EWR 22 (2023), Nr. 1 (Januar)

Philip Karsch
Schule und digitale Kommunikationskultur
Antinomien des Lehrer*innenhandelns zwischen Privatheit und Professionalität
Wiesbaden: Springer VS 2022
(328 S.; ISBN 978-3-658-36864-7; 69,99 EUR)
Schule und digitale Kommunikationskultur Lehrkräfte kommunizieren mit Lernenden zunehmend auch über Messengerdienste wie WhatsApp oder Threema. Die Nutzung dieser digitalen Kommunikationsmedien wirft neben u. a. juristischen auch erziehungswissenschaftliche Fragen etwa zu Folgen für die Lehrer:in-Schüler:innen-Beziehung auf. Mit seiner Dissertation leistet Philip Karsch daher einen Beitrag zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit einem bedeutenden Thema, das bisher kaum Aufmerksamkeit erfahren hat. Karsch fragt danach, welche Konsequenzen der Einsatz von Messengern und die Art, wie Lehrkräfte sie für die Kommunikation mit Lernenden nutzen, für die Lehrer:in-Schüler:innen-Beziehung – vor allem hinsichtlich der Grenzen von Privatheit – haben.

Dem Hauptteil des Bands ist eine ausführliche Einleitung (IX-XXXIII) vorangestellt. Sie führt in die Thematik ein und legt deren Relevanz überzeugend dar, auch wenn ein etwas konziserer Überblick über den restlichen Band hilfreich gewesen wäre. Der Hauptteil gliedert sich in zwei Teile, die den theoretisch-konzeptionellen Vorarbeiten und der empirischen Studie gewidmet sind. Der erste Teil des Hauptteils der Arbeit umfasst je ein Kapitel zu Mediatisierungsprozessen (Kap. 1), zu Struktureigenschaften des Lehrer:innenhandelns (Kap. 2), zu digitalen und nicht-digitalen Räumen (Kap. 3) und zu Privatheit im Digitalen (Kap. 4). Der zweite Teil des Hauptteils ist ebenfalls in vier Kapitel gegliedert. Nach Darstellung der methodischen Anlage der empirischen Studie (Kap. 5) werden die Auswertungsergebnisse auf Fallebene dargestellt (Kap. 6) und anschließend fallübergreifend theoretisiert (Kap. 7). Der Band schließt mit einem Ausblick, der in „riskante[n] Abschlussworte[n]“ (XXXI) offene, weiterführende Fragen aufzeigt (Kap. 8).

Die theoretisch-konzeptionellen Vorarbeiten möchte Karsch als „hermeneutische Zugänge“ verstanden wissen, als „Gedankenpool“ für Auswertung und Ergebnisdarstellung (XXI). In den Kapiteln dieses Teils des Hauptteils des Bands arbeitet Karsch erstens heraus, dass neue Medien, der Umgang mit ihnen und ihre sozialen Konsequenzen stets im Wechselverhältnis zu denken sind, womit Karsch die zentrale Grundannahme seiner Untersuchung zu Folgen digitaler Kommunikationsmedien für die pädagogische Beziehung überzeugend begründet. Zweitens diskutiert er strukturtheoretische Überlegungen zu pädagogischer Praxis und ihrer konstitutiv antinomischen Strukturlogik sowie zur pädagogischen Beziehung als Arbeitsbündnis. Drittens erarbeitet Karsch einen Begriff des digitalen Raums, der dessen weitgehende Nicht-Materialität und Eigendynamik betont. Viertens schließt Karsch an Rösslers [1] Unterscheidung lokaler, informationaler und dezisionaler Privatheit an und setzt sich kritisch mit Diskursen zur Revisionsbedürftigkeit des Privatheitsverständnisses im digitalen Raum auseinander. Dabei macht er die vorangegangenen Überlegungen zum digitalen Raum geltend und stellt Zusammenhängen zwischen Charakteristika des digitalen Raums und digitaler Privatheit heraus.

Im zweiten Teil des Hauptteils der Arbeit stellt Karsch seine qualitativ-rekonstruktive Studie dar, die auf sechs mittels Dokumentarischer Methode ausgewerteten Interviews mit Real- und Gesamtschullehrkräften basiert. Er stellt methodisch-methodologische Annahmen und Vorgehen vor. Hervorzuheben ist, wie transparent Karsch den Erhebungsprozess und Umgang mit dem Interviewleitfaden macht, dessen vorwiegend geschlossene, wenig erzählgenerierende Fragen allerdings angesichts der Auswertung mittels Dokumentarischer Methode überraschen. Etwas ungewöhnlich ist zudem das zum Teil deutlich abweichende Verständnis einiger dokumentarischer Grundbegriffe. Dies betrifft vor allem den Begriff des Orientierungsrahmens, mit dem die Dokumentarische Methoden ihren Analysegegenstand, das konjunktive (d.h. milieugebundene), habitualisierte, handlungsleitende Wissen der Akteur:innen fasst. Das abweichende Begriffsverständnis äußert sich auch in besonderer Fokussierung auf die Textsorten der Bewertung und Argumentation sowie auf kommunikatives Wissen bei der Auswertung (z.B. 171). Allerdings ist Karsch auch bezüglich seines Verständnisses der dokumentarischen Begriffe um Transparenz bemüht und legt sein eigenes Begriffsverständnis offen (168).

