EWR 16 (2017), Nr. 6 (November/Dezember)

Nathalie Thomauske
Sprachlos gemacht in Kita und Familie
Ein deutsch-französischer Vergleich von Sprachpolitiken und –praktiken
Wiesbaden: Springer VS 2017
(388 Seiten; ISBN 978-3-658-15835-4; 49,99 EUR)
Sprachlos gemacht in Kita und Familie WĂ€hrend Forschung im Bereich der frĂŒhkindlichen Bildung zunimmt, setzt die Erforschung gesellschaftlicher UngleichheitsverhĂ€ltnisse in einer sich auch sprachlich ausdifferenzierenden Migrationsgesellschaft hĂ€ufig erst in der Primarstufe an. Dies ist die ForschungslĂŒcke, zu der die Autorin des vorliegenden Bandes ĂŒber eine Fokussierung von Sprache als Differenzkategorie neue Erkenntnisse beitrĂ€gt. Sie geht in ihrem Buch der Frage nach der diskursiven Herstellung und Bearbeitung von ĂŒber sprachliche Ordnungen hervorgebrachten Dominanzstrukturen in Familie und Kita nach. Die Autorin fragt, „welche Grundannahmen [
], Sprachideologien oder Diskurse die Sprachenpolitiken und -praktiken in der frĂŒhkindlichen Bildung [wie] beeinflussen“ (19). In einem deutsch-französischen Vergleich zeigt sie eindrĂŒcklich, wie Sprachpolitiken und Sprachpraktiken auf verschiedenen Ebenen zu „Sprachlosigkeit“ nicht nur Anderssprachiger sondern auch Normsprachiger FachkrĂ€fte, Eltern und Kinder fĂŒhren können. Damit ist sogleich eine Herausforderung des Buches angesprochen: die Sprachverwendung der Autorin wird immer wieder habitualisierte Lese- und Sprechgewohnheiten bewusst irritieren, um die dahinterliegenden Dominanzstrukturen zu hinterfragen.

In ihrer Studie nutzt die Autorin die Daten eines international angelegten Forschungsprojektes (children crossing borders), greift dabei allerdings Deutschland und Frankreich als nationale Kontexte heraus. Ihrer Auswertung liegen auf der Basis von Filmclips gefĂŒhrte Fokusgruppendiskussionen mit FachkrĂ€ften und Eltern zugrunde, die in beiden LĂ€ndern erhoben wurden. Die kurzen Videoclips wurden in Absprache mit den FachkrĂ€ften fĂŒr jeden nationalen Kontext erstellt und sollten möglichst typische Ausschnitte des Kitaalltags reprĂ€sentieren. In den Fokusgruppendiskussionen von FachkrĂ€ften, aber auch Eltern wurden je sowohl der Filmclip ihres Landes als auch der eines kontrastierend ausgewĂ€hlten Landes gezeigt und die im Anschluss daran entstehenden GesprĂ€che aufgezeichnet. Die Studie ist somit multiperspektivisch angelegt und bietet in der kontrastierenden Auswertung im Anschluss an die konstruktivistische Ausformung der Grounded Theory Methodologie [1] zwei in der Konzeption der Studie angelegte Vergleichsdimensionen: zum einen den Professionalisierungsgrad bzw. den Lebensbereich der Kita und der Familie sowie den nationalen Kontext. FĂŒr die Bearbeitung der Frage nach der Bedeutsamkeit der Kategorie Sprache bei der Hervorbringung von MachtverhĂ€ltnissen im Kontext der frĂŒhkindlichen Bildung stĂŒtzt sich die Autorin in einem interdisziplinĂ€ren Zuschnitt auf eine machtkritische Perspektive im Anschluss an die Postcolonial, Decolonial, Critical Whiteness Studies sowie die Critical Applied Linguistics.

Um herauszuarbeiten mit „welcher BegrĂŒndung oder Legitimation [
] Diskurse und Sprachideologien herangezogen [werden] oder wann [
] auf sie verwiesen [wird]“ (19) legt die Autorin den Hauptfokus ihrer Argumentation auf detaillierte empirische Analysen. Diese rahmt sie zunĂ€chst mit einer kenntnisreichen Einordnung ihres Vorhabens in den bildungspolitischen Kontext sowohl Frankreichs als auch Deutschlands. In der Einleitung, die ihr Erkenntnisinteresse und die Fragestellung darlegt (Kap. 1), greift sie gelegentlich spĂ€teren Überlegungen etwa im Methodenkapitel vor. Die Anlage eines nationalen Vergleichshorizontes wird von der Autorin gleichsam begrĂŒndet wie kritisch reflektiert, indem sie auf die Relevanz des nationalstaatlichen Rahmens fĂŒr die Teilnehmenden der Fokusgruppen und zudem auf die national spezifische historisch-gesetzliche Rahmung des Bildungssystems verweist.

