EWR 11 (2012), Nr. 3 (Mai/Juni)

Martin Fischer / Matthias Becker / Georg Spöttl (Hrsg.)
Kompetenzdiagnostik in der beruflichen Bildung
Probleme und Perspektiven
Frankfurt am Main: Peter Lang 2011
(236 S.; ISBN 978-3-631-61660-4; 39,80 EUR)
Kompetenzdiagnostik in der beruflichen Bildung Die Frage nach Kompetenzen und ihrer Feststellung in pĂ€dagogischen Settings bildet bereits seit einigen Jahren einen Schwerpunkt der Bildungs- und der Berufsbildungsforschung. Bekanntermaßen problematisch erscheint in diesem Zusammenhang der Kompetenzbegriff, der, je nach Disziplin und Standpunkt, unterschiedlich weit oder eng gefasst, ausgedeutet und damit schließlich auch fĂŒr unterschiedliche Messverfahren verschiedenartig operationalisiert wird. Im berufsbildenden Bereich ergibt sich darĂŒber hinaus der besondere Anspruch, solche Kompetenzen zu entwickeln und festzustellen, die fĂŒr die BewĂ€ltigung von realen Arbeits- und GeschĂ€ftsprozessen je domĂ€nenspezifisch benötigt werden. FĂŒr den vorliegenden Band formulieren die Herausgeber daher folgendes Ziel: „Der Zusammenhang zwischen einem geeigneten KompetenzverstĂ€ndnis, der Aussagekraft und QualitĂ€t angewendeter Verfahren und den zu unterstĂŒtzenden Kompetenzentwicklungsprozessen wird in den BeitrĂ€gen dieses Buches untersucht“ (8).
Der in der Reihe „Berufliche Bildung in Forschung, Schule und Arbeitswelt“ erschienene Sammelband gliedert sich in drei unterschiedliche Themenfelder mit insgesamt 12 BeitrĂ€gen, die sowohl die verschiedenen Problemstellungen der Kompetenzmodellierung und der Kompetenzdiagnostik als auch Anwendungsfelder und Methoden der Kompetenzmessung in der beruflichen Bildung und Perspektiven fĂŒr die Kompetenzdiagnostik im Bereich beruflicher Arbeit und Ausbildung in den Blick nehmen. Den Herausgebern gelingt damit ein sehr guter und durchaus auch kritischer Überblick ĂŒber die aktuelle wissenschaftliche Diskussion zum Thema Kompetenzdiagnostik in der beruflichen Bildung.

Grundlage des ersten Teils des Bandes bilden vornehmlich theoretische Überlegungen zum Themengebiet. Georg Spöttl erörtert in seinem Beitrag Kompetenzmodelle, bei denen „berufliche Kompetenzen und das VerhĂ€ltnis von Personen zu beruflichen Aufgaben“ (14) im Mittelpunkt stehen. Besonders aufschlussreich erscheinen Spöttls Systematisierung verschiedener, in der Literatur auffindbarer, Kompetenzmodelle sowie seine Überlegungen zu domĂ€nenbezogenen AnsĂ€tzen und deren Dimensionierung. Hierin sieht der Autor eine gute Möglichkeit, „einer individuellen Diagnostik der Leistungen im Rahmen einer Berufsausbildung gerecht zu werden“ (36). Der Beitrag von Frank Musekamp beschĂ€ftigt sich mit der Anwendbarkeit klassischer testtheoretischer GĂŒtekriterien fĂŒr Instrumente der Kompetenzmessung. Anschaulich werden Dilemmata zwischen Konstruktweite, TestgĂŒte und Verwendungszusammenhang dargestellt. Musekamp plĂ€diert abschließend fĂŒr eine Grundlagenforschung zur Kontrolle der in der Kompetenzmessung angewendeten Instrumente.

