Jede Einzelschule zeichnet sich durch eine spezifische Kultur aus. Diese Grundannahme teilt auch die Dissertationsstudie „Doing School“, mithilfe jener die Autorin Catharina I. Keßler einen ethnographischen Beitrag zur Schulkulturforschung leisten möchte. Die Untersuchung der spezifischen Schulkultur eines städtischen Gymnasiums in evangelischer Trägerschaft steht hier im Zentrum.
In sechs Kapiteln wird die Kultur der Thomasschule auf der Basis u. a. von teilnehmenden Beobachtungen und ethnografischen Schulbegehungen mit verschiedenen Schulakteurinnen und Schulakteuren beschrieben. Die Daten umfassen einen Erhebungszeitraum von über einem Jahr und wurden im Verfahren der Grounded Theory analysiert. Das Ergebnis ist eine umfassende Einzelfallstudie, die die Verhandlung einer schulischen Lebenswelt schildert und diese Beschreibungen schließlich unter den Perspektiven „Raum“, „Zeit“ und „Ritual“ verdichtet. Die Lektüre wird sowohl durch die klare Strukturierung als auch durch die Zusammenfassungen am Ende eines jeden Kapitels begünstigt.
Das erste Kapitel entwirft „Schule“ zunächst als kulturelles Phänomen und bietet eine Übersicht zu verschiedenen Forschungsarbeiten an, die eine ebensolche Perspektive eingenommen haben und anhand derer sich schließlich die theoretische Verortung der Studie im zweiten Kapitel orientiert. Der Fokus einer kulturanthropologisch informierten Organisationskulturforschung lenkt so den Blick auf die Verhandlung der schulischen Lebenswelt mit deren kulturellen Praktiken, womit die Begriffe „Alltag“ und „Kultur“ den Status forschungsleitender Kategorien erhalten.
Nach einer Erläuterung der ethnographischen Forschungsstrategie erhebt das umfangreiche vierte Kapitel den Anspruch, die Thomasschule in ihrer Multivokalität und -perspektivität nachzuzeichnen. Zu diesem Zweck erfolgt mit Teilkapitel 4.1 eine (Selbst-)Beschreibung des Gymnasiums im Kontext der städtischen Bildungslandschaft in der spezifischen Profilierung als evangelische Schule mit sprachlichem und musischem Schwerpunkt. Die räumliche Konstitution der Schule in den alltäglichen Handlungen und Imaginationen der Akteurinnen und Akteure beleuchtet Keßler mit einer Zusammenstellung der geführten Begehungen im Teilkapitel 4.2. In der Darstellung des Schulgeländes treten die unterschiedlichen Perspektiven der verschiedenen Akteursgruppen deutlich zutage. So stellen die Lehrenden und Eltern die Besonderheit ihrer Schule anhand von Bauelementen der christlich-kirchlichen Vergangenheit heraus, die als ständige Zitate der evangelischen Schulträgerschaft im Schulleben gedeutet werden. Die Perspektive der anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erscheint pragmatisch geprägt und die Lernenden sind institutionell nur wenig an spezifische Orte gebunden, wodurch sie sich selbstständig Räume aneignen müssen. Das folgende Teilkapitel 4.3 beschreibt die spezifische Taktung des schulischen Alltags im Verlauf des Schuljahres. Im Alltag bilden sich z. B. durch akustische Signale und damit verbundene Rituale engmaschige Zeiträume, sodass alle Angehörigen des Gymnasiums „Zeit“ als ein knappes Gut beschreiben. Die Lernenden werden in den Beschreibungen als diejenigen sichtbar, die dabei am wenigsten über die Zeit verfügen können. Die festen Termine des „schulischen Jahreslaufs“ sind auffallend christlich-spirituell gerahmt (106, Abbildung), womit zusätzlich die gymnasiale Gemeinschaft als eine bedeutsame inszeniert und prozessiert wird.
Das Teilkapitel 4.4 widmet sich den schulischen Akteurinnen und Akteuren und bezieht sich zunächst auf die Thomasschülerinnen und -schüler, deren „making of“ mit einem Exkurs zu den sogenannten „Kennenlerntagen“ einer 5. Klasse beleuchtet wird. Am Beispiel des Einführungsgottesdienstes, mit dem die Kennenlerntage beginnen und der von einer 8. Klasse gestaltet wird, rekonstruiert die Autorin zeitliche Vor- und Rückverweise auf die für die Thomasschule spezifischen Biographien der Lernenden. Damit wird aus dem Gottesdienst ein Initiationsritus zum Übergang in eine spezifische, gemeinsam handelnde Schulgemeinschaft. Neben den Lernenden und dem Schulleiter bilden die Lehrenden eine weitere zentrale Gruppe, die als heterogene, „selbstbewusste und engagierte Gemeinschaft“ charakterisiert wird. Besonders interessant ist die Beschreibung der weiteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wie etwa diejenige der beiden Hausmeister oder der Raumpflegerinnen, da sie in vielen Aspekten einen Kontrast zu den anderen Schulangehörigen darstellen. Ein Alleinstellungsmerkmal für die Raumpflegerinnen im Kontext der Thomasschule ist z. B. die Wiederherstellung der schulischen Ordnung in aller Unsichtbarkeit. Sichtbar ist hingegen die Gruppe der Eltern, die sich mit selbst initiierten Veranstaltungen wie z. B. Lehrer-Eltern-Partys als zum gymnasialen Alltag gehörend inszenieren. Damit ist die Thomasschule nicht nur ein Ort ihrer Kinder, sondern auch der Familien. Das Teilkapitel schließt mit einer Gegenüberstellung der Akteursgruppen, in der die unterschiedliche Beteiligung an der (Re-)Konstruktion der spezifischen Schulkultur mittels routinierter Praktiken und differenter Machtressourcen nachvollziehbar herausgearbeitet wird.
