EWR 9 (2010), Nr. 1 (Januar/Februar)

Elmar Lechner
Pädagogik und Kulturkritik in der deutschen Frühaufklärung: Johann Gottfried Zeidler (1655-1711)
Frankfurt am Main: Lang 2008
(314 S.; ISBN 978-3-631-53589-9; 314,00 EUR)
Pädagogik und Kulturkritik in der deutschen Frühaufklärung: Johann Gottfried Zeidler (1655-1711) Wer war eigentlich Johann Gottfried Zeidler? Dieser mitteldeutsche Pfarrer, der an der Wende zum 18. Jahrhundert lebte, ist wohl den wenigsten heute noch bekannt. Informiert man sich in Jöchers Gelehrtenlexikon, dann liest man zu Zeidler: „ein Magister Philosophiä, gecrönter Poet und Prediger zu Feinstädt im Mansfeldischen … Er war von kleiner Statur, hatte aber ein groß Ingenium, das zuweilen überschnappte.“ Ein hochbegabter Theologe also mit überschäumendem Temperament, der sich auch mit pädagogischen Fragen beschäftigt hat? Das Interesse ist geweckt und so greift man gern zu einem Buch, in dem man mehr über diesen Autoren erfahren kann.

Zeidlers Äußerungen zur Pädagogik sind Teil einer auf theologischen Prämissen beruhenden Kritik an der Kultur seiner Zeit. „Gott hat eine Natürliche Welt erschaffen, die Menschen haben daraus eine künstliche gemacht“ (252). Durch Reflexion über diese Differenz zwischen natürlicher und künstlicher Welt, zwischen göttlichem Plan und Menschenwerk gelingt es Zeidler eine Reihe von Missständen zu benennen, die unbedingt abgeschafft werden müssen. Für den Bereich der Bildung bedeutet dies zum Beispiel, dass die Selbsttätigkeit des Schülers gefördert und dessen manuelle Fähigkeiten entwickelt werden müssen. Auch der muttersprachliche Unterricht sollte demzufolge eine wesentlich größere Rolle spielen.

Wer den hier anzuzeigenden, von dem österreichischen Pädagogikhistoriker Elmar Lechner herausgegebenen Band in die Hand nimmt und den Titel auf dem Buchcover liest, wird in diesem Buch zunächst eine Monographie über Zeidler vermuten. Doch dies ist nicht der Fall, wie der im Buch abgedruckte, ausführlichere Titel verrät, der im Untertitel „Zehn Thesen und Edition einiger seiner autobiographischen, pädagogischen und historischen sowie aphoristischen Schriften“ ankündigt. Das Buch gliedert sich dementsprechend in zwei Teile: Zunächst liefert der Herausgeber Thesen, in denen er den Ertrag seiner langjährigen Beschäftigung mit Zeidler zusammenfasst (7-41). Darauf folgen Texte von Zeidler selbst, die zum Teil unter dessen Namen erschienen sind, zum Teil anonym publiziert wurden (53-309). Ergänzt werden diese beiden Teile durch ein Literaturverzeichnis, in dem die Schriften von Zeidler und Sekundärliteratur enthalten sind.

Ohne Zeidler, der den meisten Lesern gewiss unbekannt ist, überhaupt vorzustellen und ohne in einem Vorwort die Gliederung und die Absicht des Buchs zu erklären, werden zu Beginn vom Herausgeber sofort Thesen formuliert. Dies erschwert den Einstieg in dieses Buch. Zumindest eine Kurzbiographie von Zeidler wäre dem Leser an dieser Stelle eine wichtige Orientierungshilfe gewesen. In seinen Thesen äußert sich Lechner zur Rezeptionsgeschichte der Zeidlerschen Ideen sowie zu dessen Stellung in der Pädagogikgeschichte. In den besonders interessanten Thesen vier und fünf versucht er nachzuweisen, dass Zeidler der Autor mehrerer anonym erschienener Texte ist. Er argumentiert dabei sehr plausibel mit der inhaltlichen bzw. stilistischen Übereinstimmung dieser Texte mit Schriften, die nachweislich und unstrittig von Zeidler verfasst wurden. Pädagogikhistorisch verortet Lechner ihn als Vorläufer von Rousseau und Pestalozzi. Nun lassen sich solche teleologisch inspirierten Traditionslinien gewiss ziehen, wenn die nötigen Belege vorrätig sind. Doch wäre es nicht aufschlussreicher, Zeidlers Stellung zu seinen Zeitgenossen genauer zu untersuchen? Auf seine Beziehung zu Christian Thomasius weist Lechner mehrfach hin. Doch gerade die Betonung der „Handgelahrtheit“ und die Idee der Einrichtung eines collegium mechanicum lassen noch andere Einflüsse und Bezüge vermuten, nämlich zu Erhard Weigel und zu Christoph Semler. An dieser Stelle könnten weitere Untersuchungen zu Zeidler ansetzen, die, durch die Arbeiten von Lechner angeregt, hoffentlich nicht lange auf sich warten lassen.