Mit der validen AbschĂ€tzung von Kompetenzen als einer notwendigen Basis zur Effektbeurteilung pĂ€dagogischer Handlungsprogramme setzen sich im dritten Beitrag des vorliegenden Bandes Reinhold Nickolaus, Tobias Gschwendtner und Stephan Abele auseinander. Herausforderungen, AnsĂ€tze und Perspektiven werden darin beispielhaft am Kfz-Bereich diskutiert. Den AusfĂŒhrungen der Autoren liegt das von Klieme und Leutner 2006 veröffentlichte KompetenzverstĂ€ndnis zugrunde, welches sich auf kontextspezifische kognitive Dispositionen konzentriert und sich auf Klassen von Situationen und Anforderungen in bestimmten DomĂ€nen bezieht. Nickolaus et al. begrĂŒnden auf Basis ihrer dargestellten Forschungsarbeiten, warum aus ihrer Sicht die Konzentration auf Teilsegmente im Bereich der Kompetenzmessung sinnvoll ist. Handlungsleitend erscheinen in diesem Kontext vor allem Überlegungen zur testtheoretischen GĂŒte von Messinstrumenten, wie sie auch bereits im vorhergehenden Beitrag von Musekamp diskutiert wurden. An die AusfĂŒhrungen von Nickolaus et al. schließt sich – aus erfrischend kritischer Perspektive – Matthias Beckers Beitrag an, der die Frage der Eignung der Item-Response-Theorie zur Erfassung beruflicher Kompetenzen thematisiert. Becker argumentiert, dass „Modellierungen [von Kompetenztests, A.S.] mit inhaltlich völlig ungeeigneten Testitems möglich [sind], die testtheoretisch ValiditĂ€t vortĂ€uschen, aber in Wahrheit ein anderes Konstrukt als das Beabsichtigte messen“ (78). Becker stellt drei GĂŒtebereiche berufswissenschaftlicher Forschung vor und fĂŒhrt beispielhaft aus, wie anhand von zehn Konstruktionsregeln die InhaltsvaliditĂ€t von Testitems ĂŒberprĂŒft werden kann.

Der zweite Teil des vorliegenden Bandes gliedert sich in die drei Anwendungsbereiche: Elektrotechnik-Facharbeit, Soziale und Interkulturelle Kompetenzen sowie Kompetenzen im internationalen Vergleich. Im ersten Beitrag berichtet Bernd Haasler aus zwei Modellprojekten (KOMET und KOMET/China) zur Messung berufsfachlicher Kompetenzen im Berufsfeld Elektrotechnik-Informatik, wobei die Raterschulungen zur Bewertung gestaltungsoffener Testaufgaben im Mittelpunkt stehen. Insbesondere die AusfĂŒhrungen zur Raterschulung in Peking/V.R. China demonstrieren eindrucksvoll die Herausforderungen, aber auch die Potentiale bei der Übertragung von Kompetenzmessverfahren in andere kulturelle Kontexte.

Auf Basis zweier DFG-geförderter Forschungsprojekte erörtern Alexander Nitzschke, Bernd Geißel und Reinhold Nickolaus im nĂ€chsten Beitrag Möglichkeiten der Erfassung von Fachkompetenz bei Elektronikern und deren PrĂ€diktoren ĂŒber den Verlauf der Ausbildung anhand der Simulation technischer Systeme. Dies erfolgt ĂŒber die Erfassung fachspezifischen Wissens sowie der FehleranalysefĂ€higkeit, ĂŒber die nach Auffassung der Autorengruppe die Abbildung zentraler Elemente von Fachkompetenz möglich ist. Durch ihre Forschungsarbeiten können sie die zentrale Annahme bestĂ€tigten, „dass kognitiven Einflussfaktoren fĂŒr den Fachkompetenzstand [...] am Ende der Ausbildung erhöhte Bedeutung zukommt“ (125), was auch fĂŒr die gesamte Ausbildungsdauer gilt.

Dem Konstrukt der Sozialkompetenz widmet sich Gerd Gidion im dritten Beitrag des zweiten Teils des Bandes. Er arbeitet zunĂ€chst die Bedeutung von Sozialkompetenz im pĂ€dagogischen Kontext und im Beruf heraus, um dann beispielhaft anhand eines Studiengangs im Fach Maschinenbau die Umsetzung eines Konzepts zur Förderung von Sozialkompetenz darzustellen. EinschrĂ€nkend ist allerdings anzumerken, dass – so der Autor – die Umsetzung der Konzeption auf einer praktischen Ebene verbleibt. Inwieweit eine theoretische Reflexion bei der Vermittlung von Sozialkompetenz in universitĂ€ren Settings erreicht werden kann, bleibt eine noch zu bearbeitende Fragestellung.

Der Kompetenzentwicklung im interkulturellen betrieblichen Kontext widmen sich Miriam Wild und Walter Jungmann. Anhand des Fallbeispiels eines mittelstĂ€ndischen Automobilzulieferers werden vor dem Hintergrund kultur- und sozialisationstheoretischer AusfĂŒhrungen Trainingskonzeptionen im interkulturellen Kontext beschrieben. Wild und Jungmann skizzieren darĂŒber hinaus ein Forschungsdesign zu deren Evaluation bezĂŒglich kultureller EinflĂŒsse auf die Kompetenzentwicklung. Ihr Beitrag endet mit ersten Zwischenergebnissen, die jedoch notwendigerweise noch auf einer sehr deskriptiven Ebene verbleiben.

