EWR 15 (2016), Nr. 4 (Juli/August)

Frank Ragutt / Tim Zumhof (Hrsg.)
Hans Blumenberg: Pädagogische Lektüren
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2016
(238 S.; ISBN 978-3-658-03477-1; 49,99 EUR)
Hans Blumenberg: Pädagogische Lektüren Hans Blumenberg ist ein herausfordernder Autor. Die Lektüre seiner Texte erweist sich als mühsam, allein schon wegen des meist beachtlichen Umfangs seiner historischen Studien, der thematischen Vielfalt und analytischen Dichte seiner ähnlich weitgespannten Aphorismen, Parabeln und Anekdoten. Mühevoll ist sie auch aufgrund der ungewöhnlichen Kombination wissenschaftshistorischer, phänomenologischer, begriffsgeschichtlicher und anthropologischer Perspektiven, der mannigfaltigen Verwendung von (absoluten) Metaphern und den damit einhergehenden offenen Bedeutungshorizonten und begrifflichen Uneindeutigkeiten. Er schöpft aus unterschiedlichsten Disziplinen, ist stets bemüht um Historisierung, Dekontextualisierung, Dekonstruktion und Rekontextualisierung – auch dadurch wird die Lektüre seiner Texte erschwert.

Die Autorinnen und Autoren des Tagungsbandes zur erziehungswissenschaftlichen Rezeption der Werke des 1996 in Altenberge bei Münster verstorbenen Philosophen und Anthropologen haben sich deshalb keiner leichten Aufgabe gestellt. Nach Michel Foucault, Judith Butler und Pierre Bourdieu wird ein weiterer „scheinbar pädagogikferne[r] Theoretiker einer an erziehungswissenschaftlichen Fragestellungen orientierten Lektüre“ (8) unterzogen und damit pädagogisch und bildungsphilosophisch – um mit Blumenberg selbst zu sprechen – lesbar gemacht.

Adressatinnen und Adressaten sind insbesondere Fachwissenschaftler/-innen auf dem Gebiet der Erziehungswissenschaft, Philosophie und Soziologie. Die den einleitenden Beiträgen folgenden elf Texte gliedern sich in drei Abschnitte: Der Blick wird im ersten Teil (Höhlenmythos) auf die kritische und bildungstheoretische Auseinandersetzung mit Platons Höhlengleichnis gelenkt. Im zweiten Teil (Unbegrifflichkeiten) sind Beiträge zur Blumenbergschen Metaphorologie gesammelt, im dritten Teil findet sich eine Lektüre von Blumenbergs anthropologischen Arbeiten.

Wohl, um die Lesbarkeit des monumentalen Werkes von Blumenberg und der pädagogischen Lektüren selbst zu gewährleisten, ist dem Band ein einführender Text der Herausgeber Frank Ragutt und Tim Zumhof vorangestellt. Ragutt und Zumhof verhelfen den Leserinnen und Lesern mit „Die Lesbarkeit des Werks. Einleitende Bemerkungen zur pädagogischen Lektüre der Werke von Hans Blumenberg“ durch biografische Anekdoten und Eckdaten sowie durch klare und systematische Darstellungen und Erwägungen zu einer gründlichen Orientierung. Bereits diese Ausführungen lassen vielfältige erziehungswissenschaftliche Anknüpfungspunkte an Blumenbergs traditionsmächtige Begriffe und Themen vermuten: Mythos, Absolutismus der Wirklichkeit, die Neuzeit und ihre umstrittene Legitimität, das Verhältnis von Anthropologie und Rhetorik sowie Technisierung und Lebenswelt, das zentrale Konzept der Umbesetzung sowie die alle Werke durchziehende Metaphorologie. Diese Themenvielfalt lässt sich zwar durch die drei thematischen Schwerpunkte des Bandes ordnen, so einfach scheiden lassen sich die Themenfelder jedoch nicht, weisen sie doch über die einzelnen Abschnitte hinausgehend vielfältige Bezugslinien aus. In Frage steht, ob die Beiträge, die unter dem Titel „Beschreibungen des Menschen“ gesammelt sind und im weitesten Sinne an Blumenbergs anthropologische Arbeiten anschließen, aufgrund ihrer größeren Bekanntheit und Verständlichkeit an die Stelle „solche[r] Beiträge [hätten gerückt werden sollen], die Blumenbergs kritische und bildungstheoretisch bisher kaum zur Kenntnis genommene Auseinandersetzung mit Platons Höhlengleichnis zum Gegenstand haben“ (8). Ein Übergang vom Bekannteren hin zum Noch-Nicht-Bekannten hätte der (pädagogischen) Verständlichkeit und auch der Qualität des Buches sicherlich keinen Abbruch getan.

