EWR 22 (2023), Nr. 4 (Oktober)

Christine Zeuner / Antje Pabst
Wie Bildungsurlaub wirkt
Eine subjektwissenschaftliche Studie zu langfristigen Wirkungen von Bildungsurlaub und Bildungsfreistellung
Frankfurt a. M.: Wochenschau Verlag 2023
(613 S.; ISBN 978-3-7344-1382-7; 59,90 EUR)
Wie Bildungsurlaub wirkt Wie wohltuend es ist, sich in eine Auseinandersetzung zu vertiefen, die ihre Darstellung nicht auf wenige Seiten eines Artikels beschränken muss, sondern einen umfassenden Einblick in Details einer weit ausholenden Studie geben kann. Christine Zeuner und Antje Pabst widmeten sich in einem Forschungsprojekt der überaus diffizilen Aufgabe, pädagogische Wirkungen von Bildungsurlaub mittels qualitativer Erhebungs- und Auswertungsmethoden erfassbar und sichtbar zu machen. Die Autorinnen legen damit umfassende, methodisch und theoretisch wohl fundierte, vielfältige Ergebnisse vor.

Christine Zeuner und Antje Pabst verorten ihre Studie in der kritischen Erwachsenenbildung, was sie durch die theoretische Einbettung in kritische Bildungstheorie, vor allem aber über die zentrale Orientierung an den kritischen lerntheoretischen Ansätzen von Klaus Holzkamp, Jack Mezirow und Knud Illeris ausführen. Die kritische Einbettung zeigt sich aber auch im ausformulierten Grundinteresse an der politischen und demokratischen Bedeutung von Bildung sowie Bildungsurlaub und insbesondere am forschungsleitenden Anspruch, Partizipation, Urteils- und Kritikfähigkeit als bedeutsam für die gesellschaftlichen Veränderungen, für politische Prozesse und für subjektive Verfügungserweiterungen in den Blick zu nehmen. Die Befragungen und Auswertungen erfolgen dementsprechend auch primär entlang dieser kritischen und politischen Anliegen.

Theoretische Ausgangspunkte der Studie sind die subjektwissenschaftliche Lerntheorie von Klaus Holzkamp und die Theorie transformativen Lernens von Jack Mezirow und Knud Illeris. Gefragt wird danach, ob und inwiefern durch die Inanspruchnahme von Bildungsurlaub expansives Lernen (Holzkamp) und transformative Bildungsprozesse (Mezirow, Illeris) angestoĂźen werden. Methodologisch orientiert sich die Studie an der Grounded Theory mit ihren Suchbewegungen und dem Anspruch, Verallgemeinerungen und Theoriegenerierung anzustreben.

Die Untersuchung ist multiperspektivisch in Form einer Mehrebenenanalyse konzipiert, um das dichte Wirkungsgefüge sichtbar zu machen: Auf der Makro- und Mesoebene werden gesetzliche Rahmenbedingungen und die Perspektiven von Bildungseinrichtungen erkundet, die dann eng mit dem Kern der Studie – der Mikroebene der subjektiven Wahrnehmungen von Personen, die mehrfach Bildungsurlaub in Anspruch genommen haben – verknüpft werden, wodurch erst die komplexen Zusammenhänge sichtbar gemacht werden können. Die der Analyse zugrunde liegenden empirischen Daten werden aus umfangreichen Dokumentenanalysen (Gesetzestexte, bildungspolitische Dokumente, historische und aktuelle wissenschaftliche Diskurse) gewonnen. Zentrale Datengrundlage sind aber die insgesamt 53 Interviews und zwei Gruppendiskussionen. Auf der Makroebene wurden mit leitfadengestützten Expert:inneninterviews acht Personen aus der Bildungspolitik befragt. Auf der Mesoebene fanden ebenfalls leitfadengestützte Interviews mit 29 Expert:innen statt. Für die Mikroebene wurden mittels biographisch-explorativer Interviews 27 Mehrfachteilnehmende befragt und diese Erkundung mit zwei Gruppeninterviews (mit vier bzw. fünf Mehrfachteilnehmenden) ergänzt. Die Ergebnisse dieser Studie – deutlich nachweisbare Wirksamkeiten – werden dabei nicht nur durch diese mehrperspektivische Herangehensweise besonders eindringlich, sondern insbesondere dadurch, dass die Autorinnen die sich aus dem Datenmaterial herausschälenden Ergebnisse konsequent mit vielfältigen theoretischen Erkenntnissen anreichern, wodurch die Diskussionen und Interpretationen stets theoriegeladen und dementsprechend fundiert und ergiebig werden.

