EWR 15 (2016), Nr. 5 (September/Oktober)

Mathias Mejeh
Absicht und Wirklichkeit integrativer Bildung
Ein netzwerkanalytischer Beitrag zum Neo-Institutionalismus
Wiesbaden: Springer VS 2016
(253 S.; ISBN 978-3-658-10755-0; 39,99 EUR)
Absicht und Wirklichkeit integrativer Bildung In seiner Dissertation setzt sich Mathias Mejeh mit der Absicht und Wirkung von integrativer Bildung im schweizerischen Kanton Solothurn auseinander. Im Fokus stehen dabei die Fragen, wie Integration durchgeführt wird und ob bzw. inwieweit sich ein diesbezügliches institutionelles Handeln von den (gesetzlichen) Vorgaben entkoppelt. Wenn Mejeh von „Integration“ bzw. „schulischer Integration“ spricht (integrative Bildung selbst wird nicht definiert), ist damit die Zusammenführung von Schülerinnen und Schülern, unabhängig von ihrem Förderbedarf, in gemeinsame Erziehungssituationen gemeint. Integration steht aus dieser Perspektive zwischen den beiden Polen Separation und Inklusion, was eher als eine Zielvorstellung und eine damit einhergehende Haltung anzusehen ist. Methodisch ist der Zugang Mejehs der Netzwerkanalyse zuzuordnen, da die Handlungsstrukturen unterschiedlicher Akteursgruppen (wie Eltern, Schulleitungen und Förderlehrkräfte) berücksichtigt und analysiert werden.

Mejeh stellt seinen Forschungsgegenstand unter Bezugnahme auf die Theorien von Marx, Weber und Bourdieu in den Kontext sozialer Ungleichheit. Diese Bezugnahme auf die klassischen Theorien, die sich vor allem auf die soziale Herkunft und deren Bedeutung beziehen, ist zunächst überraschend und wird erst dadurch nachvollziehbar, dass Mejeh die Auswirkungen, die ein niedriger oder fehlender Schulabschluss auf dem Arbeitsmarkt mit sich bringt, mit sozialer Ungleichheit verbindet: „Gelingt es den Sonderschulen also nicht die „Behinderung aufzuheben“ ist der Übergang in den Arbeitsmarkt für Sonderschüler äusserst schwierig zu gestalten und sie treten aus einer äusserst ungünstigen Position den Kampf um die Arbeits- und Ausbildungsplätze an“ (32). Integration wird somit aufgrund der geringeren Chance einen (höheren) Schulabschluss zu erlangen als Aspekt von sozialer Ungleichheit angesehen. Anschließend setzt sich Mejeh mit schulischer Integration und Ansätzen zur Auflösung von Bildungsbenachteiligung auseinander. Den Abschluss der – im Vergleich zu den übrigen Kapiteln – insgesamt kurzen theoretischen Verortung bildet ein Kapitel über das neo-institutionalistische Paradigma, welches als Erklärungsrahmen für die Analyse der Entwicklung schulischer Integration angesehen wird.

In der sich anschließenden Analyse sollen die Hypothesen überprüft werden, dass die untersuchte Handlungsstruktur nicht von der formalen Struktur abweicht und die jeweiligen Akteursgruppen keine prägnante Handlungsstruktur aufweisen. Darüber hinaus wird der Hypothese nachgegangen, dass sich die Eigenschaften der Handlungsstrukturen in ihrer Ausprägung nicht unterscheiden. Für die Bearbeitung der Forschungsfragen und somit die Überprüfung der Hypothesen führt Mejeh zunächst eine Analyse schulbezogener Dokumente wie der Bundesverfassung, mehrerer Bundesgesetze sowie Kantonaler Gesetze und von Regierungsratsbeschlüssen mit Hilfe der quantitativen Inhaltsanalyse sowie der juristischen Hermeneutik durch. Berücksichtigt wurden dabei die Aspekte Diagnostik, Finanzen, Recht bzw. rechtliche Grundlagen, Institutionen und Aus- und Weiterbildung. Die betreffenden Artikel der jeweiligen Dokumente werden innerhalb des dritten Kapitels sehr ausführlich dargestellt. Aus der Dokumentenanalyse entwickelten sich die Fragebögen für die anschließende schriftliche Befragung. Dabei wurde die Perspektive der Eltern (N=12), Heilpädagoginnen und -pädagogen (N=8), Lehrpersonen (N=18), Logopädinnen (N=4), Psychologinnen und Psychologen (N=12) sowie Schulleitungen (N= 7) berücksichtigt. Die Fragebögen umfassen ebenfalls die Aspekte Diagnostik, Finanzen, Recht bzw. rechtliche Grundlagen, Institutionen und Aus- und Weiterbildung, wobei die letzten zwei Aspekte sich als nicht relevant abzeichnen. Für die Auswertung wurde eine Abwandlung des Resamplingverfahrens nach Jackknife zugrunde gelegt. Anschließend werden die Eigenschaften der empirischen Struktur anhand verschiedener Zentralitätskonzepte – diese beziehen sich auf die strukturellen Positionen der jeweiligen Akteursgruppe und damit einhergehend auf deren Zugänge zu den Ressourcen – näher erläutert.