Das fünfte Kapitel verdichtet und systematisiert die beschriebene Schulkultur anhand der drei Perspektiven „Raum“, „Zeit“ und „Ritual“. Im Folgenden und auf Basis des Raum-Begriffs Martina Löws bezieht sich die Perspektive „Raum“ exemplarisch auf den Andachtsraum sowie die Cafeteria der Schule. Beide werden als aussagekräftige, sozialräumliche Inszenierungen verschiedener Aspekte von Gemeinschaft und Partizipation gedeutet und erhalten die Beinamen „Herz“ bzw. „Kommunikationszentrale“. Zeit, hier verstanden als eine vom Menschen aus gedachte soziale und kulturelle Konstruktion, bildet die zweite Perspektive. Beschrieben wird das Projekt „Neue Rhythmisierung“, bei dem die Einführung von sechzigminütigen Unterrichtsstunden beschlossen und probeweise eingeführt wurde. In der Analyse zeigt sich die Bedeutung der Lehrenden für diese Entscheidung und insbesondere die des Schulleiters, der eine Gelenkfunktion im Prozess einnimmt. Erst nach deren Beschluss werden die Eltern und Lernenden in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe informiert; dennoch wird die probeweise Einführung weitestgehend positiv bewertet. Die dritte Perspektive „Ritual“ bezieht sich auf das Beispiel der zweigeteilten Abiturfeier, die den Statusübergang von den Lernenden zu Alumni der Thomasschule markiert. In der Beschreibung des „Abigottesdienstes“ wird die schulische Inszenierung der sozialen Beziehungen und des Glaubens als bedeutsame Ressourcen für den Statuswechsel herausgearbeitet. Diese spezifischen Ressourcen zeigen sich auch als von größerer Bedeutung als die der akademischen Leistungen, die mit dem zweiten Teil – der Entlassungsfeier und der Zeugnisübergabe – zelebriert werden. Hervorhebenswert sind auch hier die rekonstruierten Bezüge zum Einführungsgottesdienst der 5. Klassen. So finden z. B. beide Gottesdienste in der Pauluskirche statt und anstelle von Sonnenblumensamen, die die Lernenden der 5. Klasse erhielten, werden die Abiturientinnen und Abiturienten mit Sonnenblumen verabschiedet. Auf diese Weise rahmen der Ort und die verwendeten Symbole den schulspezifischen Lebensweg der Lernenden an der Thomasschule.
Insgesamt gelingt es Catharina I. Keßler umfassend, die spezifische Kultur als ein „doing Thomasschule“ (50) darzulegen und dabei ihrem eigenen Anspruch gerecht zu werden, diese in ihrer Multivokalität und -perspektivität nachzuzeichnen. In den Beschreibungen verfestigt sich das Bild einer Schulkultur, die im christlich-spirituellen Rahmen Gemeinschaft und Partizipation als bedeutsam inszeniert, diese in diversen Praktiken (re-)konstruiert und sich so nach innen und außen stabilisiert. Damit schließt die Monographie thematisch und methodologisch z. B. an die Studie Herbert Kalthoffs zur „Wohlerzogenheit“ [1] an, grenzt sich aber durch die explizite Fokussierung auf die Organisationskultur einer Einzelschule ab. Die Konzentration auf die Themenbereiche „Raum“, „Zeit“ und „Ritual“ erweist sich als besonders fruchtbar, da in der ritualisierten Bearbeitung von Zeit und Raum grundlegende Charakteristika der untersuchten Schulkultur sichtbar werden. Wie von der Autorin vorgeschlagen wäre es wünschenswert, diese Themenbereiche für die analytische Fassung spezifischer Schulkulturen weiter auszubauen und für einzelfallvergleichende oder möglicherweise fallübergreifende Untersuchungen von z. B. Gymnasien in staatlicher und nicht-staatlicher Trägerschaft zu nutzen.
[1] Kalthoff, H.: Wohlerzogenheit: Eine Ethnographie deutscher Internatsschulen. Frankfurt am Main: Campus 1997.
EWR 16 (2017), Nr. 3 (Mai/Juni)
Doing School
Ein ethnographischer Beitrag zur Schulkulturforschung
Wiesbaden: Springer Fachmedien 2017
(305 Seiten; ISBN 978-3-658-15915-3; 49,99 EUR)
Johanna Leicht (Leipzig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Johanna Leicht: Rezension von: KeĂźler, Catharina I.: Doing School, Ein ethnographischer Beitrag zur Schulkulturforschung. Wiesbaden: Springer Fachmedien 2017. In: EWR 16 (2017), Nr. 3 (Veröffentlicht am 30.05.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365815915.html
Johanna Leicht: Rezension von: KeĂźler, Catharina I.: Doing School, Ein ethnographischer Beitrag zur Schulkulturforschung. Wiesbaden: Springer Fachmedien 2017. In: EWR 16 (2017), Nr. 3 (Veröffentlicht am 30.05.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365815915.html