Nach der Darlegung ihrer machtkritischen, „dekolonialen“ Perspektive auf Sprachpolitiken und –praktiken und der Hervorhebung der Bedeutung einer vergangenheitsbewussten Analyse aktueller Politiken, Diskurse und Praktiken (Kap. 2), werden die Sprachpolitiken in den beiden betrachteten nationalen Kontexten vergleichend ausgebreitet und historisch verortet (Kap. 3). Dabei werden auch die Sprachideologien herausgearbeitet, die den Sprachpolitiken zum einen zugrunde liegen, zum anderen aber auch durch sie hervorgebracht werden. Die Autorin stellt aktuelle Sprachpolitiken in den historischen Kontext der Nationenbildung und der Kolonialisierung und kann so die Bedeutung der (Norm)Sprache als Lingua Franca, als gemeinsame Sprache der VerstĂ€ndigung, aber auch als dominierendes Herrschaftsinstrument deutlich machen. FĂŒr beide nationalen Kontexte lĂ€sst sich so nachzeichnen, wie auch in den aktuellen Sprachpolitiken der frĂŒhkindlichen Bildung das Sprechen wie das Erlernen der Normsprache als Assimilationsanspruch formuliert wird. Die Autorin kann „MachtverhĂ€ltnisse von SprachvarietĂ€ten“ aufzeigen, in denen die ehemaligen Kolonial- und heute Nationalsprachen Migrationssprachen, oder – wie die Autorin schreibt – Andere Sprachen in vielfĂ€ltiger Weise dominieren (90ff). So lĂ€sst sich fĂŒr beide nationalen Kontexte ein defizitorientierter Blick auf mehrsprachige Kinder und deren Eltern zeigen, der einzig die Sprachkompetenzen in der Normsprache ĂŒber Förderung verbessern soll und deren Andere Sprachen bzw. deren Mehrsprachigkeit nicht anerkennt.

Bevor die Autorin die empirischen Ergebnisse darstellt, stellt sie kurz ihr methodisches Vorgehen und die Verankerung ihrer Studie in dem children crossing borders-Projekt dar (Kap. 4). In der ausfĂŒhrlichen Ergebnisdarstellung kann die Autorin anschaulich zeigen, wie die dargestellten Sprachpolitiken und Diskurse in den situativen Aushandlungen der Fokusgruppendiskussionen und den darĂŒber rekonstruierbaren NormalitĂ€tsvorstellungen der Akteurinnen und Akteure wirksam werden (Kap. 5). In der vergleichenden Perspektive zeigt sich dabei, dass in den im deutschen Kontext gefĂŒhrten Diskussionen ein Diskurs um Sprachgruppenbildung sowie Integration und Ausgrenzung dominiert, wĂ€hrend in den Fokusgruppendiskussionen in Frankreich die Konstruktion von Sprache als „Kitt der Nation“ herausgearbeitet wird. In der Analyse unterscheidet die Autorin drei im Kontext von migrationsgesellschaftlicher Mehrsprachigkeit nicht nur im Feld der frĂŒhkindlichen Bildung relevante Ebenen: Sprache(n) als relevante Kategorie fĂŒr die Herstellung von Zugehörigkeit und Differenz, Sprechen als VerstĂ€ndigungs- und Verstehensprozess sowie Positionen zum Sprach(en)erwerb als Spannungsfeld. Auf allen drei Ebenen kann sie die Hervorbringung von Sprachlosigkeit als SchlĂŒsselkategorie der Analyse zeigen: Auf der ersten Ebene wird deutlich, dass Normsprachige FachkrĂ€fte sich als sprachlos empfinden, wenn Kinder in der Institution Andere Sprachen sprechen, und sie in der Folge den Sprachgebrauch Anderer Sprachen reglementieren oder sanktionieren. FĂŒr Anderssprachige Eltern und ihre Kinder wird das Normsprachige Sprechen als „Integrationsmarker“ wirksam, der – zumindest in der Öffentlichkeit – in einem Nichtsprechen der Anderen Sprachen resultiert. Auch auf der zweiten Ebene können „Positionen der Anpassungserwartung“ (256) rekonstruiert werden, die die Bedeutung Normsprachigen Sprechens fĂŒr die VerstĂ€ndigung und Verstehensprozesse im Kitaalltag hervorheben und damit zugleich Andere Sprachen in ihrer Bedeutung abwerten. Auf der dritten Ebene lĂ€sst sich zeigen, wie in den Positionen zum Spracherwerb Andere Sprachen als „Handicap“ und die Normsprache als Ziel hervorgebracht werden, was in beiden Untersuchungskontexten mit verschiedenen Formen der Diskriminierung Anderssprachiger Kinder im institutionellen Alltag einhergeht (343).