Die Ergebnisdarstellung zeigt, dass für inhaltlich einfach strukturierte Teile der aufgeführten Aspekte die empirischen und formalen Strukturen nicht konträr verlaufen, sondern grundsätzlich vergleichbar sind. So kann aufgezeigt werden, dass beispielsweise im Bereich Diagnostik in Bezug auf das „Schulische Standortgespräch“ empirische Strukturen abbildbar und somit vorhanden sind. Hier sind vor allem Eltern, Klassenlehrpersonen, Schulleitungen sowie Förderlehrkräfte beteiligt. Diesen Akteursgruppen scheint die Struktur, der Ablauf sowie der Inhalt des „Schulischen Standortgesprächs“ bekannt zu sein, auch wenn diese nicht immer exakt mit den gesetzlichen Vorgaben übereinstimmen. Dagegen sind die Handlungsstrukturen bei komplexeren Sachverhalten, wie der „Schulischen Abklärung“, bei denen mehrere Akteurinnen und Akteure eingebunden und langfristige Entscheidungen zu treffen sind, weniger eindeutig und sie stehen zum Teil sogar im Widerspruch zu formalen Strukturen. In Bezug auf die rechtliche Verbindlichkeit in den Bereichen Finanzen, Diagnostik, Informationsmöglichkeiten bei rechtlichen Fragen sowie Zusammenarbeit zwischen Fachpersonen und Elternhaus zeigt sich zudem, dass vor allem Schulleitungen sowie Heilpädagoginnen und -pädagogen der Kompetenzzentren diese kennen. Bezüglich des Bereichs Finanzen sind vornehmlich die Schulleitungen diejenigen, die Kenntnis über die Finanzierung der besonderen Maßnahmen (z. B. Sonderbeschulung und Kleinklassenbeschulung) haben und somit die zentralen Akteurinnen und Akteure darstellen.

Die Interpretation der Ergebnisse ist ebenfalls hinsichtlich der Merkmale Diagnostik, Finanzen und Recht strukturiert. Hier merkt Mejeh an, dass die zentrale Rolle der Schulleitungen auch problematisch zu betrachten sei, denn würde diese Personengruppe wegfallen, wäre der Informationsfluss gestört bzw. unterbrochen. Dagegen scheint der Informations- und Kommunikationsfluss bezüglich des Aspektes Diagnostik grundsätzlich gewährleistet. Neben der Ergebnisdiskussion gibt der Autor einen Ausblick auf mögliche Anknüpfungspunkte für die Weiterentwicklung des neo-institutionalistischen Ansatzes sowie der netzwerk-orientierten Methodologie und die Integrationsforschung. Darüber hinaus macht er deutlich, dass erfolgreiche Schulentwicklung nur durch das Zusammenwirken aller Beteiligten gelingen kann. Denn „nur unter solchen Bedingungen dürfte zu erwarten sein, dass sich nicht eine „Abkopplung, sondern“ [!] eine „Ankopplung“ von Formal- und Handlungsstrukturen entwickelt, die langfristig effizient ist und sich positiv auf die Einstellung der Akteure auswirkt“ (257).

Zusammenfassend bietet diese Dissertation einen erweiternden Einblick in die Frage nach der Passung von formalen und tatsächlichen Strukturen im Schulsystem. Dadurch ist diese Arbeit als ein interessanter Beitrag zur Netzwerkforschung und der Frage nach der Implementierung von politischen Vorgaben und gesetzlichen Vorschriften anzusehen. Darüber hinaus kann die Arbeit auf dieser Ebene auch als ein Beitrag zur Erklärung der Reproduktion von sozialer Ungleichheit durch das Bildungssystem verstanden und durchaus auch in den gegenwärtigen Inklusionsdiskurs verorten werden. Leider behindert die häufige Verwendung derselben Sätze und somit die wenig abwechslungsreiche Darstellung den Lesefluss erheblich.
Caroline Gröschner (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Caroline Gröschner: Rezension von: Mejeh, Mathias: Absicht und Wirklichkeit integrativer Bildung, Ein netzwerkanalytischer Beitrag zum Neo-Institutionalismus. Wiesbaden: Springer VS 2016. In: EWR 15 (2016), Nr. 5 (Veröffentlicht am 29.09.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365810755.html