Die Brücke hin zu den Lektüren schlägt Ursula Reitemeyer mit „Hans Blumenberg (1920-1966) – ein Grußwort“. In Anlehnung an Blumenberg reißt sie anthropologische Konstanten des Menschseins an, „Wissenstrieb“ etwa, „Vervollkommnungstrieb“ und „Neugierde“ (18). Sie zeigt damit verbundene pädagogische Aufgaben auf und macht auch die Leser/-innen selbst neugierig auf das, was folgen wird. In den anschließenden Lektüren richtet sich der Fokus auf zentrale erziehungswissenschaftliche Problematiken.

Wie lohnend eine Bezugnahme auf Blumenbergs Werke vor dem Hintergrund der genuin pädagogischen Fragestellung nach Aufklärung im Spannungsfeld von Selbst- und Fremdbestimmung sein kann, zeigt die erste Lektüre von Micha Brumlik: „Ausgänge aus dem Höhlengleichnis? Hans Blumenberg gegenüber einem, nein: dem klassischen pädagogischen Bild". So analysiert Brumlik ausgehend von Hans Blumenbergs Interpretation des platonischen Höhlengleichnisses die Schlüssigkeit der pädagogischen Deutungen von Platons Höhlenmythos. Insbesondere das damit verbundene Bild des Herausführens aus der Unmittelbarkeit der Höhle wird vor dem Hintergrund der Blumenbergschen Metaphorologie von Theodor Ballauff über Hans-Joachim Heydorn bis hin zu Alain Badiou einer genaueren Prüfung unterzogen. Dass Blumenberg nicht nur additiv zu den Werken von Pädagoginnen und Pädagogen gelesen werden kann, wird durch den Beitrag „Lernen am Ausgang der Höhle. Blumenberg für Unbelehrbare“ all jenen gewahr, die den sehr verwickelten Ausführungen des Autors Anselm Haverkamp zu folgen vermögen. Blumenbergs Höhlengleichnis als „ein Stück Arbeit am Mythos Paideia“ (35) ist gerade aufgrund Blumenbergs kritischer Auseinandersetzung mit seinem ehemaligen akademischen Lehrer Walter Bröcker von pädagogischen, bildungs- und lerntheoretischen Fragen regelrecht durchzogen. Egbert Witte beanstandet in seiner Lektüre „Höhlen-Mythos und Geburtsmetapher. Die Philosophie Blumenbergs und der erziehungswissenschaftliche Diskurs“ die Widerborstigkeit der Blumenbergschen philosophisch-historischen Ausführungen hinsichtlich pädagogischer Fragestellungen. Dennoch gelingt es Witte vorzüglich, an beispielhaften Textpassagen Blumenbergs die Inkonsistenz des Bildungsverständnisses bei Platon nachvollziehbar sowie anknüpfend an die platonische „Metapher der Bildung als Geburt“ (61) die Entzugsstruktur, Negativität und Schmerzhaftigkeit von Bildung für neuzeitliche, idealistisch geprägte Verständnisse von Bildung fruchtbar zu machen. Letztgenannter Beitrag löst sich damit von den vorangegangenen nachvollziehenden Lektüren und endet in der pädagogischen Auseinandersetzung um ein erweitertes Verständnis des Bildungsbegriffs.

