‚Das wird man ja wohl noch sagen dürfen’, ‚endlich spricht es einer aus’ – solche Sätze fallen häufig, wenn es in der deutschen Öffentlichkeit um Fragen der Migration und ‚Integration’ geht. Das ‚endlich Ausgesprochene’ wird dabei als Tabubruch, als Einsatz für die Meinungsfreiheit inszeniert, obwohl es angesichts seiner häufigen Verbreitung und Stimmgewalt kaum als solcher gelten kann [1].
„Worüber man sprechen kann und worüber man (nicht) sprechen soll“ ist also im Kontext von Migration ein viel diskutiertes Thema, dem sich der Band auf eine vielseitige und vielschichtige Weise widmet. Er geht der Frage nach, welche Wirkungen Sprechen und Schweigen im Migrationskontext haben können, wie Sprachpraktiken und Sprechakte in diesem Kontext diskutiert, bewertet und gelenkt werden (können), was sich ereignet, wenn auf die eine oder andere Weise gesprochen wird. Sprache sei im Migrationsdiskurs „nicht eben nur Medium, sondern Kampfplatz“ (8), so heißt es in der Einleitung, und verdiene daher besondere Aufmerksamkeit.
Der Band, der aus Vorträgen aus einem Forschungskolloquium der Forschungsstelle für interkulturelle Studien (FiST) an der Universität zu Köln entstanden ist, gliedert sich nach einer kurzen Einleitung in zwei Teile, wovon der erste Sprache und Sprechen grundlegend „als Faktoren der Macht im gesellschaftlichen Diskurs“ (10) analysiert und der zweite „Sprache und Sprechen als Thema des Migrationsdiskurses“ (83) in verschiedenen Feldern von Migrationsforschung und öffentlichen Debatten beleuchtet.
Der erste Teil besteht aus drei vorwiegend theoretisch geleiteten Beiträgen zu der Wirkung, den Logiken und möglichen Effekten von Sprache, Sprechen und Schweigen (nicht nur) im Kontext von Migration. Als zentralen gemeinsamen Bezugspunkt setzen die Autorin und die beiden Autoren Judith Butlers Arbeiten für die verschiedenen Fragen nach Sprache in der Migrationsgesellschaft ein, etwa wenn es um die Unterscheidung zwischen legitimem und illegitimem Sprechen geht, um Verletzbarkeit und die Macht, zu verletzen, sowie um Handlungsfähigkeit, die erst durch die konstituierende Macht der Sprache möglich wird.
Hans-Joachim Roth eröffnet den Band mit historischen und theoretischen Überlegungen zu dem Verhältnis von Sprache, Sprechen und Schweigen im Kontext von Mehrsprachigkeit und Migration. Ausgehend von diskriminierenden Logiken der deutschen Schulpolitik, nach denen Mehrsprachigkeit immer noch ausgegrenzt und als Bildungshindernis konstruiert wird, geht Roth in seinem Beitrag zunächst der Geschichte der nationalen Sprachenpolitik Deutschlands nach. In einem großen historischen Bogen und detailreich zeigt er, wie die weiterhin sichtbare „Tendenz zu einer Vereinheitlichung und Standardisierung“ (18) der (nicht nur) deutschen Sprache sowohl Mittel als auch Effekt der Herausbildung eines Nationalstaates ist. Mit Foucault arbeitet Roth heraus, was als legitimes Sprechen konstruiert wird und wie „Migrationssprachen“, „Dialekte und Sprachvarietäten“ als sich der (bürgerlichen) Ordnung widersetzend konstruiert und als „illegitimes Sprechen“ ausgeschlossen werden (25; 39). Im Anschluss an Butler fragt er nach (verwehrten) Möglichkeiten von „Minderheiten“, machtvoll zu sprechen, und einem „Verstummen“ angesichts von (schulischen) Diskriminierungserfahrungen im Kontext von Migration.
Susanne Völker setzt sich in ihrem Beitrag mit der grundlegenden Frage auseinander, wie in Zeiten von Transformationen ökonomischer, politischer, sozialer Ordnungen und normativer Klassifikationen „die Sprache als Modus der Bestimmung des Denkbaren und Legitimen an der Herstellung (veränderter) sozialer Wirklichkeit beteiligt ist“ (44). Mit Pierre Bourdieu nimmt sie eine praxeologische, prozessorientierte Perspektive auf Strukturen und Klassifikationen ein, während ihr Judith Butlers Arbeiten erlauben, den Fokus auf Veränderungsmöglichkeiten und Widerstandspotenziale zu verschieben. In ihrem genauen Zusammen- und Gegeneinanderlesen wesentlicher Konzeptionen dieser beiden Ansätze sowie mit Bezug auf insbesondere affekttheoretische Ansätze entwickelt Völker ein komplexes Denkgerüst für die Frage nach dem „Ereignen des Sozialen“ (54) in seinen begrenzenden wie ermöglichenden Dynamiken. Ihr Nachdenken über – oft leidvolle, materiell-körperliche, affektiv angetriebene – Möglichkeiten der Des-Identifikation und des Verschiebens normativer Klassifikationen eröffnet eine differenzierte Perspektive darauf, wie Neues geschaffen wird. Mit den „Precarias a la Deriva“ führt sie abschließend eine Form des Aktivismus an, die auf Grundlage unterschiedlicher Prekarisierungserfahrungen und durch das Bewegen an den Grenzen des Legitimen neue Orte und Handlungsräume erschließt und „Strategien gegen die Wirkmacht der Klassifikationen“ (59) erarbeitet.
