle, die an der Gestaltung und Durchführung beruflicher Bildung beteiligt sind oder jene, die durch Forschung an ihrer theoretischen Fundierung mitarbeiten. Die Themen im Sammelband werden größtenteils anhand von Herausforderungen bearbeitet, die sich Akteuren in kaufmännischen Berufen stellen. Vor allem die theoretischen Grundlegungen und Zugänge im ersten Teil des Bandes lassen sich jedoch auch auf gewerblich-technische Berufe sowie andere Tätigkeitsbereiche übertragen.
Die Beiträge ordnen sich, nach den einleitenden Worten, in zwei Themenkomplexe: zum einen allgemeine Anregungen zum Thema Ethik und Beruf sowie zum anderen domänenspezifische Arbeiten im kaufmännischen Bereich.
Ingo Pies liefert mit seiner Analyse von Individual- und Institutionenethik eine erste Grundlage, indem beide Ethiken systematisch beschrieben und zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Einige der späteren Beiträge referieren immer wieder auf die Unterscheidung jener beiden Kategorien von Ethik. Auf Fehlverhalten von marktwirtschaftlichen Akteuren reagiert die Öffentlichkeit oft mit Kritik und moralischen Ansprachen auf der individuellen Ebene (18). Da diese Akteure in Kontexten übergeordneter Institutionenethik agieren, ergeben sich Situationen, die in ihrer Komplexität zu Gewissenskonflikten führen können. Die Folge kann eine moralische Überforderung sein, die im Extremfall in die zwei Pathologien der Moderne mündet – Zynismus und Moralismus. Dieser Beitrag schärft den Blick für die individuellen Möglichkeiten moralischen Handelns marktwirtschaftlicher Akteure. Pies unterlegt seine Herleitung mit verständlichen Schaubildern, die seine Ausführungen präzisieren.
Klaus Beck greift die von Pies dargelegte Differenzierung auf und bietet mit dem berufs- und wirtschaftspädagogischen Konzept der Beruflichkeit einen Zugang zur Individualethik. So birgt der Prozess der beruflichen Sozialisation das Potenzial zur Entwicklung einer weiteren moralischen Instanz, der Berufsmoral. Im Zusammenspiel von „Idealitätskognition“, einem Idealbild der individuellen Berufsgestaltung, und „Sinnkognition“, der Vorstellung, als Teil der Gesellschaft Sinnvolles zu leisten, konstituierten sich Beruflichkeit und mit ihr berufsmoralische Überzeugungen (45). Angefangen mit der eigenen Berufsausbildung und der späteren Tätigkeit im Beruf sowie den jeweiligen Rahmenbedingungen entwickeln Individuen Berufskonzepte. Damit verbunden ist auch das Subjektivieren von Regeln und gesetzten Normen. Beck zeigt auf, wie der eigene Beruf, auch in der heutigen schnelllebigen Zeit, moralische Orientierung bieten kann.
Diesem Zweck dienlich können entsprechende, ethisch reflektiert Leitbilder sein. Welche Möglichkeiten im Bereich der Marktwirtschaft dafür bestehen, verdeutlicht Detlef Aufderheide mit dem Leitbild des ehrbaren Kaufmanns. Schlussendlich gelte, es jungen Kaufleuten während ihrer Ausbildung zu verdeutlichen, dass in Marktwirtschaften „der Bessere gewinnen möge“ (63), nicht der Rücksichtslosere. Die Lehren aus der Finanzkrise zeigen, wie aktuell ein solches Leitbild sein kann. Voraussetzung wäre aber auch, dieses Leitbild institutionell zu verankern und durch entsprechende Rahmenbedingungen zu flankieren, wie Pies vorher bereits anmerkte.