Johannes Drerup plädiert in seinem Beitrag „Pädagogische Metaphorologie. Grundlegungs- und Anwendungsprobleme“ im Rekurs auf Blumenberg als „wichtiger Vorläufer moderner kognitiver Metapherntheorien“ (72), dass Metaphern als Horizont des Vorbegrifflichen nicht nur „konstitutiv für erziehungswissenschaftliche Grundlagenreflexion und jede Form pädagogischer Praxis“ (72) sind, sondern alle leitgebenden pädagogischen Metaphoriken auf paternalistischen Begründungsfiguren fußen und deshalb einer metaphorologisch sozialwissenschaftlich-empirischen Aufklärung bedürfen. Ausgehend von Lewitscharoffs Roman „Blumenberg“ führt Jürgen Oelkers in „Musik, Literatur und ein alter Löwe im Arbeitszimmer: Zum Verhältnis von Erziehung und Biografik“ den Leserinnen und Lesern die gewinnbringende Auseinandersetzung der Pädagogik mit autobiografischen Kindheitserzählungen vor Augen, als Folge dessen Grenzen und Möglichkeiten von Erziehung, aber auch von Bildung in einem neuen Licht erscheinen können.

Neuland beschreitet Frank Ragutt in seiner Lektüre „Daseinsmetaphorik und Nationalsozialismus. Anmerkungen zu einer noch unbearbeiteten Epoche der Metaphorologie und Metaphorographie“. Er skizziert darin, welchen Beitrag die metaphorologische Analyse im Anschluss an Blumenberg nicht nur für die (bildungs-)historische Forschung im Allgemeinen bietet, sondern auch zur Analyse der nationalsozialistischen Erziehungstheorie und -praxis im Besonderen zu leisten vermag. Damit einher geht die Forderung nach einer praktischen Metaphorologie, „die das ethische Urteilsvermögen im metaphorischen Wirklichkeitsbezug stärkt“ (129). In „Die Lesbarkeit der sozialen Welt: Hans Blumenberg und die hermeneutische Situation der Soziologie“ kritisiert der Soziologe Joachim Renn die Tendenz, die philosophische Hermeneutik in ihrer Bedeutung für die Reflexion der soziologischen Sprache zu unterschätzen. Renn versucht, Blumenberg über die diskursiven Grenzen der Erziehungswissenschaft hinausgehend anschlussfähig zu machen, indem er seine eigenen Überlegungen zur Hermeneutik der Soziologie sprach- und wissenschaftstheoretisch auf die Arbeiten von Blumenberg bezieht und damit einhergehend einseitige sozialkonstruktivistische Vereinnahmungen abwehrt. Einen blinden Fleck der Pädagogik macht Markus Rieger-Ladich aus, wenn er in seinem prägnanten Beitrag „Scheitern de-/thematisieren. Überlegungen zum pädagogischen Denkstil im Anschluss an Ludwik Fleck und Hans Blumenberg“ anhand der Erkenntnistheorie von Ludwik Fleck und der Blumenbergschen Metaphorologie Scheitern zu einem pädagogischen Gegenstand macht, um nicht zuletzt „auf diese Weise etwas über die Denkkollektive und Denkstile in Erfahrung zu bringen, die der Erziehungswissenschaft im deutschsprachigen Raum ihr spezifisches Gepräge verleihen“ (167). Diese Wendung hin zu bisher wenig beachteten (pädagogischen) Grundmomenten und -motiven ist allen Beiträgen im zweiten Abschnitt ebenso gemein wie die Forderung nach der wissenschaftlichen Thematisierung von Narrationen, aber vor allem von Metaphern. Letztgenannte sind, insbesondere in Zeiten des Umbruchs, in denen die Sprache an ihre Grenzen gerät, zur Darstellung neuer Entwicklungen und spektakulärer Ereignisse sensibler für das Unausdrückliche und können als vorbegriffliche Erkenntnismittel neben anderen Formen der wissenschaftlichen Welterschließung koexistieren sowie diesen hilfreich beistehen.

