Ein Buch mit dem Titel „Erziehungsdiskurse“ erweckt vermutlich – je nach wissenschaftlichem Hintergrund – ein äußerst breites Spektrum von Erwartungen oder, wie im Falle des Rezensenten, sehr spezifische. Wenn der Diskursbegriff in den Sozialwissenschaften verwendet wird, so sind mindestens zwei Verwendungstraditionen zu unterscheiden: Entweder meint der Begriff im Sinne Habermas’ eine rationale Diskussion über eine Thema, die zudem auf Überzeugung und das Erreichen eines Konsens zielt. In diesem Fall müssten die Aufsätze entweder aufeinander Bezug nehmen oder es handelt sich – der Titel steht im Plural – um eine Sammlung von Aufsätzen zum Thema Erziehung, die je eigene „Erziehungsdiskurse“ verkörpern. Wird der Begriff hingegen in der Tradition Foucaults verwendet, müsste nach den Bedingungen der Produktion von Wissen(sordnungen) im Allgemeinen wie nach deren Regeln, Sprechern und Machtwirkungen im Besonderen gefragt werden. Der Rezensent erwartete letzteres, da diese Verwendung in einem Titel die gehaltvollere ist, andernfalls entsteht der unbefriedigende Eindruck, dass jede Aufsatzsammlung, die sich mit Erziehung beschäftigt, „Erziehungsdiskurse“ betitelt werden könnte.
Der Blick ins Inhaltsverzeichnis des 240 Druckseiten umfassenden Bandes muss diesbezüglich irritieren; denn die Logik der Zusammensetzung der insgesamt 11 Originalbeiträge erschließt sich zunächst nicht. Die äußerst knappe Einleitung (lediglich eine Druckseite, wenn man vom Kurzüberblick über die Einzelbeiträge absieht), verschafft immerhin erste Aufklärung, verwundert aber zugleich. Aufklärend wirkt etwa die Information, dass es sich um einen Tagungsband der Sektion „Allgemeine Erziehungswissenschaft“ der DGFE handelt, worüber m.E. ein Untertitel hätte informieren sollen. Die Tagung stand nach Auskunft der Herausgeber jedoch nicht unter dem Motto „Erziehungsdiskurse“ sondern „Erziehung“. Die Erwartung des Rezensenten wird insofern bestätigt, als die Autoren der Beiträge – so die Herausgeber – „,Erziehungsdiskurse’ systematisch, kategorialanalytisch, historisch, empirisch und diskursanalytisch untersuch[en]“ (7). Zugleich ernüchtern diese sehr knappen Hinweise zur Wirkungsabsicht insbesondere denjenigen, der sich bereits mit Diskursanalysen in den Sozialwissenschaften befasst hat; denn tatsächlich verweist die Aufzählung, ob nun Dopplung oder Differenzierung, auf einen unkritischen Umgang mit dem Diskursbegriff. Eine Arbeits-Definition findet sich in der Einleitung ebenfalls nicht und auch die meisten Autoren geben diese nur implizit. Vielmehr wird dem unscharfen Begriff der Erziehung ein weiterer ungeklärt zur Seite gestellt. Dies ist bedauerlich, da einzelne Beiträge des Bandes die beiden zu unterscheidenden Traditionen aufnehmen und so der Unterschreitung des aktuellen Niveaus sozialwissenschaftlicher Diskursforschung entgegenarbeiten. Hervorzuheben ist diesbezüglich der Aufsatz von M. Brumlik, der explizit auf die Ansätze von Habermas und Foucault aufnimmt (vgl. 221).
Die nur skizzierte Erläuterung der Gesamtkonzeption führt dazu, dass auch nach der Lektüre der Einleitung die Frage bleibt, was die Beiträge des Bandes inhaltlich eint. Der Leser, der einen diskursanalytischen Anspruch mit dem Titel verbindet, kann sich des Gedankens nicht erwehren, dass einige Beiträge strukturell nicht in den Band passen.
Zu diesen zähle ich „Protopädie und Pädeutik. Über eine notwendige Differenzierung im Erziehungsbegriff“ von W. Sünkel, „Erziehung und Lernen. Plädoyer für eine mathetische Erziehungswissenschaft“ von T. Schulze sowie den Beitrag „Öffentliche Erziehung unter posttraditionellen Bedingungen. Erziehung als Ermöglichung von Bildsamkeit“ (K. Stojanov). Der Beitrag von J. Ecarius „Familienerziehung und Generation. Empirische Befunde und theoretische Überlegungen“ muss dieser Gruppe ebenfalls zugerechnet werden, weil die durchaus einer diskursanalytischen Idee folgende Betrachtung, warum Familienerziehung lange Zeit nicht im Fokus der Erziehungswissenschaft stand, nur wenige Seiten umfasst (156-159). Insgesamt handelt es sich bei den erwähnten Aufsätzen immer um Argumentationen, welche selektiv Äußerungen bzw. Literatur auswählen, um die eigene Position zu untermauern. Unter diesem Aspekt werden im Sinne Habermas’ Erziehungsdiskurse allenfalls vorgeführt, aber nicht analysiert. Von Diskursanalyse wäre erst dann zu sprechen, wenn eine – wie auch immer methodisch oder im Sinne Foucaults methodenkritische – distanzierte Betrachtung von Kommunikation und/oder Praktiken betrieben wird, welche so gut wie möglich die Analysematerialauswahl selbst thematisiert.