Marktwirtschaftliche Akteure treffen täglich Entscheidungen, bei denen sie unter anderem auch der Versuchung wiederstehen müssen, sich selbst in Transaktionen zu bereichern. Das Konzept der moralischen Motivation wird oft zur Erklärung für moralisches Handeln in diesen Situationen herangezogen. Gerhard Minnameier unterzieht es in seinem Beitrag einer kritischen Würdigung, indem er die Konzepte des moralischen Internalismus und Externalismus diskutiert und gegeneinander in Stellung bringt. Dabei verdeutlicht er, welche selbstschädigenden Gefahren für Personen bestehen können, wenn in marktwirtschaftlichen Situationen moralische Motivation gegen faktische Restriktionen in Stellung gebracht wird. Auch er verdeutlicht sein Anliegen durch Modelle und klare begriffliche Differenzierungen.
Tim Burns und Michael Niekamp bearbeiten in ihrem Beitrag ein klassisches Thema der Berufs- und Wirtschaftspädagogik, die Berufswahl. Dabei stellen sie die Bewegung der „effektiven Altruisten“ vor. Diese prüften ihr Handeln anhand mehrerer Fragestellungen (93), um anschließend die Handlung auszuwählen, welche den maximalen gesellschaftlichen Nutzen berge. Das „80.000 Hours“- Programm versucht, dies auf die Berufswahl und den Beruf zu übertragen. Die Autoren beleuchten die Tücken und Herausforderungen, die mit diesem Vorgehen verbunden sind. Nach der systematischen Analyse der Konzepte werden Ansätze vorgestellt, die eine Berufswahl im Sinne des „effektiven Altruismus“ ermöglichen könnten.
Auch Birgit Ziegler legt ihrem Beitrag das Thema Berufswahl zugrunde. Anhand der Eingrenzungs- und Kompromisstheorie nach Gottfredsen und deren Weiterentwicklung vollzieht sie die Ausformung von Berufswünschen von der Kindheit an nach. Beginnend mit der kindlichen Beschäftigung mit Beruf entwickelten sich sukzessive auch berufsmoralische Vorstellungen und Berufskonzepte. Birgit Ziegler sieht ebenda erhöhten Forschungsbedarf, wenn sie fragt, wie sich „kindliche Berufskonzepte konstituieren und welchen Einfluss gesellschaftliche Norm- und Wertorientierungen darauf haben“ (123). Nachvollziehbarer und erklärbarer würden dann berufswahlrelevante Effekte von Selbst- und Fremdselektion.
Im zweiten Teil des Sammelbandes findet eine domänenspezifische Auseinandersetzung statt. Manuel Wörsdörfer gibt mit seinem Beitrag die Richtung vor und eröffnet dabei Perspektiven der Neurowissenschaften. Studienergebnisse deuteten darauf hin, dass Studierende volkswirtschaftlicher Studiengänge in unterschiedlich konstruierten Spieldesigns (137ff, 142) eigeninteressierter und egoistischer handelten als Studierende anderer Professionen. Wörsdörfer spürt zunächst der Frage nach, ob dies wohl auf Selbstselektions- oder auf Indoktrinationseffekt zurückzuführen sei (139ff). Eine klare und eindeutige Abgrenzung der Effekt scheint nicht möglich. Wörsdörfer stellt im weiterem Verlauf den Indoktrinationseffekt in den Mittelpunkt. Forschungen aus der Neurowissenschaft deuteten auf eine Formbarkeit des Gehirns bis ins hohe Alter hin, diskutiert unter dem Begriff „Neuroplastizität“ (145). Aus pädagogischer Sicht wäre es daher angeraten, Studieninhalte um interdisziplinäre Zugänge und reflexive Methoden zu erweitern, um eben weitere Denkanstöße zu geben und so die Formbarkeit des Gehirns zu nutzen.