Der letzte Abschnitt des Bandes forciert die Auseinandersetzung mit den in die Pädagogik eingesetzten Hoffnungen auf das, was aus Menschen zu machen sein könnte. Er beginnt mit dem Beitrag „Die Veränderung pädagogischen Denkens durch die Erfahrung mit Technik“, in welchem Käte Meyer-Drawe – ihre Blumenberg-Rezeption fortsetzend – Technisierung im Sinne Blumenbergs versteht und deren Bedeutung für pädagogisches Denken abwägt. Eindrücklich warnt sie vor der zunehmenden Formalisierung und Funktionalisierung pädagogischer Vollzüge, die aktuell in einer „Naturierung des Technischen“ (191) gipfele und sich vor allem in der unkritischen Rezeption der Hirnforschung zeige. Franz Josef Wetz eröffnet in „Kulturanthropologie zwischen Mangel und Überfluss. Hans Blumenberg und Georges Bataille“ ein anthropologisches Zwischen, das den Menschen im Zwischenfeld von Überlebens- und Sexualtrieb als Unmögliches feststellt und ihm darüber hinausgehend sowohl natürliche Daseinsmängel als auch maßlose Begierden nach der vollen Intensität des Lebens zuschreibt. Obwohl Wetz abschließend eine evolutionsbiologische Verankerung seiner Thesen versucht, bleibt offen, welche Implikationen von dieser anthropologischen Festsetzung für die Pädagogik abgeleitet werden können. Eine Fortsetzung, wenngleich keinesfalls eine Antwort, findet die Frage nach der Bestimmung des Menschen im letzten Text des Sammelbandes. So erhebt Tim Zumhof in seinem Beitrag „„Die emsige Arbeit am Bilde“ – Anmerkungen zum geschichtlichen Unrecht in der Begriffsgeschichte der Bildung im Anschluss an Hans Blumenbergs Die Legitimität der Neuzeit“ Einspruch gegen die Selbstverständlichkeit, mit der Umbesetzungen betrieben und damit einhergehend behauptet wird, „dass der neuzeitliche Bildungsbegriff ein Säkularisat der christlichen Lehre der Gottesebenbildlichkeit des Menschen sei“ (225). Zumhof bestimmt Bildung als „Ausdruck humaner Selbstbehauptung“ (236) und deutet dadurch auf die selbstgestellten und notwendigen, aber nie zu einem Abschluss zu bringenden Antwortversuche hin, was es durch das Vermögen zur Distanzierung (pädagogisch) bedeuten kann, Mensch zu sein und Mensch zu werden.

Auch nach der Lektüre des Bandes bleibt die Erkenntnis bestehen, dass Hans Blumenberg, wenngleich ein pädagogisch und bildungsphilosophisch anschlussfähiger, doch auch ein herausfordernder Autor ist. Seine Werke sind produktiv in dem Sinne, dass sie vielfältige Bedeutungsüberschüsse generieren. Die Sinnüberschüsse seiner Texte aufzugreifen und im Rahmen einer gemeinsamen inhaltlichen Fokussierung mit eigenen Bedeutungen zu versehen, ist im vorliegenden Sammelband gelungen. Erfinderisch gehen die Autorinnen und Autoren dem eingangs artikulierten Anspruch der Herausgeber nach, „mögliche Antworten auf die Frage zu gewinnen, welche Anschlussmöglichkeiten Blumenbergs Werk für bildungsphilosophische und erziehungswissenschaftliche Überlegungen bietet“ (5). Diese Antworten sind durchaus auch pragmatisch. Bestimmte Themengebiete werden ausgeklammert (z.B. die aus dem Umkreis von Poetik und Hermeneutik stammenden Beiträge zur Ästhetik) sowie die Vielseitigkeiten und Spannungen, die Blumenbergs Werke auszeichnen, teilweise übergangen. Stattdessen wird insbesondere auf Themenstellungen der eigenen Forschungspraxis fokussiert (vgl. z.B. Oelkers und Wetz in vorliegendem Band). So komplex und offen mitunter einige Beiträge sind, so wenig ermangelt es ihnen an Dichte und Prägnanz, die auch das Signum von Hans Blumenbergs Schreiben sind. Damit erschließen sich Blumenbergs Werke all jenen, welche neu und anders lesen und verstehen möchten. Aufgrund des Überschusses an Sinn, den seine Texte, aber auch die Lektüren seiner Texte anbieten, kann die eingangs gestellte Frage „Warum Blumenberg lesen, wenn es erziehungswissenschaftlich und bildungsphilosophisch obligatere Autoren gibt, denen man einen Sammelband widmen könnte?“(5) klar beantwortet werden.
Evi Agostini (Innsbruck)
Zur Zitierweise der Rezension:
Evi Agostini: Rezension von: Ragutt, Frank / Zumhof, Tim (Hg.): Hans Blumenberg: Pädagogische Lektüren. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2016. In: EWR 15 (2016), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365803477.html