Wären die genannten Beiträge nicht im Band vertreten, hätte auch der Titel nicht so intensiv diskutiert werden müssen, da alle anderen Aufsätze „Erziehungsdiskurse“ analysieren. Evident wird das bereits in den Überschriften: „Erziehungsdiskurse in Elternratgebern“ (M. Höffer-Mehlmer), „Erziehungsromane der Jahrtausendwende“ (M. Brumlik), „Erziehung und Kindheit im Comic“ (J. Brachmann), „Popularisierung und Trivialisierung von Erziehung. Erziehungsdiskurse in kulturtheoretischer Perspektive.“ (S. Andresen) sowie „Diskurse zur öffentlichen Erziehung in der Türkei: die Einführung der achtjährigen Grundschulpflicht im Spiegel von Zeitungskolumnen“ (A.-M. Nohl). Insbesondere der zuletzt genannte Aufsatz ist nicht nur sehr informativ, sondern thematisiert explizit Diskursanalyse als verwendete Forschungsstrategie. Ebenso analysiert J. Bilstein Erziehungsdiskurse, wenn er in seinem Beitrag „Implizite Anthropologeme in pädagogischer Metaphorik“ neun Metaphoriken katalogisiert, die das Reden über Erziehung prägen und gleichzeitig Aussagen über das bestimmende Menschenbild treffen.
Besonders hervorhebenswert ist m.E. der Beitrag von C. Groppe „Erziehung, Sozialisation und Selbstsozialisation als epochale Leitbegriffe und Deutungsmuster“. Die Autorin analysiert dort die Entwicklung des erziehungswissenschaftlichen Diskurses über Begriffe. Diese werden als Indikatoren historischen Verlaufs und gleichzeitig als Deutungsmuster verstanden. Anhand von Texten bedeutender Vertreter erziehungswissenschaftlicher Strömungen wird gezeigt, wie die verwendeten Begriffe deren pädagogische Haltung anzeigen und auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen verweisen. Während der Erziehungsbegriff der geisteswissenschaftlichen Pädagogik noch auf Sinnsicherheit und pädagogischem Bezug ruhte, stand er in dem Moment zur Disposition, als – die zuvor vernachlässigten – gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in den Fokus der (Kritischen) Erziehungswissenschaft rückten. Ausdruck dessen ist die Hinwendung zum Begriff der „Sozialisation“. Als aktuelles Deutungsmuster wird der Begriff der „Selbstsozialisation“ identifiziert, der die zunehmenden Anforderungen an das Individuum in sich aufnimmt und gesellschaftliche Rahmenbedingungen wieder stärker in den Hintergrund treten lässt, indem er die Semantik des Sozialisationsbegriffs unterwandert. Groppe zeigt das selbstreflexive wissenschaftshistorische Potential des diskursanalytischen Ansatzes und wirft die Frage auf, inwiefern mit der „Problematisierung und tendenziellen Verabschiedung traditioneller Leitbegriffe erziehungswissenschaftlicher Theorie- und Forschungspraxis“ (89) und den damit verbundenen Wirklichkeitsmodellen wissenschaftlicher Fortschritt als Verlust identifizierbar wird.
Damit kehre ich zum Anspruch des Buches zurück, welches einen „doppelten Neuanfang“ (7) markieren soll: Einerseits will es eine erneute Selbstvergewisserung der allgemeinen Erziehungswissenschaft dokumentieren, andererseits sollen bisher vernachlässigte „zeitdiagnostisch kritische“ Analysen von „Erziehungsdiskursen“ außerhalb der Disziplin gewürdigt werden. Beides wird von den eben erwähnten Beiträgen geleistet. Als empirisches Forschungsverfahren in der Allgemeinen Erziehungswissenschaft erweist sich die Analyse von Diskursen sowohl zur disziplinären Selbstreflexion als auch zur Beobachtung disziplinexterner Erziehungsdiskurse als hilfreich.
Insgesamt halte ich die Auswahl der unter dem Titel vereinigten Beiträge aber für wenig geglückt. Die Einleitung räumt diese Bedenken nicht aus. Die Beiträge stehen relativ unvermittelt nebeneinander, sieht man vom Ort ihres Vortrags ab. Ein zusammenführendes Fazit fehlt. Hätte man sich der Begrifflichkeit besser vergewissert und die Beiträge nach diesem Prinzip konsequent gewählt, würde der Band eher überzeugen und in sich geschlossen erscheinen.
EWR 7 (2008), Nr. 6 (November/Dezember)
Erziehungsdiskurse
Bad Heilbrun: Klinkhardt 2008
(24 S.; ISBN 978-3-715-1583-3; 19,80 EUR)
Steffen GroĂźkopf (Jena)
Zur Zitierweise der Rezension:
Steffen GroĂźkopf: Rezension von: Marotzki, Winfried / Wigger, Lothar (Hg.): Erziehungsdiskurse. Bad Heilbrun: Klinkhardt 2008. In: EWR 7 (2008), Nr. 6 (Veröffentlicht am 05.12.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/97837151583.html
Steffen GroĂźkopf: Rezension von: Marotzki, Winfried / Wigger, Lothar (Hg.): Erziehungsdiskurse. Bad Heilbrun: Klinkhardt 2008. In: EWR 7 (2008), Nr. 6 (Veröffentlicht am 05.12.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/97837151583.html