Rudolf Egger und Sandra Hummel verfolgen mit ihrer qualitativen Studie das Anliegen, Lernprozesse auf dem Schulweg – hier wörtlich zu verstehen als die Wegstrecke zwischen Elternhaus und Schulgebäude – zu beschreiben und begrifflich fassbar zu machen. Dabei geht es dem Autorenteam einerseits um das Erfassen der räumlich und sozial vermittelten individuellen Bildungsgelegenheiten und andererseits um das Ausloten von „Beteiligungs- und Partizipationschancen im öffentlichen Raum“ (2). Ein übergeordnetes Ziel besteht darin, Konsequenzen für die Gestaltung von Schulwegen abzuleiten, in denen die Bedarfe der Schülerinnen und Schüler Berücksichtigung finden. Geleitet wird das gesamte Vorhaben von der starken Überzeugung, dass die gegenwärtigen Möglichkeiten zu Aneignung und gesellschaftlicher Teilhabe von Kindern im städtischen Raum eindeutig defizitär sind.
Hinführend arbeiten die Autoren in Kapitel zwei mit Bezug auf Jean Jaques Rousseau den Schulweg als Ort des „unmittelbar Erlebbaren und dessen Bedeutung für die Entwicklung des Kindes“ (8) heraus, um alsdann aufzuzeigen, dass das aus erzieherischer Sicht wünschenswerte „sich Herumtreiben, das querfeldein sich selbstbestimmend und eigeninitiativ in Beziehung mit der Welt setzen“ (11) den Kindern in der Stadt und damit auch auf dem Schulweg zunehmend verwehrt bleibt. Egger und Hummel konstatieren entlang der einschlägigen Literatur einen Schwund unmittelbar erlebbarer Räume in den Städten und eine Zunahme hinderlicher Eltern-Kind-Beziehungen, „in der die Erwachsenen ständig um ihr Kind kreisen“, mit der Folge, dass Kinder sich „nur mehr selten unbeaufsichtigt“ außerhalb „vorgefertigter Settings“ (13) bewegen. Ebenfalls im zweiten Kapitel verortet ist die Klärung der eingenommenen Sichtweise auf Kinder, die der Auffassung der aktuellen Kinderforschung folgend „als Akteure und Akteurinnen in ihrer eigenen Lebenswirklichkeit“ (15) begriffen werden. Dem folgen Erläuterungen zum Begriff der „Aneignung“, der in Anlehnung an die Arbeiten Alexej Nikolajewitsch Leontjews und Klaus Holzkamps als „tätige Auseinandersetzung mit der jeweils konkreten Umwelt“ (19) verstanden wird. Dementsprechend wird mit dem von Martina Löw vertretenen dynamischen Raumverständnis operiert. Da das individuelle Handeln stets in gesellschaftlich präformierten Räumen stattfindet, wendet sich Kapitel drei, die theoretischen Ausführungen abschließend, den infrastrukturellen Bedingungen als kommunale Aufgabe zu.
Für ihre empirische Annäherung setzen die Autoren auf einen multiperspektivischen Zugang. Einbezogen wurden zwei Grazer Volksschulen, „die sowohl in ihrer Organisationsform, der religiösen Ausrichtung als auch im Hinblick auf die familiären und soziodemografischen Merkmale ihrer Schüler/innen konträr sind“ (3). Neben Schulwegzeichnungen von und Interviews mit je acht Schülerinnen und Schülern im Alter von acht bis elf Jahren, fließen Gruppendiskussionen mit Pädagoginnen und Pädagogen sowie Eltern aus beiden Schulen ein. Außerdem wurden Schülerfotos und je ein von den Kindern gemeinsam erstelltes Plakat erhoben. Da der Band kein separates Methodenkapitel enthält, das die zugrunde gelegte Forschungslogik und den Prozess des Erkenntnisgewinns erhellen könnte – die methodischen Zugänge werden jeweils nur äußerst knapp skizziert –, bleiben diesbezüglich viele Fragen offen: Warum wurden zwei Schulen mit konträren Rahmenbedingungen für die Studie ausgewählt, wenn die Ergebnisse nicht vergleichend analysiert werden? Warum wurden mit den Kindern Interviews, mit den Eltern und Lehrkräften aber Gruppendiskussionen geführt? Unter welchen Prämissen wurden diese ausgewertet? Welche Rolle spielten die Schülerfotos vom eigenen Schulweg, die nicht eigenständig ausgewertet, aber offenbar in die Interviews einbezogen wurden?
Der methodische Zugriff auf die Wahrnehmung und das Erleben der Kinder erfolgt über Schulwegzeichnungen. Mittels einer bildimmanenten, an „Erwin Panofskys dreistufiges Verfahren“ (34) angelehnten Auswertung wird in Kapitel vier herausgearbeitet, auf welche Aspekte die Kinder in ihren Zeichnungen Bezug nehmen. Egger und Hummel ermitteln acht „Wirklichkeitssphären“, die sie u.a. mit den begrifflichen Kategorien „Situationen“, „Beziehungen und soziale Zugehörigkeit“ sowie „Atmosphären und Stimmungen“ (53) zu erfassen suchen. Die unterschiedlichen Sphären des subjektiven Schulwegerlebens dienten nach Aussage der Autoren als Bezugsschemata für die Interviews mit den Kindern, welche neben den Gruppendiskussionen mit den Erwachsenen die Datengrundlage für das sich anschließende Kapitel bilden.
