EWR 19 (2020), Nr. 3 (Juli / August)

Malte Brinkmann (Hrsg.)
Phänomenologische Erziehungswissenschaft von ihren Anfängen bis heute
Eine Anthologie
Wiesbaden: Springer VS 2018
(574 S.; ISBN 978-3-658-17081-3; 69,99 EUR)
Phänomenologische Erziehungswissenschaft von ihren Anfängen bis heute Diese Anthologie führt die unterschiedlichen, entwicklungsgeschichtlich verzweigten und zum Teil schon in Vergessenheit geratenen Stränge jener Grundlagentexte zusammen, die im Laufe der letzten hundert Jahre zur Entstehung und Etablierung der phänomenologischen Erziehungswissenschaft beigetragen haben. Diese Sammlung der die Disziplin prägenden Quellentexte ist insbesondere für den deutschsprachigen Raum als Geburtsstätte der phänomenologischen Bewegung ein lange ausstehendes Desiderat, zumal sich in anderen Ländern (z.B. Skandinavien, Niederlande, Großbritannien, USA) bereits eigenständige, sich auf die deutsche philosophische Tradition berufende phänomenologische Schulen und Strömungen entwickelt haben, etwa die Niederländische Schule der Phänomenologie oder der Phänomenografischer Ansatz in Schweden. Diese verdienstvolle Leistung ist Malte Brinkmann als Herausgeber zu verdanken, der selbst wichtiger Mitgestalter der phänomenologischen Bewegung in der deutschen Pädagogik ist. Mit kundigem Blick hat er jene grundlegenden Texte aus den frühen Einsätzen bis in die Gegenwart aus der inzwischen unüberschaubar gewordenen Fülle zu einer Anthologie zusammengeführt, die einerseits die Entwicklung der systematischen Pädagogik beeinflusst, andererseits aber auch Eingang in die unterschiedlichen Felder der Erziehungswissenschaft gefunden haben – von der frühen Kindheit über die Schul- und Sonderpädagogik bis zur Erwachsenenbildung.

Seit Husserl mit seiner Losung „Zu den Sachen selbst“ und den damit verbundenen Kernthemen seiner Philosophie – Zeit, Leib, Welt, Anderer – in der Wissenschaft zahlreiche Entwicklungsrichtungen phänomenologischen Denkens und Forschens in Gang gesetzt hatte, hat sich inzwischen auch die Teildisziplin phänomenologischer Erziehungswissenschaft innerhalb der Pädagogenzunft fest etabliert. Bei der vom Herausgeber vorgenommenen Auswahl „mit ihren unvermeidlichen Auslassungen“, geht es nicht nur um die Identifizierung bzw. Eingrenzung „der“ phänomenologischen Erziehungswissenschaft, sondern darum, „Perspektiven und Positionen zusammenzutragen, die sich in der Aufmerksamkeitsökonomie der deutschen Erziehungswissenschaft als bedeutsam erwiesen haben“ (S. 4). Mit dieser Auswahl verbindet er zugleich einen „disziplinpolitischen Effekt“, um damit den deutschsprachigen Diskurs über phänomenologisches Denken und Forschen zu intensivieren.

Diesem Anspruch sollen die 27 im Band versammelten Originaltexte von 16 Autorinnen und Autoren gerecht werden, die aus unterschiedlichen Perspektiven sowohl theoriegeschichtlich als auch methodologisch relevante Bereiche von Bildung und Erziehung aufgreifen. Dabei wurde darauf Bedacht genommen, dass sowohl (grundlagen)theoretische und methodologische Fragen und Probleme zur Sprache kommen als auch praktische, anwendungsbezogene Abhandlungen in einzelnen Berufsfeldern pädagogischen Handelns verhandelt werden. Die historische Anordnung der Texte nach ihrem Erscheinungsdatum ermöglicht deren Einordnung in den jeweiligen Entstehungskontext und lässt damit die unterschiedlichen disziplinären Nuancierungen phänomenologischen Denkens und Forschens in der Geschichte der Pädagogik erkennen. Dabei kommen nicht nur unterschiedliche zeitgenössische disziplinäre Verstrickungen zur Sprache, sondern erfolgen auch Hinweise auf Verwicklungen einzelner Autoren in nationalsozialistisches Gedankengut.

