Erscheint ein Buch in Fischers schwarzer Reihe (âDie Zeit des Nationalsozialismusâ), so kann es sich der Aufmerksamkeit des interessierten Publikums gewiss sein. Das gilt fĂŒr Anne C. Nagels Studie ĂŒber das Reichserziehungsministerium (REM) gleich in doppelter Hinsicht: Zum einen ist sie die erste umfassende Arbeit ĂŒber dieses Ministerium und zum anderen spielt der Titel mit Assoziationen, bei denen die meisten nicht an den Nationalsozialismus denken. âBildungsreformerâ assoziieren wir eher mit den Akteuren der 1968er-Ăra, vielleicht auch mit den ReformpĂ€dagogen des frĂŒhen 20. oder gar des 18. Jahrhunderts, nicht aber unbedingt mit den Nationalsozialisten. Sollen hier KontinuitĂ€ten angedeutet werden, die ĂŒber die NS-Zeit hinaus weisen? Geht es um strukturelle Perspektiven, die die Bildungsgeschichte des Nationalsozialismus in gröĂere ZusammenhĂ€nge stellen? Dies scheint in der Tat das Hauptanliegen der GieĂener Historikerin zu sein, die bislang vor allem mit Veröffentlichungen zur UniversitĂ€ts- und Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts hervorgetreten ist.
Die Arbeit ist in sechs Kapitel gegliedert und folgt weitgehend der Chronologie der Ereignisse. Kapitel 1 stellt unter dem Titel âBerlin âUnter den Lindenââ zunĂ€chst den Ort des Geschehens sowie mit Bernhard Rust den Hauptakteur vor. Es skizziert weiter die Vorgeschichte des REM sowie die personellen und inhaltlichen Verflechtungen mit dem PreuĂischen Ministerium fĂŒr Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung in Kaiserreich und Weimarer Republik, aus dem das REM letztlich hervorgegangen ist und mit dem es eng verknĂŒpft blieb. In Kapitel 2 schildert Nagel Struktur und Organisation, Ămter und Abteilungen, Haushalt und Finanzen des Ministeriums sowie das VerhĂ€ltnis des REM zu den Kultusministerien der LĂ€nder. Kapitel 3 stellt mit der âFĂŒhrungsriege um den Ministerâ die wichtigsten Akteure des REM bis auf die Ebene der Amts- und Abteilungsleiter hinunter vor und skizziert auch die NS-typische Konkurrenz der Ressorts, indem u.a. die sich mit dem REM ĂŒberlagernden Interessen des Amtes Rosenberg, des Propagandaministeriums, der Deutschen Arbeitsfront, der Hitlerjugend und auch des Nationalsozialistischen Lehrerbundes als âGegenspielerâ dargestellt werden.
Unter dem Haupttitel âGenormte Bildungâ beschĂ€ftigen sich Kapitel 4 â das m.E. interessanteste und zugleich problematischste Kapitel der Arbeit â mit der Schul- und Bildungspolitik des REM und Kapitel 5 mit der Wissenschaftspolitik des Hauses. Die bildungspolitische âHauptlinie des Ministeriumsâ beschreibt Nagel zutreffend mit âVereinfachung und Vereinheitlichungâ (180). FĂŒr den Bereich der Wissenschaftspolitik zeigt ihre Studie, dass Wissenschaft und Forschung âeinen hohen Stellenwert im Dritten Reichâ einnahmen, und dass im REM âein pragmatisches, von NĂŒtzlichkeit und Effizienzgesichtspunkten geleitetes Denkenâ vorherrschte, das aber âdie Einheit der Wissenschaft an den UniversitĂ€ten zu bewahren suchteâ (286). Freilich standen sĂ€mtliche MaĂnahmen, besonders auch die vernetzende und planvolle Forschungsförderung und Wissenschaftsentwicklung, deren Strukturen bis in die Bundesrepublik hinein nachwirkten (365), im âZeichen des Vierjahresplansâ, so ein Unterkapitel (228ff), und damit im Zeichen der nationalsozialistischen RĂŒstungs- und Kriegspolitik. Auf diesem Feld ist die Autorin sicherer und souverĂ€ner in Argumentation und Urteil als in Bezug auf die nationalsozialistische Schulpolitik.
Kapitel 6 thematisiert schlieĂlich das âMinisterium im Kriegâ, die hinzukommenden Aufgaben in den besetzten Gebieten, âRĂŒckschlĂ€ge im Reformprogrammâ (341ff) sowie das Ende des Ministeriums. Ein umfangreicher Anmerkungsapparat, Verzeichnisse der Quellen, der Literatur und der Abbildungen runden die Arbeit ab. Die 27 Abbildungen sind gröĂtenteils Fotografien, die Rust zu verschiedenen AnlĂ€ssen mit weiteren NS-GröĂen zeigen. Sie sind als Illustrationen in die Arbeit eingestreut und werden nicht als Quellen genutzt. Ein Personenregister erschlieĂt die Arbeit.
