„Unser Buch entstand in aufgewühlten Zeiten“, schreiben die HerausgeberInnen im Vorwort vom Februar 2016. Die vermutete Randständigkeit der Rassismuskritik in der Geschichtsdidaktik ist von der Aktualität eingeholt worden. Doch Rassismus ist kein neues gesellschaftliches Problem. Nur konnte es lange als Ausdruck eines Extremismus eingeordnet und somit aus der alltäglichen pädagogischen Vermittlungsarbeit herausgehalten werden. Der Band beabsichtigt, dies zu ändern. Zuschnitt und inhaltliche Ausrichtung der Beiträge machen eine Diskrepanz deutlich, die zwischen einer sozial- und kulturwissenschaftlich weit fortgeschrittenen Debatte um Rassismus und einem geschichtsdidaktischen Nachholbedarf besteht. Ganz explizit geht es um die Wirkungen von Rassismus im eigenen Fachgebiet und nicht in erster Linie um die Vermittlungsarbeit an die SchülerInnen. Der selbstkritische Ansatz der Rassismuskritik wird aufgenommen und teilweise gut umgesetzt. Die HerausgeberInnen machen sichtbar, wie im eigenen Fach diejenigen, „die keine deutsche Sesshaftengeschichte aufweisen“, zum „Störfall“ werden (13) und wie ungebrochen vielfach noch das dichotome Andersmachen funktioniert. Die Frage allerdings, ob die Herausgebenden berechtigt seien, dieses Buch zu machen, entspringt einem identitär-moralisierenden Diskurs, der in Teilen der Rassismusforschung vorhanden ist. Am Anfang dieses längst überfälligen Buches wirkt diese Frage wie ein Versuch, sich gegen zu erwartende Kritik abzusichern.
Die Beiträge sind drei thematischen Bereichen zugeordnet: Begriffe, Befunde und Programmatik. Der erste begriffsbezogene Artikel von Adam Hochman und Veronika Lipphardt widmet sich ausführlich aktuellen Kontroversen um die Kategorie race in der Genetik. Eingefordert wird eine „komplexe Übersetzungsarbeit“ (21) bei jeder Erforschung der Geschichte menschlicher Vielfalt. Die VerfasserInnen beziehen sich auf die wissenschaftsphilosophische Debatte um einen „racial naturalism“, bei der ein biologisch informiertes, aber nicht essentialistisches Rassekonzept zu entwickeln versucht wird. Es verwundert etwas, welches Gewicht diesem Versuch gegeben wird, um nach dem Durchgang durch einschlägige Fachzeitschriften zur UNESCO-Erklärung aus den 1950er Jahren zurückzukommen, die biologische Diversität unter Menschen „nicht als abgegrenzt und clusterbildend“ betrachtet (45). Insofern repräsentieren die „Racial Naturalists“ vor allem ihr eigenes Bedürfnis, die Struktur genetischer Diversität in Rassekategorien zu erfassen. Dass dieser Beitrag das erste Kapitel des Bandes eröffnet, macht deutlich, dass es sich beim Rassismus um eine fachübergreifende Obsession handelt, von der Natur- und Sozialwissenschaften gleichermaßen erfasst sind.
Einen sehr produktiven Beitrag zur geschichtsdidaktischen Rassismuskritik leistet Bärbel Völkel, die dem immer noch chronologisch ausgerichteten Geschichtsunterricht einen inhärenten Nationalismus nachweist. Anhand geschichtsdidaktischer Grundlagenwerke und Positionierungen des Geschichtslehrerverbandes zeigt Völkel, wie das „genetisch-chronologische Prinzip europäisch-deutscher Geschichte“ (55) die Bildungspläne dominiert und ein ethnozentrisches Bild von Geschichte vermittelt. Darin werden Wurzeln und Stammbäume als gängige Metaphern benutzt. Rassismus definiert die Verfasserin als „Konsequenz einer bestimmten Art, historisch zu denken“ (67), der nur begegnet werden kann, wenn „Menschen ihre Bildung dafür nutzen, ihr Denken zu ändern“ (ebd.).