Die Ergebnisdarstellung erfolgt übersichtlich in zwei Schritten. Karsch stellt zunächst die Analyseergebnisse auf Fallebene dar und abstrahiert im zweiten Schritt fallübergreifende Herausforderungen und Fragen, mit denen sich Lehrkräfte bei Kommunikation mit Lernenden via Messenger wie z.B. WhatsApp konfrontiert sehen. Diese begreift Karsch als unauflösbare, nur reflexiv bearbeitbare „Spannungsfelder“ und „Antinomien“ (281). Die erste Antinomie basiert auf einer Spannung zwischen schulraum- und -zeitübergreifender Erreichbarkeit einerseits und strikter Trennung von Beruf und Freizeit andererseits. Der zweiten liegen die beiden Optionen zugrunde, den Messenger nur zur Informationsmitteilung an Lernende zu nutzen oder den Lernenden ebenfalls Mitteilungsmöglichkeiten einzuräumen. Die übrigen Antinomien betreffen die prinzipielle vs. die nur situative Reglementierung der digitalen Kommunikation, die Missachtung vs. die Beachtung antizipierter Erwartungen anderer und schließlich die gleichartige vs. die abweichende Beziehungsgestaltung im digitalen Raum gegenüber der im nicht-digitalen Raum. Ausgehend von diesen Ergebnissen zeigt Karsch in einem letzten Kapitel weiterführende Anschlussmöglichkeiten an andere Diskurse auf.

Karsch legt mit seiner Dissertation eine anregende Arbeit zu einem hochrelevanten, bisher stark unterbeleuchteten Thema vor. Sie macht überzeugend auf neuralgische Punkte der Kommunikation via Messenger für die Beziehungsgestaltung zwischen Lehrpersonen und Lernenden hinsichtlich Privatheit aufmerksam. Weiterführend ließe sich diskutieren, ob die Konzeptualisierung als antinomische Spannungen diese neuralgischen Punkte bereits an allen Stellen in ihrem Kern trifft. Unabhängig davon arbeitet Karsch überzeugend mit seinen Ergebnissen zentrale Herausforderungen und Fragen heraus, mit denen sich Lehrkräfte bei der Kommunikation mit Lernenden via Messenger konfrontiert sehen und die von ihnen unter Berücksichtigung der Eigendynamik digitaler Kommunikation zu reflektieren wären. Anschlussmöglichkeiten für weitere Diskussionen bieten auch die Ausführungen zu den hermeneutischen Zugängen. Beispielsweise könnte gewinnbringend sein, dem Verhältnis der strukturtheoretischen Überlegungen zu pädagogischen Beziehungen – vor allem zur widersprüchlichen Einheit diffuser und spezifischer Beziehungsanteile [2] und zur Nähe-Distanz-Antinomie [3] – einerseits und Karschs Überlegungen zu Privatheit im Digitalen andererseits weiter nachzugehen. Auch hier regt der Band zum Weiterdenken und zu Diskussionen an und bietet theoretisch wie empirisch für professionstheoretische und medienpädagogische Forschungsdiskurse Impulse zum hochbedeutsamen, aber bisher wenig untersuchten Thema der Lehrer:in-Schüler:innen-Beziehung unter den Vorzeichen zunehmend auch digitaler Kommunikation. Neben der scientific community richtet sich der Band dezidiert auch an Lehrkräfte (XII, 310). Gerade diese werden aufgrund vielfältiger Reflexionsanstöße von der Lektüre profitieren.

[1] Rössler, B. (2001). Der Wert des Privaten. Suhrkamp.
[2] Oevermann, U. (2002). Professionalisierungsbedürftigkeit und Professionalisiertheit pädagogischen Handelns. In M. Kraul, W. Marotzki & C. Schweppe (Hrsg.), Biographie und Profession (S. 19–63). Klinkhardt.
[3] Helsper, W. (2002). Lehrerprofessionalität als antinomische Handlungsstruktur. In M. Kraul, W. Marotzki & C. Schweppe (Hrsg.), Biographie und Profession (S. 64–102). Klinkhardt.
Christoph Bressler (Essen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christoph Bressler: Rezension von: Karsch, Philip: Schule und digitale Kommunikationskultur, Antinomien des Lehrer*innenhandelns zwischen Privatheit und Professionalität. Wiesbaden: Springer VS 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 1 (Veröffentlicht am 26.01.2023), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365836864.html