Eine europĂ€ische Perspektive auf das Thema Kompetenzdiagnostik eröffnet Thomas Reglin mit seinem Beitrag zur Kompetenzmodellierung und -diagnostik im europĂ€ischen Leistungspunktesystem ECVET. Neben der anschaulichen Darstellung des Anliegens und der Ziele von ECVET (European Credit System for Vocational Education and Training) wird anhand der ErlĂ€uterungen zum Kompetenzbegriff im europĂ€ischen Kontext deutlich, dass hier nicht auf prozessnahe (Test-)Ergebnisse, sondern auf im Lernprozess erworbene HandlungsfĂ€higkeit abgehoben wird. Fragen der Kompetenzmessung werden im Zusammenhang mit ECVET sehr allgemein thematisiert. Reglin kommt zu dem Schluss, „dass die ECVET-Empfehlung das DASS, nicht das WIE der Kompetenzfeststellung fixiert“ (163, Hervorhebung im Original).

Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Berufsbildungssystemen und den dort vorherrschenden KompetenzverstĂ€ndnissen im europĂ€ischen Kontext werden im vorletzten Beitrag des zweiten Teils von Michaela Brockmann, Linda Clarke und Christopher Winch erörtert. Sie beziehen sich auf eine dreijĂ€hrige Studie, die untersuchte, wie SchlĂŒsselkonzepte der Berufsbildung in verschiedenen Kontexten verstanden werden. Die Autoren kommen im Ergebnis bezĂŒglich der auch bereits im Beitrag von Reglin dargestellten Output-Orientierung im Zusammenhang mit dem Kompetenzbegriff zu einem eher kritischen Urteil und konstatieren: „Gegenseitiges Vertrauen bei pĂ€dagogischen Begriffsbestimmungen sollte nicht mit der ‚Harmonisierung‘ von BeschĂ€ftigungsstrukturen und industriellen Beziehungen verwechselt werden“ (188).

Den Abschluss des zweiten Teils des Sammelbandes bildet Barbara E. Stalders Beitrag zu den Ergebnissen der Schweizer PISA-Folgestudie „TREE“. Durch die empirische ÜberprĂŒfung von Risikothesen bezĂŒglich des Zusammenhangs zwischen LeseschwĂ€che und Ausbildungserfolg kommt Stalder zu dem Schluss, dass (mangelnde) Lesekompetenz kaum ein Ausschlusskriterium fĂŒr die Aufnahme und den erfolgreichen Abschluss einer einfachen Berufsausbildung darstellt. Gleichwohl bleibt schlechte Lesekompetenz ein nicht unerheblicher Faktor fĂŒr den Ausbildungserfolg insgesamt.

Die AusfĂŒhrungen von Martin Fischer und Peter Röben zur Frage der kollektiven Kompetenz als wenig beachteter Dimension beruflicher Kompetenzdiagnostik bilden den einzigen Beitrag im dritten Teil und schließen den vorliegenden Band ab. Die Autoren argumentieren, „dass berufliche Leistungen nicht nur als Summe individueller Kompetenzen betrachtet werden können, sondern als Resultante kollektiver Kompetenz. In diese kollektive Kompetenz gehen die individuellen Kompetenzen ebenso ein wie die materiellen und immateriellen Rahmenbedingungen fĂŒr die Erbringung beruflicher Leistungen im Betrieb“ (219). Nach Auffassung der Autoren wĂŒrde eine Erweiterung der gĂ€ngigen Kompetenzmodelle um den Aspekt der kollektiven Kompetenz die Kompetenzdiagnostik bereichern und an den internationalen Diskurs zur Thematik besser anschlussfĂ€hig machen.

Wie eingangs bereits angedeutet, gelingt den Herausgebern mit der Auswahl der BeitrĂ€ge ein sehr guter Überblick ĂŒber den aktuellen Status Quo zu Fragen der Kompetenzdiagnostik in der Berufsbildung – nicht nur im deutschen, sondern auch im europĂ€ischen Kontext. Besonders positiv ist hervorzuheben, dass einige BeitrĂ€ge die durchaus als paradigmatisch zu bezeichnenden AnsĂ€tze zur Kompetenzdiagnostik in der deutschen Berufsbildungsforschung kritisch hinterfragen und alternative und ergĂ€nzende Sichtweisen anbieten. Insgesamt wird ĂŒber alle BeitrĂ€ge hinweg deutlich, dass neben der Diskussion ĂŒber Umfang, Inhalte, Abgrenzungen und Operationalisierbarkeit des Kompetenzbegriffs auch eine Debatte ĂŒber neue, berufsbildungsspezifische GĂŒtekriterien der Kompetenzdiagnostik durchaus geboten wĂ€re.
Alexander Schnarr (Erfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Alexander Schnarr: Rezension von: Fischer, Martin / Becker, Matthias / Spöttl, Georg (Hg.): Kompetenzdiagnostik in der beruflichen Bildung, Probleme und Perspektiven. Frankfurt am Main: Peter Lang 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 3 (Veröffentlicht am 31.05.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978363161660.html