Das Praxissemester ist in den letzten zehn Jahren als curriculares Element mit hohen Professionalisierungserwartungen und standortbezogen unterschiedlich modellierter Struktur in der konsekutiven Lehrerbildung in 11 der 16 Bundesländer in Deutschland verankert worden. Seitdem hat sich auch die Lehrerbildungsforschung verstärkt mit der verlängerten Praxisphase befasst sowie inhaltlich und methodisch vertieft. Während die intensive Erforschung der Praxisphase zu einer immer genaueren Prüfung der Erfüllung ihrer Funktionen beiträgt, stellt diese komplexe Phase mit ihrer hohen Zahl an beeinflussenden, moderierenden und mediierenden Variablen sowie an beteiligten Akteur*innen mit unterschiedlichen Perspektiven, nicht zuletzt aufgrund in Teilen uneinheitlicher Befunde, aber nach wie vor eine große Herausforderung an entsprechende Wirksamkeitsuntersuchungen dar.
Aussagekräftig und aufschlussreich werden Studien zu der Wirksamkeit des Praxissemesters erst dann, wenn die Gesamtheit der moderierenden Variablen und Prädiktoren in den verlängerten Praxisphasen mit der Multiperspektivität von Akteurskonstellationen als Grundlage möglicher Effekte in den Mittelpunkt rücken. Mit dem vorliegenden Band wird versucht, einzelne dieser Herausforderungen anzunehmen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf quantitativen, längsschnittlichen Primärstudien mit kontrollierten Designs, die Fragen der Lernwirksamkeit des Praxissemesters auf Studierende untersuchen und mehr Möglichkeiten des Anschlusses an neue, bislang unberücksichtigte Ziel- und Prozessvariablen des Praxissemesters durchdringen bzw. ausweisen als zuvor. Die allesamt von ausgewiesenen Spezialist*innen in dem Feld verfassten neun Beiträge dokumentieren vor diesem rahmenden Hintergrund Befunde aus anspruchsvollen empirischen Untersuchungen, die im Rahmen der Praxissemester in verschiedenen Bundesländern durchgeführt wurden (VII).
Der Sammelband schließt konzeptionell an professionstheoretische Positionen an und gliedert sich lose in drei Teile, die in Anlehnung an kompetenzorientierte Arbeiten die kognitiven, motivational-affektiven und evaluativen Komponenten des berufsbezogen Kompetenzerwerbs durch den Einfluss von vermittelnden Variablen, auch standortbezogen unterschiedlichen Merkmalen des Praxissemesters, in den Blick nehmen. Den Auftakt bildet ein Systematisches Review (Ulrich et al.), durch das die Forschungsbefunde der letzten zehn Jahre unter der Frage ausgewertet werden, welche Faktoren und Gestaltungselemente für Wirkungen der Praxisphase auf Studierende nachweislich wirkungsvoll sind (2). Mit dieser systematisch aufgearbeiteten Frage wird gleichzeitig den folgenden Beiträgen eine Ordnung und Legitimation gegeben. Denn schlussendlich lässt sich anhand der ausgewerteten Detailstudien zeigen, dass es eine Vielzahl divergenter Ergebnisse und kaum Evidenz gibt, ob das in Curricula verankerte Praxissemester der Professionalisierung dient, womit der Anschlusspunkt für die notwendigeren detaillierten Forschungsbemühungen und Untersuchungsansätze gesetzt wird, der Komplexität des Merkmalsraums besser zu entsprechen.
Zwei Detailstudien zu kognitiven Aspekten nehmen mit spezifischen Fragestellungen auf die im Review markierten Desiderate Bezug. So etwa König, Darge und Kramer, deren mittels standardisierter Tests generierten Forschungsbefunde standortübergreifend einen Wissenszuwachs der Studierenden im Bereich handlungsnahen Wissens ausweisen, der in Zusammenhang mit spezifischen Angebots- und Nutzungsmerkmalen des Praxissemesters steht. Bleck und Lipowsky setzen mit ihrem Beitrag auch an einem markierten Desiderat an und untersuchen mit einem neu entwickelten Instrument im Quasi-Längsschnitt die ambivalente Einschätzung der Studierenden zur Bedeutung des wissenschaftlichen Wissens im Lehramtsstudium einschließlich der Frage nach dem Einfluss unterschiedlicher Praktikumslängen. Die Bearbeitung der Frage „zur Stabilität und Entwicklung der Überzeugung von der Bedeutungslosigkeit wissenschaftlicher Inhalte in Praxisphasen“ (104) erfolgt dabei über eine umfassende Absteckung des Forschungsfeldes, wodurch es gelingt, zum einen die Relevanz der Frage vor dem Hintergrund bisheriger Erkenntnisse zu deuten, zum anderen bisher nicht wahrgenommene Zusammenhänge sichtbar zu machen. Die Ergebnisse der Studie sind nicht ausweglos negativ, sondern insoweit bemerkenswert, als eine hohe Variabilität der epistemologischen Überzeugungen im Verlauf des Praxissemesters sichtbar ist, damit – im Einklang mit den Ergebnissen anderer Studien in diesem Band – die Bedeutung der Ausgestaltung der Praxisbegleitung erkennbar wird.