Grundlage und Quellen der Darstellung sind zum groĂen Teil die hauptsĂ€chlich im Bundesarchiv ĂŒberlieferten Akten des REM und der kooperierenden bzw. konkurrierenden Behörden und Organisationen sowie zeitgenössische Publikationen. Die einschlĂ€gige historische Literatur wird breit, die bildungshistorische selektiv und wenig systematisch rezipiert â ein Befund, der zumindest irritiert. Nagel argumentiert dicht an den Quellen, urteilt klar und nachvollziehbar und hat einen teilweise brillant erzĂ€hlten Text verfasst, der sich selbst bei der gewöhnlich eher trockenen Institutionengeschichte nicht langatmig liest.
Wenn Nagel mit dem Begriff âBildungsreformerâ sicher einen lĂ€ngerfristigen bildungshistorischen Bogen spannen will, so liegt hier wohl das innovative Potenzial der Arbeit, die ansonsten verstreut vorliegendes Wissen vielfach ĂŒberzeugend bĂŒndelt und kontextualisiert. Die Frage von lĂ€ngerfristigen KontinuitĂ€ten und BrĂŒchen, und damit auch die Frage nach der Gleichzeitigkeit von strukturell notwendiger Bildungsplanung und nationalsozialistischer Ideologisierung ist zweifellos Nagels Leitperspektive. Und die dargestellten Themen der zentralstaatlichen Bildungsplanungen im REM geben dazu auch reichlich Anlass, sind es doch strukturelle Probleme des deutschen Bildungssystems und systematische Fragen, die die Bildungsverwaltung im REM in erheblichem Umfang beschĂ€ftigt haben. Deutlich wird dies u.a. am Entwurf eines âSchulaufbaugesetzesâ, den Nagel ausfĂŒhrlich und erhellend darstellt. Reduzierung der Typenvielfalt und der Zersplitterung des deutschen Schulsystems, Beseitigung des BildungsgefĂ€lles zwischen Stadt und Land (158ff), Reduzierung sozialer Barrieren im Bildungssystem (350ff), Vereinheitlichung der Schulen und Hochschulen (215, 223), VerkĂŒrzung der Schulzeit bis zum Abitur (195), Gleichwertigkeit der BildungsgĂ€nge (171), Studium ohne Abitur (215, 281), Akademisierung der (Volksschul-) Lehrerbildung (161ff), VerkĂŒrzung der Studienzeiten, Vergleichbarkeit der AbschlĂŒsse (215) und stĂ€rkerer Berufsfeldbezug (223), Verschulung der UniversitĂ€ten (226) â all diese Themen kommen dem aufmerksamen Beobachter gegenwĂ€rtiger Bildungspolitik sehr vertraut vor. BegrĂŒndungskontexte fĂŒr diese Reformelemente waren u.a. ReizĂŒberflutung (198), Technisierung, QualitĂ€tssicherung, Vereinheitlichung (173) â ZusammenhĂ€nge mithin, die spĂ€testens seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert einen Bedeutungszuwachs erfuhren und insofern mitnichten spezifisch nationalsozialistisch sind. Der Entwurf des Schulaufbaugesetzes zeige, so Nagel, den âWillen des Reichskultusministeriums zur planvollen Regulierungâ (172). Diese lĂ€ngerfristige Schulentwicklungsplanung diskutiert Nagel daher zu Recht unter der Perspektive der âModernisierungâ (168ff) und macht damit einen Theorieansatz aus der Folge des Historikerstreites auch fĂŒr die Bildungsgeschichte wiederholt fruchtbar.