Um der chronologischen Reihung der Beiträge eine Struktur zu geben, wählt der Herausgeber in einem umfangreichen Einführungskapitel eine historisch systematische Perspektive, mit der er die These verbindet, „dass es der phänomenologischen Erziehungswissenschaft gelingt, sowohl gegenstandstheoretisch als auch methodologisch im erziehungswissenschaftlichen Diskurs neue Impulse zu setzen“ (S. 4-5). Zur Setzung dieses Anspruchs unterteilt er aus systematischer und disziplintheoretischer Perspektive die Zusammenstellung in vier Abschnitte. „Frühe Einsätze“ verortet er in Aloys Fischer (Deskriptive Pädagogik [1914]) und Friedrich Copei (Der fruchtbare Moment im Bildungsprozess [1930]) als Vorläufer, denen unter der der Bezeichnung „Etablierung Phänomenologischer Erziehungswissenschaft“ die disziplinprägenden Vertreter Eugen Fink, Günter Buck, Otto Friedrich Bollnow, Heinrich Rombach, Egon Schütz und Werner Loch folgen. Der Zeitraum der 1980er und 1990er Jahre (dritter Abschnitt) repräsentieren unter dem Titel „Übergänge: Lebenswelt, Zwischenleiblichkeit, Responsivität“ Beiträge von Wilfried Lippitz und Käte Meyer-Drawe, die in ihren Arbeiten stark konzeptionell auf die phänomenologische Erziehungswissenschaft eingewirkt haben. Im letzten Abschnitt „Neuere Forschungen in der Erziehungswissenschaft“ finden sich, eher exemplarisch ausgewählt denn programmatisch fokussiert, einige neuere Ansätze phänomenologischen Denkens und Forschens, die in verschiedenen Feldern der Pädagogik für die Weiterentwicklung der Teildisziplin sorgen. Einen wichtigen Diskursraum dafür stellt das alle zwei Jahre an der Humboldt-Universität zu Berlin stattfindende Symposion zur phänomenologischen Erziehungswissenschaft dar, an dem auch zahlreiche in diesem Band versammelte Autorinnen und Autoren den Theoriediskurs weiterführen.

Was diese über 500 Seiten umfassende Anthologie besonders auszeichnet, ist nicht nur die Versammlung der disziplinprägenden Originaltexte an einem Ort, sondern auch deren Einordnung in eine „kleine Geschichte der phänomenologischen Erziehungswissenschaft“ (S. 5 ff.), die der Herausgeber den Quellentexten voranstellt. Darin werden einerseits die Arbeiten der einzelnen Autorinnen und Autoren im historischen und wissenschaftsdisziplinären Kontext positioniert, andererseits deren Bezüge zur Phänomenologie und deren Beiträge zur Weiterentwicklung der Teildisziplin herausgearbeitet. Dies erleichtert nicht nur die Einordnung der Beiträge, sondern hilft auch in der Schärfung des wissenschaftlichen Begriffsinventars, das in der Phänomenologie eine entscheidende Bedeutung für Verstehen und Verständigung hat, was wiederum für das pädagogische Handeln und deren Erforschung bedeutungsvoll ist.

Nicht zuletzt aus diesen Gründen ist dieser Band Allen zu empfehlen, die in der Erziehungswissenschaft grundlagentheoretisch und methodologisch „zu den Sachen selbst“ (Husserl) vorstoßen wollen. Mit dieser Anthologie erhalten sie eine quellenbasierte historische Grundlage für eine fundierte Auseinandersetzung mit disziplinprägenden Ansätzen phänomenologischer Erziehungswissenschaft. Die in die Anthologie einführende Geschichte ist besonders auch für Studierende als Einführung in phänomenologisches Denken und Forschen in Lehrveranstaltungen zur Systematik der Pädagogik und zur Methodologie erziehungswissenschaftlicher Forschung geeignet, da sie in konziser Form und disziplinärer Verdichtung die Möglichkeiten und Grenzen der phänomenologischen Erziehungswissenschaft ausleuchtet.
Michael Schratz (Innsbruck)
Zur Zitierweise der Rezension:
Michael Schratz: Rezension von: Brinkmann, Malte (Hg.): Phänomenologische Erziehungswissenschaft von ihren Anfängen bis heute: Eine Anthologie. Wiesbaden: Springer VS 2018. In: EWR 19 (2020), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.09.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365817081.html