Im zweiten Teil des Bandes werden in unterschiedlichen empirischen Studien Einstellungsmerkmale hinsichtlich des Professionalisierungsprozesses problematisiert. Dabei fokussieren Zorn und Rothland auf Grundlage dokumentarisch ausgewerteter einstündiger Bilanz- und Perspektivgespräche die divergierenden handlungsleitenden Orientierungen der Studierenden (129), Bartels et al. untersuchen „die Kompetenz- und Selbstwirksamkeitserwartungen bei Studierenden des Lehramts an Förderschulen“ (155). Klingebiel, Mähler und Kuhn stellen die Forschungsbefunde einer Studie mit Mehrkohorten-Längsschnittdesign zu den differenziellen Entwicklungen professioneller Kompetenzen in Form von subjektiven Kompetenzeinschätzungen zur Unterrichtsführung und zum Fachwissen vor. Die konstatierten Kompetenzveränderungen lassen sich nicht unweigerlich auf das Praktikum zurückführen (180), deuten hingegen auf Effekte durch die schulpraktischen Lerngelegenheiten im Allgemeinen und die Erfahrungen der Unterrichtsdurchführung im Besonderen hin. Der jeweilige Impact verschiedener Praxisformen kann allerdings nicht generell geklärt werden.
Schließlich berücksichtigt der dritte Teil des Bandes Studien zu den affektiv aufgeladenen und evaluativen Erlebens- und Bewertungskomponenten von Studierenden im Praxissemester, wobei die Funktion von Teil 3 in der Edition etwas unklar und randständig bleibt. Zwar greifen die Beiträge von Kumschick, Böhnke und Thiel, mit Fokus auf den Zusammenhang von Unterrichtskompetenz und die Bewertung von Unterrichtsfehlern (243), sowie Krawiec, Fischer und Hänze, „Anforderungen und Erschöpfung während Schulpraktika“ (265) stärker emotionale Merkmale auf und ergänzen insofern die Forschungslage zu den Wirkungen im Praxissemester bedeutsam, da die ersten Unterschiede in der Wahrnehmung und Gestaltung von Unterricht mit Unterschieden in selbstbezogenen Kognitionen korrespondieren, doch wäre eine Zuordnung des Beitrags von Kumschick, Böhnke und Thiel mit Blick auf die selbstbezogenen Kompetenzüberzeugungen zum Unterricht ebenso denkbar, ggf. auch in Teil 2 passender gewesen. Dennoch ist dieser Aspekt insofern sekundär, als der Band durch sein Konzept, die methodischen Stärken und die Integration von Forschungszugängen, die die Wirkungen auch im Vergleich von temporal und funktional unterschiedlichen Praktikumsformen auf Studierende untersuchen, zu einer weiteren Differenzierung und Vertiefung der Forschung zur Wirksamkeit von Praktika beiträgt. Gleichzeitig werden deutlich anstehende Forschungsaufgaben hinsichtlich der Frage nach theoriegeleiteten Professionalisierungsprozessen im Praxissemester markiert. In diesem Zusammenhang wäre vorstellbar, qualitative und quantitative Beiträge kontrastiv gegenüberzustellen, die z.B. die Wirksamkeit von Praktika auf das Professionalisierungsverständnis vor dem Hintergrund komplementärer wie divergenter Ergebnisse zu prüfen vermögen, damit der Multiperspektivität insofern zugleich forschungsmethodisch mehr Gewicht gegeben werden kann.
EWR 20 (2021), Nr. 5 (September/Oktober)
Praxissemester im Lehramtsstudium in Deutschland
Wirkungen auf Studierende
Wiesbaden: Springer VS 2020
(287 S.; ISBN 978-3-658-24208-4; 44,99 EUR)
Kathrin Rheinländer (Flensburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Kathrin Rheinländer: Rezension von: Gröschner, Immanuel Ulrich, Alexander: Praxissemester im Lehramtsstudium in Deutschland, Wirkungen auf Studierende. Wiesbaden: Springer VS 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 5 (Veröffentlicht am 25.10.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365824208.html
Kathrin Rheinländer: Rezension von: Gröschner, Immanuel Ulrich, Alexander: Praxissemester im Lehramtsstudium in Deutschland, Wirkungen auf Studierende. Wiesbaden: Springer VS 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 5 (Veröffentlicht am 25.10.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365824208.html