Die Autorinnen beginnen ihr Buch mit einer Darlegung ihrer erkenntnisleitenden Interessen und einer ersten theoretischen Einbettung (Kapitel 1). In den beiden folgenden Kapiteln wird zunächst die Geschichte des Bildungsurlaubs mit besonderem Blick auf die bis heute fortdauernden Kontroversen (Kapitel 2) und anschließend vorhandene Forschungen zu Bildungsurlaub zusammengetragen (Kapitel 3). Beides trägt erheblich dazu bei, bisherige Diskurse um den Bildungsurlaub kompakt zu versammeln und die eigene Studie darin zu verorten. In den nächsten beiden Kapiteln wird zunächst die Möglichkeiten und Abgrenzungen von Wirkungsforschung diskutiert (Kapitel 4) und daran anschließend die Konzeption der Studie vorgestellt (Kapitel 5). Im Anschluss daran führt die Diskussion der Ergebnisse auf der Makro- und Mesoebene (Kapitel 6 & 7) an den Kernpunkt der Studie heran, die Perspektiven der Teilnehmenden, die subjektwissenschaftlich eingebettet und diskutiert werden. Zunächst beschreiben die Autorinnen die Datenerhebung (Kapitel 8). Anschließend werden anhand von Schlüsselkategorien, wie beispielsweise subjektive Lernerfahrungen, Horizonterweiterung und Transformationsprozesse, die erhobenen Daten entlang der theoretischen Perspektive der Studie ausgewertet (Kapitel 9). Im Anschluss daran werden die drei Ebenen und die gewonnen Erkenntnisse nochmals mit leicht verändertem Blick auf Emotionen, Zeitfaktoren, Arbeitszusammenhänge und gesellschaftliche Faktoren beleuchtet und in ihrer Verschränkung sowie ihren interdependenten Wirkungszusammenhängen interpretiert (Kapitel 10). In den zwei Resümees erfolgt eine Diskussion der Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse (Kapitel 11) und es wird aus der Empirie heraus ein Entwurf einer praxisorientierten Handlungstheorie vorgelegt, in der Handlungsmodi der Teilnehmenden – neuerlich in enger Verbindung mit den theoretischen Grundlagen – in ein allgemeineres Erklärungsmodell eingebettet werden, die für eine Reflexion von potenziellen Wirkungen Anstöße liefern soll (Kapitel 12).

Die Ergebnisse der Studie lassen sich aufgrund ihrer Breite und Tiefe hier nicht annähernd referieren, sondern es lassen sich lediglich einige aus meiner Sicht besonders interessante und relevante Aspekte kurz benennen: Zunächst möchte ich die Zusammenschau historischer Entwicklungen, gesellschaftlicher Diskurse und vorhandener Forschungen sowohl zu Bildungsurlaub als auch zu erziehungswissenschaftlichen Wirkungsforschungen hervorheben, die einerseits dokumentarisch wertvoll ist und andererseits den Gegenstand „Bildungsurlaub“ auch für nicht in das Thema eingearbeitete Personen verstehbar und einordenbar macht. Zugleich werden über die Makro- und Mesoebene die komplexen gesetzlichen Regelungen und organisatorischen Herausforderungen, aber ebenso die Kontroversen um Bildungsurlaub eindringlich herausgearbeitet. Nicht zuletzt wird die Besonderheit eines Rechts auf Freistellung für Bildung, die große inhaltliche Freiheit und das explizit formulierte Anliegen, auch politische Bildung zu ermöglichen, deutlich hervorgehoben.

Beeindruckend ist aber vor allem das zentrale Ergebnis der Studie: Anhand von vielen Details und Analyseschritten wird eine Wirkung von Bildungsurlaub nachgewiesen, die sowohl expansive Lernerfahrungen und transformative Veränderungen umfasst als auch darüber hinaus Wirkungen in Richtung Beruf und Arbeitswelt entfaltet. Selbstverständlich nicht bei allen und nicht durchgängig, aber in hohem Ausmaß. Expansive und transformative Wirkungen für die Teilnehmenden zeigten sich unter anderem an positiven Veränderungen von Lerninteressen, an Erweiterungen von Denkhorizonten, an einer größeren Urteilskraft oder an persönlichen Erweiterungen von Haltungen und Handlungsmöglichkeiten, wofür die Autorinnen bei der Auswertung auch wiederum auf die eingangs dargelegten Theorien Bezug nehmen. Die Analyse zeigt auch, dass die didaktisch-methodischen Settings in Form von mehrtägigen Veranstaltungsformen und die teilnehmendenorientierte und ergebnisoffene Gestaltung ohne Prüfungsdruck oder Abschlussorientierung einen nicht unerheblichen Anteil an dieser Wirkung haben.