Die Eigenlogiken moderner zentralstaatlicher Bildungsverwaltung und Bildungsplanung waren mithin auch im REM ein zentrales handlungsleitendes Motiv, das sich zuweilen auch als âPlanungsfurorâ (243) darstellte. Die Kehrseite dieses entfalteten âRegulierungsfuror[s] des Ministeriumsâ (222) ist indes eine spezifisch nationalsozialistische Ideologisierung all dieser Reformvorhaben. Sie sollten aus zeitgenössischer Sicht selbstverstĂ€ndlich nur der rassistisch definierten deutschen Volksgemeinschaft unter Ausgrenzung von Minderheiten â vor allem der Juden â zu Gute kommen. Und so zeigt schon allein die Tatsache, dass Nagel z.B. die Ausgrenzung der Juden aus dem deutschen Schulsystem gerade mal auf gut einer Seite abhandelt, wĂ€hrend die EinfĂŒhrung der auf Selektion grĂŒndenden Hauptschule 1941 â von Nagel fĂ€lschlich in Richtung âeiner staatlichen Einheitsschuleâ (353) interpretiert â auf ĂŒber 5 Seiten im Detail dargestellt wird, zugleich die Haltungen und Gewichtungen im Ministerium: Die ideologisch begrĂŒndete und folgenreiche Ausgrenzung wurde als Verwaltungsakt gleichsam im Vorbeigehen erledigt. Auch das gehörte zum Verwaltungshandeln des REM und zeigt das Perfide der nationalsozialistischen Bildungspolitik, was Nagel indes mit Blick auf lĂ€ngerfristige KontinuitĂ€ten nur in einem Halbsatz betont (204).
Wenn die Verfasserin den Verwaltungsjuristen Helmut Bojunga, Chef des Amtes Erziehung im REM, enger Vertrauter und ehemaliger SchĂŒler Bernhard Rusts, als Autor des Entwurfs des âSchulaufbaugesetzesâ â und damit auch den Minister selbst â âin die NĂ€he berĂŒhmter Bildungsreformerâ rĂŒckt und im Gesetzesentwurf das Potenzial fĂŒr âeinen Meilenstein in der deutschen Bildungsgeschichteâ (175) sieht, dann wird deutlich, dass es durchaus sinnvoll und notwendig gewesen wĂ€re, sich mit dem erziehungsgeschichtlich zentralen und hier titelgebenden Begriff âBildungsreformerâ ausfĂŒhrlicher auseinander zu setzen. Dass diese Auseinandersetzung fehlt, ist ein eklatanter Mangel der Studie. So bleibt die Rede lediglich plakativ und vermag höchstens zu provozieren. Nagel richtet den Blick nahezu ausschlieĂlich vom Nationalsozialismus zurĂŒck auf Kaiserreich und Weimarer Republik. Die auf der Hand liegenden KontinuitĂ€ten in die Zeit nach 1945 hinein, in eine Zeit also, die wiederum versuchte, die alten strukturellen Probleme des deutschen Bildungssystems zu lösen â nunmehr mit unterschiedlichen Akzentuierungen in Ost- und Westdeutschland â diesen (Aus-)Blick wagt Nagel nicht bzw. nur in wenigen NebensĂ€tzen.
Ein neuer Befund ist in diesen ZusammenhĂ€ngen zweifellos der Nachweis, dass in den Ămtern des REM ausgesprochen viel Sachverstand vertreten war. Die KomplexitĂ€t moderner Bildungsverwaltung erforderte auch im Nationalsozialismus eine bemerkenswerte, zweifellos auch ĂŒberraschende Beratungs- und Diskussionskultur in den Fachabteilungen des REM, die zu Sachfragen meist umfangreiche Expertise einholten (323). Gleichwohl fĂ€llt die Bilanz der intendierten âVereinfachung und Vereinheitlichungâ (180) insgesamt eher mager aus. Zwar âwaren die Resultate der Reformanstrengungen nicht geringâ (365), âdie Koordinierungsleistung des Rustâschen Ministeriums also beachtlichâ (365) und zeugen insgesamt âvon einiger Durchsetzungskraftâ des Ministeriums (365), doch letztlich blieb vieles im Status von Planungen stecken und der staatliche Steuerungswille des Ministeriums musste sich mit zunehmender Kriegsdauer und Radikalisierung dem wachsenden Einfluss der Partei beugen (365). Die Geschichte des REM zeige aber ebenso, âwie wenig sich die RealitĂ€t den nationalsozialistischen Visionen fĂŒgteâ (365).
Am Ende erliegt Nagel selbst der Eigenlogik ihres Untersuchungsgegenstandes und der Fiktion der Planbarkeit, wenn sie betont, dass âselbst unter den Sonderbedingungen des Dritten Reichsâ die Umgestaltung der Bildungslandschaft sich âals mĂŒhevoller Prozessâ erwies (366). Die âVorstellung umfassender Plan- und Steuerbarkeitâ (339) ist auch heute noch eine Fiktion in den Bildungsverwaltungen, obwohl wir auch aus internationalen empirischen Studien und nicht nur aus historisch-empirischen Studien wissen, dass der Einfluss bildungspolitischer SteuerungsmaĂnahmen auf die RealitĂ€t der Schulen langfristig eher gering ist [1].