Wie WeiĂźsein als Norm im Geschichtsunterricht wirkt und mit welchen nationalgeschichtlichen Narrativen eine Geschichte von WeiĂźen fĂĽr WeiĂźe vermittelt wird, diskutieren Christian Czyborra, Mohamed Refai und Nalan Yağci. WeiĂźsein wird dabei als „dichotomes Strukturprinzip“ eingesetzt (88), das nicht-weiĂźen SchĂĽlerInnen Partikularinteressen zuschreibt, während bei weiĂźen SchĂĽlerInnen von universellen Interessen ausgegangen wird. Im Kontext Schule wird WeiĂźsein auf den Ebenen des Bildungssystems und der Unterrichtsinhalte wirksam, wie hinsichtlich des Handelns der Lehrkraft und hinsichtlich der systemischen Positionen der SchĂĽlerInnen.
Das Kapitel der „Befunde“ eröffnet Bea Lundt mit einer Reflexion von Erfahrungen deutscher und afrikanischer Studierender bei einem Austausch in Ghana. Lundt rekonstruiert anhand des „Handbuchs der Geschichtsdidaktik“ von 1979, wie afrikanisches Geschichtsdenken durchgehend ausgeblendet worden ist, weil AfrikanerInnen nur als Opfer der Ausgrenzung ohne eigene Stimme auftauchten. Lundt macht auf „Konzepte im Globalitätsdiskurs in der Tradition kritischer Pädagogen“ (110) aufmerksam, wie Paulo Freire, James Tooley und Dipesh Chakrabarty. Deren Ansätze, Lehren und Lernen dialektisch zu verbinden und Kindheit zu entkolonisieren, sind in der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik unzureichend aufgegriffen worden. Ihr Fazit, „doing globality“ durch „gemeinsame Aktivitäten auf Augenhöhe“ umzusetzen (113), fällt jedoch hinter den Anspruch der intellektuellen Auseinandersetzung mit Perspektiven des globalen Südens zurück und erinnert eher an die naiven Erwartungen an interkulturelle Begegnungen.
Als „Dilemma der geschichtsdidaktischen Forschung“ betrachtet Florian Kuhne die Kategorie race und fĂĽhrt dies am Themenfeld Nationalsozialismus in sogenannten „multikulturellen“ Lerngruppen aus. Das angebliche Dilemma legitimiert hier einen unvermeidlichen Rassismus. Denn ohne die Kategorienbildung können keine Studien mit „distinkten Personengruppen“ angelegt werden (135), betont der Verfasser. Doch ist die Beschaffenheit und Wirkung dieser Distinktion der wesentliche Gegenstand rassismuskritischer Forschung. Kuhne unterstellt eine spezifisch ethnisch-kulturelle Perspektive auf den Nationalsozialismus der SchĂĽlerInnen mit Migrationshintergrund und reproduziert damit genau das, was Czyborra, Refai und Yağci zuvor kritisiert haben – nämlich von Partikularität auszugehen, die weiĂźen SchĂĽlerInnen unausgesprochen nicht zukommt. Biografisch im Generationenverhältnis bedingte partikulare Sichtweisen auf den NS werden vernachlässigt, während die nationale Herkunft entscheidend wird. Inwiefern auch herkunftsdeutsche SchĂĽlerInnen Geschichte aus einer „ethnisch-kulturellen Perspektive“ (137) heraus bewerten, wird nicht gefragt. Auch die am Ende eingeforderte „Selbstpositionierung“ hilft nicht mehr weiter, wenn der Blick sich bereits auf Andersgemachte fokussiert hat, ohne den Prozess dieses Andersmachens als Forschungsproblem zu erkennen. Die Absicht, die Narrative von Jugendlichen nicht-deutscher Herkunft zu verändern, wird am Schluss ganz unverblĂĽmt formuliert, wodurch die Ausrichtung des gesamten Bandes, die Narrative der GeschichtsdidaktikerInnen rassismuskritisch zu verändern, in doppelter Weise negiert wird. Denn es werden weder national-kulturelle Sortierungen problematisiert, noch wird die Selbstkritik der pädagogischen ProtagonistInnen eingefordert. Es geht nun wieder ganz einfach um die anderen Jugendlichen, die in einen Geschichtsdiskurs zu integrieren sind, der selbst nicht zur Disposition steht.