Im abschließenden Diskussionskapitel werden die empirischen Rekonstruktionen in ihrer Reichweite eingeordnet und mit Bezug auf die Herstellung von Sprachlosigkeit gebĂŒndelt (Kap. 6). Dabei könnten die Vergleichsdimensionen der Akteursperspektiven (FachkrĂ€fte vs. Eltern), der Lebensbereiche (Kita vs. Familie) sowie des nationalen Kontextes (Deutschland vs. Frankreich) analytisch stĂ€rker ausgeschöpft werden. Sie könnten noch deutlicher zu einer analytischen SchĂ€rfung der sehr genauen Rekonstruktionen von Mikroprozessen auf einer höheren Abstraktionsebene genutzt werden, getreu dem Anspruch des Buches, Mikro-, Meso- und Makroebene zu verbinden (47).

Insgesamt liegt mit „Sprachlos gemacht in Kita und Familie“ ein lesenswertes Buch vor, das die situative Hervorbringung von Sprachlosigkeit ĂŒber normsprachliche Diskurse anschaulich zeigen kann. Es wird seinem Anspruch, nicht „Migrationserfahrung“ in den Blick zu nehmen, sondern die Erfassung der „(Re-)Produktion von strukturellen MachtverhĂ€ltnissen“ (43) ins Zentrum zu stellen sowohl theoretisch als auch empirisch gerecht. Über genaue empirische Analysen, die kenntnisreich in einem historisch-politischen Kontext eingeordnet werden, gelingt der Autorin eine ĂŒberzeugende Darstellung der WirkmĂ€chtigkeit von Sprache als Differenzkategorie im Bereich der frĂŒhkindlichen Bildung. Damit bildet diese Studie mit ihrem Fokus auf der diskursiven Bearbeitung und Explizierung von NormalitĂ€tsvorstellungen in Fokusgruppendiskussionen eine bereichernde ErgĂ€nzung der Forschungslandschaft, in der bereits einzelne, sehr gute ethnographische Studien vorliegen [2]. Die Perspektive der Kinder, die in der neueren Kindheitsforschung als relevante Akteure betrachtet werden, ĂŒber die nicht nur gesprochen werden sollte, sondern die auch selbst sprechen können, wird im Design der Studie nicht berĂŒcksichtigt. Sie wĂŒrde eine bereichernde ErgĂ€nzung der vorgelegten Analysen darstellen. Ein dem von der Autorin formulierten Forschungsdesiderat einer „kritischen PĂ€dagogik der frĂŒhen Kindheit“ (366) folgendes Vorgehen könnte in zukĂŒnftigen Studien auch die Sichtweise der Kinder mit einbeziehen und systematisch auf die Perspektiven der Eltern und FachkrĂ€fte beziehen.

Literatur
[1] Charmaz, Kathy: Constructing Grounded Theory. 2. Auflage. Los Angeles u.a.: Sage Publications 2014.
[2] Kuhn, Melanie: ProfessionalitÀt im Kindergarten. Eine ethnographische Studie zur ElementarpÀdagogik in der Migrationsgesellschaft. Wiesbaden: Springer 2013.
Seele, Claudia: ‘Doing Education’ Between Monolingual Norms and Multilingual Realities. An Ethnography of Multilingualism in Early Childhood Education and Care. Ort: E&E Publishing 2016.
Anna Schnitzer (ZĂŒrich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Anna Schnitzer: Rezension von: Thomauske, Nathalie: Sprachlos gemacht in Kita und Familie, Ein deutsch-französischer Vergleich von Sprachpolitiken und –praktiken. Wiesbaden: Springer VS 2017. In: EWR 16 (2017), Nr. 6 (Veröffentlicht am 07.12.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365815835.html