Wirkungen auf strukturelle und gesellschaftliche Aspekte zeigen sich unter anderem daran, dass der stark ablehnenden Haltung von Seiten der Arbeitgeber:innen gegenüber dem Bildungsurlaub – er beeinträchtige den Betrieb, bringe ihm nichts, schade vielleicht sogar – diese Studie entgegensetzt, dass selbst nichtberuflich genutzte Bildungsurlaube durchaus positive Wirkungen auf Arbeitszusammenhänge haben. Und nicht zuletzt wird gezeigt, dass auch die gesetzlich verankerten Ziele der politischen Bildung oder der Demokratiestärkung mittels Bildungsurlaubs durchaus in hohem Maß erreicht werden. Auch wenn die Auswertungen etwas stärker auf das kritische Forschungsinteresse fokussiert hätten werden können und die Kategorien zuweilen etwas diffus bleiben, auch wenn Bezüge zu den eingangs eingeführten Theorien teilweise direkt, teilweise aber auch nur indirekt hergestellt werden, geben die Ergebnisse eindrucksvolle Einblicke, die sogar deutlich über die Fragestellung hinausreichen.

Das Buch von Christine Zeuner und Antje Pabst ist keines, das in einem Zug durchgelesen werden könnte und aus meiner Sicht auch nicht so gelesen werden sollte. Bereits der Umfang, mehr aber noch der Detailreichtum könnten allzu leicht dazu führen, relevante Ergebnisse und erkenntnisreiche Feinheiten zu übersehen. Vielmehr empfiehlt sich eine selektive Lesart entlang von spezifischen, eigenen Interessen, ohne aber den Gesamtkontext der Studie außer Acht zu lassen. Die mehrfach wiederkehrenden Einbettungen und Zielperspektiven der Studie sind bei einer solchen Lesart durchaus hilfreich, wirken zuweilen aber etwas redundant. Die sehr stark gegliederte Struktur des Buches mit den zahlreichen Kapiteln und Unterkapiteln macht es zunächst etwas schwer, sich einen ersten orientierenden Überblick zu verschaffen. Zugleich erleichtert sie aber auch das Auffinden und Herausfiltern von einzelnen Aspekten und Details, wenn nicht das ganze Buch gelesen wird.

Das Buch von Christine Zeuner und Antje Pabst trägt gerade durch seinen Detailreichtum zu einer sehr differenzierten und tiefreichenden Erkenntnislage bei, es ist eine Art Mine, aus der zahlreiche Schätze geborgen werden können. Für mich besonders interessant waren unter anderem Aspekte, die weit über den Bildungsurlaub hinausreichen. Beispielsweise finden sich wertvolle Ansatzpunkte für weitere Erkundungen von biographischen und gesellschaftlichen Einflüssen auf die (Un-)Möglichkeit expansiven und transformativen Lernens. Die abschließend formulierten Paradoxien regen weiters dazu an, die Kritik am öffentlichen Diskurs um Weiterbildung zu intensivieren, weil deutlich wird, dass der Appell zu lebenslangem Lernen eine hohle Phrase ist, wenn Initiativen und Haltungen derselben Akteure – Politik, Arbeitgeber:innen etc. – den Worten diametral entgegenstehen. Besonders bemerkenswert und für die Erwachsenenbildung höchst relevant ist aus meiner Sicht aber die Bedeutung des Lernsettings für Lern- und Bildungserfahrungen, die politische, vielleicht sogar kritische Wirkung entfalten können, die persönliche Erweiterungen ermöglichen, die Denk- und Erfahrungsweisen und eventuell sogar Handlungsweisen verändern. Ergebnisoffenheit, Teilnehmendenorientierung und nicht zuletzt Lern- und Bildungsräume ohne Orientierung an Nutzeneffekten oder Kompetenznachweisen waren einst essentielle, inzwischen weitgehend verdrängte Grundlagen der Erwachsenenbildung, die aber – wie diese Studie eindrücklich zeigt – Wirkung haben.
Daniela Holzer (Graz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Daniela Holzer: Rezension von: Zeuner, Christine / Pabst, Antje: Wie Bildungsurlaub wirkt, Eine subjektwissenschaftliche Studie zu langfristigen Wirkungen von Bildungsurlaub und Bildungsfreistellung. Frankfurt a. M.: Wochenschau Verlag 2023. In: EWR 22 (2023), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.10.2023), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978373441382.html