Das letzte Kapitel zu programmatischen Perspektiven wird von einem Beitrag zum Orientalismus eröffnet. Für Selman Erkovan bietet die Orientalismuskritik einen Analyseansatz, um in Geschichtserzählungen Dichotomisierungen herauszuarbeiten, die durch Alterisierung Identitäten festigen. Illustriert wird dies anhand eines Unterrichtskonzepts zum Thema der „Osmanen im Südosten Europas“. Dabei ist dieses Konzept dermaßen selbstentlarvend, dass es sich fast nicht lohnt, an ihm eine Orientalismusanalyse durchzuführen. Die Perfidie des Konzepts steckt jedoch darin, dass es als „interkulturelles Lernen“ vorgestellt wird, während auf „Geschichtsnarrative von Dominanzkulturen“ (157) zurückgegriffen wird. Erkovan bezieht sich sowohl auf die „türkisch-kemalistische Dominanzkultur“ wie auf die deutsche Praxis, aus heterogenen „Türkeistämmigen“ Türken zu machen (156). Beide Formen reproduziert das analysierte Unterrichtskonzept, wobei auch die „Überbetonung der Kriegskomponente“ (157) bemerkenswert ist.
Nach diesem radikal-kritischen Auftakt folgt ein eher versöhnender Artikel zum transkulturellen Lernen von Marc Ullrich, der ein „rassismuskritisches Potenzial des Transkulturalitätskonzepts“ (164) postuliert, das nicht wirklich eingelöst wird. Das normative Plädoyer für eine „transkulturelle Sinnbildung“ kommt so sympathisch daher wie das mit Michele Baricelli zitierte „Geschichtenbewusstsein“ und macht doch zugleich den Rassismus jedes Kulturalismus unsichtbar.
Christina Brüning unternimmt ein rassismuskritisches Gegenlesen des bilingualen Geschichtsunterrichts gemäß des „Content and Language Integrated Learning“ im Sachfachunterricht. Dass sie dafür „besser ausgebildete Lehrende“ einfordert, ist genauso selbstverständlich wie uneingelöst. Denn diese Lehrenden sollten nicht nur besser, sondern anders ausgebildet sein, nämlich rassismuskritisch. Dass es daran in den Schulen fehlt, machen die Beiträge mehr als deutlich und bieten gute Diskussionsgrundlagen, um hier wenigstens ein paar Schritte weiter zu kommen.
EWR 16 (2017), Nr. 1 (Januar/Februar)
Historisches Lernen als Rassismuskritik
Reihe: Forum Historisches Lernen
Schwalbach: Wochenschau 2016
(272 S.; ISBN 978-3-7344-0342-2; 29,80 EUR)
Astrid Messerschmidt (Wuppertal)
Zur Zitierweise der Rezension:
Astrid Messerschmidt: Rezension von: BrĂĽning, Christina Isabel / Deile, Lars / LĂĽcke, Martin (Hg.): Historisches Lernen als Rassismuskritik, Reihe: Forum Historisches Lernen. Schwalbach: Wochenschau 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 1 (Veröffentlicht am 02.02.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978373440342.html
Astrid Messerschmidt: Rezension von: BrĂĽning, Christina Isabel / Deile, Lars / LĂĽcke, Martin (Hg.): Historisches Lernen als Rassismuskritik, Reihe: Forum Historisches Lernen. Schwalbach: Wochenschau 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 1 (Veröffentlicht am 02.02.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978373440342.html