Dem in Migrationsdebatten immer wieder diskutierten Thema der „korrekten Sprache“ widmet sich Charis Anastasopoulos. Anstatt für oder gegen „korrekte Sprache“ zu plädieren, untersucht Anastasopoulos sie als „Kulturvorgang“ (62), indem er Judith Butlers Überlegungen zu verletzenden Sprechakten und Emil Durkheims Untersuchungen gesellschaftlichen Zusammenhalts zusammenführt: Wer wirft wem zu welchen Zwecken einen ‚falschen’ Umgang mit Sprache vor und welche Effekte kann ein solcher Vorwurf haben? Bezugspunkte der Analyse sind zum einen der Vorwurf der Nicht-Verwendung der deutschen Sprache an verschiedene, in diesem Diskurs hergestellte Gruppen, der nur im Kontext von Migration zu einer Anschuldigung angeblicher „Integrationsverweigerung“ wird; zum anderen die „Reglementierung“ der Verwendung von als inkorrekt und verletzend verstandenen Begriffen. Als Effekt des in den jeweiligen Kontexten verhandelten „korrekten“ Sprachverhaltens sieht Anastasopoulos die Stiftung von Zusammenhalt unter denen, die sich darauf verständigen (78ff).
Die von Anastasopoulos analysierten Beispiele lassen sich sicherlich kontrovers diskutieren. Bezogen auf seine These, dass der ‚Rassismusvorwurf’ im Kontext von Debatten um „korrekte Sprache“ zuweilen für „Diskreditierungen“ instrumentalisiert werde (80), ließe sich etwa mit Sara Ahmed [2] fragen, ob die Praxis der Delegitimierung von Rassismuskritik im Machtgefüge um Migration nicht weitaus folgenreicher ist.
Der zweite, „Beispiele für den Diskurs“ (83) aufgreifende Teil des Bandes wird mit Christoph Butterwegges Analyse des viel diskutierten Buchs „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin (2010) eröffnet. Butterwegges genaue Analyse des Buches und verschiedener Interviews, seine Historisierung von Sarrazins Argumentationen sowie deren gleichzeitiges Entkräften gehen über oft vage darauf Bezug nehmende Debatten hinaus. So arbeitet er etwa detailliert heraus, wie Sarrazin kulturalistischen mit biologistischem Rassismus zu einer „dual“ oder „hybrid“ zu nennenden Form von Rassismus verbindet (90). Bei Sarrazin fänden sich, so das Ergebnis der Analyse, „alle ideologischen Kernbestandteile des Rechtspopulismus“ (85); Sarrazins rassistische Polemik insbesondere gegen „Migranten muslimischen Glaubens“ (92) verdichte sich dabei unter anderem mit Skandalisierungen des Sozialstaats und Bagatellisierungen von Armut zu einem Bedrohungsszenario, dessen Erfolg Butterwegge mit der (neuen) Kombination verschiedener alter Diskurse und einer „tiefen Sinnkrise des Sozialen“ (97) nicht zuletzt in Zeiten von Neoliberalismus und Finanzkrisen erklärt.
Mit Elke Kleinaus historischer Thematisierung von Auswanderung aus Deutschland und Tim Wolfgartens Blick auf die ‚documenta 12’ werden für die sozial-/erziehungswissenschaftliche Migrationsforschung recht seltene Themen angeschnitten. Elke Kleinau untersucht anhand eines autobiografisch-fiktiven Briefromans der Ende des 19. Jahrhunderts von Deutschland nach Brasilien „ausgewanderten“ Lehrerin Ina von Binzer, „wie in einer individuellen Lebensgeschichte jeweils Identitätsbildungsprozesse, Positionierungen im sozialen Gefüge und Fremdheitserfahrungen ineinandergreifen“ (103). Anschaulich arbeitet sie Konstruktionen von ‚Heimat’ und ‚Fremde’ heraus und verdeutlicht, wie Sprache zur Konstruktion von ‚Fremdheit’ und Zugehörigkeit beiträgt und wie mit solchen Zuschreibungen Faktoren wie (Bildungs-)‚Stand’ und soziale Herkunft verbunden sind. Vor dem Hintergrund der historischen und biografischen Spezifika von Roman und Autorin werden ineinandergreifende Vergeschlechtlichungs-, Bildungs- und Klassendifferenzierungen, rassistische und zuweilen antisemitische Zuschreibungspraktiken sichtbar.