Die Ergebnisdarstellung in Kapitel fünf konzentriert sich auf den morgendlichen Schulweg und verläuft entlang von drei „Schulwegfiguren“: „Offene Erlebnis- und Erfahrungsräume“, „Sozialer Raum – Beziehungsraum“ sowie „Partizipations- und Bewältigungsraum“ (56). Orientiert sind Themen und Struktur in erster Linie an der kindlichen Perspektive, die jedoch von vornherein mit den von Eltern und Lehrkräften erhobenen Daten verwoben wird. Das mag die Lesbarkeit erhöhen. Die Triangulation unterschiedlicher Perspektiven und Methoden birgt zugleich auch ihre Tücken, denn während die Eltern in den abgedruckten Gesprächspassagen teils erstaunlich differenziert und selbstkritisch über eigene Erfahrungen, Gefühle und auch Unsicherheiten berichten, urteilen die Pädagoginnen und Pädagogen pauschal über das Verhalten und die Vorstellungen von Eltern, ohne ihre eigene Rolle als diejenigen, die morgens die Kinder am anderen Ende des Schulweges in Empfang nehmen, zu reflektieren. Eine kritische Einordnung des Quellenwertes entsprechender Aussagen erfolgt nicht. Gleichwohl kann das mit Fotos von Forschenden und Kindern illustrierte Kapitel mit anregenden Befunden aufwarten. Thematisiert wird u.a. wie die Kinder territoriale Begrenzungen und Verbotsschilder wahrnehmen oder wie sie mit Reizen und Verlockungen umgehen, die sich z. B. in der Gestalt eines Kaugummiautomaten materialisieren können. Auf der Ebene der sozialen Beziehungen geraten die Herausforderungen des Statuswechsels von der Rolle als „Kind der Eltern“ zu jener als Schulkind sowie die Aushandlungs- und Abstimmungsprozesse zwischen den Mitgliedern der Peergruppe in den Blick. In Bezug auf Fragen der Teilhabe geht es schließlich um das kindliche Erleben der ästhetischen Stadtraum-Gestaltung oder um das Gewahrwerden sozialer Unterschiede, das eine Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Themen forcieren und eine eigene Positionierung herausfordern kann, was anhand der Begegnungen zwischen einem Schüler und einer Bettlerin anschaulich wird.
Kapitel sechs „Zusammenfassung und Schlussfolgerungen“ greift die eingangs postulierten gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen, wie „die Tendenz hin zu einem verstärkten Sicherheitsbedürfnis von Seiten Erwachsener“ (141) sowie die Forderungen nach einer Verbesserung der Rahmenbedingungen und mehr Mitbestimmungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten für Kinder auf. Die mehr oder weniger konkreten Handlungsvorschläge der Autoren, wie eine an kindlichen Bedürfnissen ausgerichtete „Gestaltung der Wegbegehung“ (142) oder das Ermöglichen einer „Mitarbeit an der Gestaltung von Haltestellen oder Grünbereichen“ (143) sind vornehmlich an Akteure in den Verwaltungen von Städten und Kommunen gerichtet. Im siebten Kapitel münden die Ausführungen schließlich in ein Plädoyer, „die Welt zu Fuß zu durchmessen“ (147).
Den Abschluss des Bandes bildet eine Sammlung erinnerter Schulwege von Personen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Werdegänge, die in von ihnen jeweils frei gewählter Form schriftlich, zeichnerisch oder bildlich dokumentiert sind.
Obgleich Egger und Hummel mit Tendenzen wie einer Verinselung des Lebensraums pädagogisch relevante Veränderungen moderner Kindheiten (wieder) in den Fokus rücken [1], bekommt die Studie durch die Vorannahmen eine normative Rahmung, die eine bewertende Betrachtung der empirischen Ergebnisse nach sich zieht. Das lässt die Theorie zu einem Korsett werden, das wenig Raum für Ambivalenzen und Unerwartetes im Datenmaterial lässt. Für Leserinnen und Leser, die sich im Bereich der Sozialraum- oder Kinderforschung verorten, dürften die Befunde dennoch inspirierend sein. Lehrerinnen und Lehrer, die im Klappentext ebenfalls als Zielgruppe angeführt werden, könnten die Lektüre indes nutzen, um über ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf die Schulwege „ihrer“ Kinder nachzudenken.
[1] Vgl. dazu Deckert-Peaceman, H.: Schulwege aus kindheits- und schultheoretischer Sicht. In: Braches-Chyrek, R. / Röhner, C. (Hg.): Kindheit und Raum. Opladen: Barbara Budrich 2016, 281-295.
EWR 16 (2017), Nr. 2 (März/April)
Lernwelt Schulweg
Sozialräumliche Annäherungen an ein Alltagsphänomen
Reihe: Lernweltforschung, Band 19
Reihe: Lernweltforschung, Band 19
Wiesbaden: Springer VS Verlag 2016
(222 S.; ISBN 978-3-658-10517-4; 29,99 EUR)
Barbara Zschiesche (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Barbara Zschiesche: Rezension von: Egger, Rudolf / Hummel, Sandra: Lernwelt Schulweg, Sozialräumliche Annäherungen an ein Alltagsphänomen Reihe: Lernweltforschung, Band 19. Wiesbaden: Springer VS Verlag 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.03.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365810517.html
Barbara Zschiesche: Rezension von: Egger, Rudolf / Hummel, Sandra: Lernwelt Schulweg, Sozialräumliche Annäherungen an ein Alltagsphänomen Reihe: Lernweltforschung, Band 19. Wiesbaden: Springer VS Verlag 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.03.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365810517.html