Den Thesen und dem Literaturverzeichnis folgen auf mehr als 250 Seiten ausgewählte Texte von Zeidler. Das Themenspektrum ist sehr weit, es reicht von der Schulkritik („Sieben Böse Geister, Welche heutiges Tages guten Theils die Küster, oder so genandte Dorff-Schulmeister regieren“) über historische Studien („Doctor Carolstads Geschichte und guter Nachruhm“) bis zu einem Sozietätsprojekt („Vorschlag und Modell eines deutschen Kunst-Collegii“). Die vom Herausgeber gewählte Auswahl liefert einen Einblick in die erstaunliche Vielfalt von Zeidlers Interessen und bietet einen guten Einstieg in seinen pädagogischen Gedankenkreis. Besonders seien zwei Texte zur Lektüre empfohlen: zum einen „Daß ein jeder Mensch sein eigener Handwercksmann seyn solle und könne“ (115-142), in dem Zeidler die Wichtigkeit manueller Tätigkeit für die Bildung des Menschen eindrucksvoll herausarbeitet, und zum anderen der Text „Gegeneinanderhaltung Menschliches Thuns und Lassens im Natürlichen und Aussernatürlichen Stande“ (252-270), der trotz kirchenkritischer Äußerungen den theologischen Rahmen der hier entwickelten pädagogischen Anschauungen klar sichtbar werden lässt.

Insgesamt hinterlässt dieser Teil des Buchs jedoch einen zwiespältigen Eindruck. Gewiss ist es für einen an der Geistes- und Wissenschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit Interessierten immer eine große Freude, wenn alte, oft schwer zugängliche Texte in einer neuen Edition vorliegen. In diesem Fall ist die Freude allerdings etwas getrübt. Eine Edition, die auf jegliche Anmerkung verzichtet, ist nur von eingeschränktem Wert. Zumindest die in den Texten erwähnten Schriften und die Autoren hätten erschlossen werden sollen. Das Buch wird auch nicht durch ein Register erschlossen, das für an speziellen Themen Interessierte einen gezielten Zugriff auf einzelne Punkte erlauben würde. Auch eine Reihe von Fehlern (so stammt z.B. Christian Adolph Pescheck nicht aus Zwickau, sondern aus Zittau, das auf Seite 9 erwähnte Dippoldswalde muss Dippoldiswalde heißen) hätte bei sorgfältigerem Lektorat vermieden werden können.

Was bleibt ist die Bekanntschaft mit einem interessanten Theologen und Pädagogen, der scharf und bissig zu formulieren versteht, jedoch leider viel zu wenig bekannt ist. Es ist sehr zu wünschen, dass das Buch von Elmar Lechner einen Beitrag dazu leistet, diesen Autor stärker in den pädagogikhistorischen Untersuchungen der Zeit zwischen Reformation und Aufklärung zu berücksichtigen. Wäre dafür nicht vielleicht eine kommentierte Edition von Zeidlers „Pantomysterium“ sehr hilfreich?
Stefan Kratochwil (Jena)
Zur Zitierweise der Rezension:
Stefan Kratochwil: Rezension von: Lechner, Elmar: Pädagogik und Kulturkritik in der deutschen Frühaufklärung: Johann Gottfried Zeidler (1655-1711). Frankfurt am Main: Lang 2008. In: EWR 9 (2010), Nr. 1 (Veröffentlicht am 05.02.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978363153589.html