Was bleibt? Nagel korrigiert das auf Rusts Gegenspieler Goebbels zurĂŒckgehende und sich lang in der Forschung haltende Bild von Rust als schwachem Minister und vom REM als schwachem Ministerium. Gleichwohl blieben die nachgewiesenen bildungspolitischen Erfolge Rusts bruchstĂŒckhaft und ohne langfristige Folgen. Die Studie erweitert und bereichert durch neu ausgewertete Quellen unsere Detailkenntnis der Bildungsgeschichte im Nationalsozialismus zweifellos. Sie zeigt die Mechanismen und Grenzen moderner Bildungsplanung und -verwaltung auch im Nationalsozialismus und macht in diesem Zusammenhang zudem wiederholt die Differenz zwischen totalem Anspruch und Wirklichkeit deutlich. Die Frage nach KontinuitĂ€t verfolgt Nagel leider nur in die vor-nationalsozialistische Zeit hinein genau, detailliert und ĂŒberzeugend. In die Zeit nach 1945 wirft die Autorin nicht einmal einen kursorischen Blick, sondern begnĂŒgt sich mit wenigen allgemeinen Hinweisen in ein paar NebensĂ€tzen. Begrifflich â Stichwort âBildungsreformerâ â ist die Arbeit aus bildungshistorischer Sicht ungenau, vermag aber zumindest zu provozieren und zum Nachdenken anzuregen. ZunĂ€chst irritierend ist in diesem Zusammenhang, dass Nagel je nach thematischem Kontext fĂŒr das REM, so die zeitgenössische Kurzbezeichnung, die Bezeichnung âReichskultusministeriumâ und âReichswissenschaftsministeriumâ verwendet. Mag dies fĂŒr den heutigen Leser die inhaltlichen Arbeitsfelder auch klarer fassen und mag dies zugleich ein weiterer Verweis auf die betonten KontinuitĂ€tslinien sein, zeitgenössisch sind diese Begrifflichkeiten nicht exakt, wurde dem Ministerium der Begriff âReichskultusministeriumâ doch wegen Goebbels Einspruch verweigert und die Kurzbezeichnung âReichswissenschaftsministeriumâ nur intern geduldet (75).
Die Chance auf einen wirklich groĂen Wurf, die im Ansatz der Arbeit steckt, hat die Autorin nicht genutzt. Im Ergebnis bleibt vieles in inspirierenden AnsĂ€tzen stecken. Wer etwas ĂŒber die Strukturen und Funktionsmechanismen einer modernen, zentralstaatlichen Bildungsverwaltung erfahren möchte, wird in Nagels Monographie viele Details finden, die zwar nicht alle gĂ€nzlich neu sind, hier den Nationalsozialismus aber zumindest teilweise in einen lĂ€ngerfristigen Horizont von Bildungsplanung und Schulentwicklung stellen. Den selbst gesetzten Anspruch, die Geschichte des REM âin den KontinuitĂ€tslinien deutscher Bildungs-, Schul- und Hochschulpolitik im gesamten 20. Jahrhundertâ (2) zu verorten und damit Rust und seine Mitarbeiter in eine Linie mit anderen âBildungsreformernâ zu stellen, verfehlt die vorgelegte Studie. Ein âStandardwerk zur deutschen Bildungsgeschichteâ (Klappentext) dĂŒrfte die Arbeit nicht werden.
[1] So hat z.B. Mats Ekholm empirisch gezeigt, dass schwedische Schulen ĂŒber einen Zeitraum von 25 Jahren hinweg durch bildungspolitische Steuerung kaum beeinflusst wurden. VerĂ€nderungspotenzial steckte vielmehr in den jeweiligen Schulkulturen und MentalitĂ€ten vor Ort (Ekholm, M.: Steuerungsmodelle fĂŒr Schulen in Europa. Schwedische Erfahrungen mit alternativen Ordnungsmodellen. In: Zeitschrift fĂŒr PĂ€dagogik 43 (1997), 4, S. 597-608).
EWR 12 (2013), Nr. 5 (September/Oktober)
Hitlers Bildungsreformer
Das Reichsministerium fĂŒr Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 1934-1945
Frankfurt am Main: Fischer 2012
(448 S.; ISBN 978-3-596-19425-4; 12,99 EUR)
Jörg-W. Link (Potsdam)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jörg-W. Link: Rezension von: Nagel, Anne Christine: Hitlers Bildungsreformer, Das Reichsministerium fĂŒr Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 1934-1945. Frankfurt am Main: Fischer 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978359619425.html
Jörg-W. Link: Rezension von: Nagel, Anne Christine: Hitlers Bildungsreformer, Das Reichsministerium fĂŒr Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 1934-1945. Frankfurt am Main: Fischer 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978359619425.html