Tim Wolfgarten fragt in seinem Beitrag nach der transformierenden Kraft von Kunst, indem er mit Michel Foucaults Arbeiten zu dem Verhältnis von Macht, Diskurs und Wissen und Gayatri Chakravorty Spivaks zu Subalternität, Repräsentation und Hegemonie die „institutionellen Inszenierungen“ „engagierter Kunst“ der ,documenta 12’ untersucht. Die angekündigte Analyse des Ausstellungskatalogs kommt letztlich etwas zu kurz; deutlich wird das Potential (des Ausstellens) „engagierter“ Kunst, Subjekte und Lebensbedingungen sichtbar zu machen, die sonst unsichtbar bleiben würden.
Henrike Terhart wendet den analytischen Blick auf die Rolle und Position von qualitativ Forschenden in der (visuellen) empirischen Migrationsforschung und fragt nach Sagbarem und Unsagbarem in Forschungsprozessen. Wird auf forschungsethische Fragen nach der eigenen Positionierung und möglichen (Re-)Produktionen ethnisierender oder rassifizierender Markierungen und Zuschreibungen in der Migrationsforschung häufig die Selbstreflexion der Forschenden als ‚Lösung’ bemüht, fragt Terhart in ihrem Artikel anhand des Beispiels der Analyse von Fotografien nach dem genauen ‚Wie’ einer solchen Reflexion. So stellt sie etwa für die „Überführung von Bildhaftem in Sprache“ Fragen nach der Wirkmächtigkeit von Sprache: Was wird ‚beschrieben’, was wird ausgelassen, welche Effekte haben Sprechen und Schweigen? „Bildbeschreibungen“ sieht sie nicht als harmlose Benennungen „sichtbarer“ Details, sondern als durch den Kontext der Untersuchung sowie der sozialen Konstellationen konstituiert, in denen sich Forschende und Beforschte bewegen. So schlägt Terhart einen systematischen und schrittweisen Einbezug von Kontextwissen in die Fotografieanalyse vor, bei der zum einen „die eigene Position im Forschungsprozess als eine spezifische, in gesellschaftliche Diskurse eingebettete Perspektive“ (130) aufgezeigt werden, zum anderen dem forschenden Bewegen an den „Grenzen des Sagenkönnens und des Sagenwollens“ (131) durch stellenweise „bewusste Auslassungen“ begegnet werden kann.
Der Band bietet mit seinen Analysen zentraler Fragen zu Sprache, Rassismus und Integrationsdebatten in der Migrationsgesellschaft wie den BezĂĽgen zu einigen zentralen Theorien zu machtkritischem Nachdenken ĂĽber Sprache und ihre Wirkungen viel Stoff fĂĽr weiterfĂĽhrende Debatten.
[1] So titelte etwa die BILD am 4.9.2010 in ihrer Kampagne für „Meinungsfreiheit“ im Kontext der ‚Sarrazin-Debatte’ „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“.
[2] Ahmed, S. (2011): Problematic Proximities: Or Why Critiques of Gay Imperialism Matter. Feminist Legal Studies, 19 (2): 119-132: 122f.
EWR 13 (2014), Nr. 3 (Mai/Juni)
Sprache und Sprechen im Kontext von Migration
WorĂĽber man sprechen kann und worĂĽber man (nicht) sprechen soll
Wiesbaden: Springer VS 2013
(161 S.; ISBN 978-3-658-00379-1; 34,94 EUR)
Käthe von Bose (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Käthe von Bose: Rezension von: Hans-Joachim, Roth, / Henrike, Terhart, / Charis, Anastasopoulos, (Hg.): Sprache und Sprechen im Kontext von Migration, WorĂĽber man sprechen kann und worĂĽber man (nicht) sprechen soll. Wiesbaden: Springer VS 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 3 (Veröffentlicht am 04.06.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365800379.html
Käthe von Bose: Rezension von: Hans-Joachim, Roth, / Henrike, Terhart, / Charis, Anastasopoulos, (Hg.): Sprache und Sprechen im Kontext von Migration, WorĂĽber man sprechen kann und worĂĽber man (nicht) sprechen soll. Wiesbaden: Springer VS 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 3 (Veröffentlicht am 04.06.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365800379.html