Alexander Lenger widmet sich in seinem Beitrag ebenso dem Indoktrinations- uns Selektionseffekt und zeigt auf, welche Erkenntnisgewinne durch die Hinzunahme des Habituskonzeptes möglich wären. Im Mittelpunkt des Beitrags stehen Wirtschaftswissenschaftler, mit „[…] ihre(n) fachspezifischen Präferenzen sowie ihre(r) Sozialisation in die spezifische Fachkultur […]“ (157). Nach primärer und sekundärer Sozialisation müsse der Habitus weiterhin als offen oder zumindest leicht veränderbar konzipiert werden (166). Ein „feldspezifischer Habitus“ (167) werde so erklärbar. Lenger kann zeigen, dass auch wenn ein Studium in der Volkswirtschaft hauptsächlich von Personen mit bestimmten habituellen Dispositionen gewählt wird, Veränderungen im Studium durchaus noch denkbar sind. Methodisch empfiehlt auch er eine verstärkte Einbindung reflexiver Studieninhalte sowie ihre Evaluation (171).
Eberhard Schnabel analysiert in seinem Beitrag Finanzmärkte als funktionale Kommunikationssysteme, welche sich durch ihre spezifische Eigenlogik charakterisieren. Zahlungsversprechen einzuhalten, Liquidität zu erhalten und Renditen zu erwirtschaften sind die wesentlichen Ziele (182). Das zu schützende öffentliche Gut im Finanzsystem wäre daher die Achtung und Einhaltung von Zahlungsversprechen (187). Weiterhin müssen Informationen über Kreditwürdigkeit dann auch an wirtschaftliche Akteure weitergegeben werden. Das Finanzsystem muss sich also strukturell an weitere funktionale Systeme koppeln. Die Rahmenbedingungen für Akteure im Finanzsystem müssen letztlich von gesellschaftlicher Ebene her geregelt werden.
Im letzten Beitrag wird explizit eine Beratungssituation über Finanzdienstleistungen thematisiert. Diese Situation ist, je nach finanzbezogener Kompetenz des zu Beratenden, durch ein Wissensgefälle charakterisiert, was hohe Anforderungen an die Integrität des Experten stellt. Karin Heinrichs und Evelyne Wuttke zeigen Zugänge über das Konstrukt der Financial Literacy und dem Happy-Victimizer Pattern. So werden vor allem Attributions- und Handlungsmuster des, bewusst stereotypisch dargestellten, Verkäufers beschreibbar (209). Unternehmen könnten durch Verankerung von Verhaltenskodizes auf institutioneller Ebene, Anreize für das gewünschte Verhalten ihrer Verkäufer schaffen.
Durch die Vielzahl und die Unterschiedlichkeit der enthaltenen Beiträge bietet der Sammelband mannigfaltige Perspektiven auf moralisches Handeln im Berufsalltag. Den Autorinnen und Autoren gelingt es zu zeigen, welche Möglichkeiten für Individuen überhaupt bestehen, in marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen moralisch zu handeln, und wo die Grenzen liegen. Akteuren der beruflichen Bildung, die einen systematischen Zugang zu Berufsmoral, Ethik und Beruf suchen, kann dieser Sammelband empfohlen werden. Wer sich einfach inspirieren lassen möchte oder nach Denkanstößen sucht, ebenso. So wird in den verschiedenen Beiträgen gelegentlich auch auf Forschungslücken hingewiesen, die durch weitere theoretische, aber auch praktische Forschung bearbeitet werden könnten.
EWR 16 (2017), Nr. 2 (März/April)
Ethik und Beruf
Interdisziplinäre Zugänge
Reihe: Wirtschaft – Beruf – Ethik
Reihe: Wirtschaft – Beruf – Ethik
Bielefeld: W. Bertelsmann 2016
(220 S.; ISBN 978-3-7639-5461-2; 39,90 EUR)
Jens ReiĂźland (Erfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jens ReiĂźland: Rezension von: Minnameier, Gerhard (Hg.): Ethik und Beruf, Interdisziplinäre Zugänge Reihe: Wirtschaft – Beruf – Ethik. Bielefeld: W. Bertelsmann 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.03.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978376395461.html
Jens ReiĂźland: Rezension von: Minnameier, Gerhard (Hg.): Ethik und Beruf, Interdisziplinäre Zugänge Reihe: Wirtschaft – Beruf – Ethik. Bielefeld: W. Bertelsmann 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.03.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978376395461.html