EWR 9 (2010), Nr. 3 (Mai/Juni)

Jeanette Böhme (Hrsg.)
Schularchitektur im interdisziplinären Diskurs
Territorialisierungskrise und Gestaltungsperspektiven des schulischen Bildungsraums
Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2009
(361 S.; ISBN 978-3-531-16117-4; 34,90 EUR)
Schularchitektur im interdisziplinären Diskurs Mit Schularchitektur wird in der Öffentlichkeit angesichts der gegenwärtigen Bemühungen zum Ausbau der Ganztagsschule und dem Versuch einer Reformierung von Lernkulturen vor allem Praktisches verbunden. Es geht um die Bereitstellung von mehr Räumen, den Bau von Mensen, die Umgestaltung von Schulräumen oder um die Entwicklung von Nutzungskonzepten, die den Anforderungen einer als ‚Lern- und Lebensraum’ verstandenen Schule entsprechen. Räume stehen hier vornehmlich in ihrer konkreten, materialen Gestalt im Fokus der Aufmerksamkeit, wenngleich nicht immer klar ist, welche Vorstellungen sich mit einer solchen Lern- und Lebensraum-Schularchitektur verbinden.

Im vorliegenden Band wird der Begriff Schularchitektur in einer sehr weiten Fassung verwendet. Um material Konkretes geht es zwar auch, aber die Sicht auf Schularchitektur ist eine deutlich andere. Das Anliegen der Herausgeberin besteht im Versuch der „Profilierung einer raumwissenschaftlichen Schul- und Bildungsforschung“ (13). Dazu hat Jeanette Böhme, Professorin für Schulpädagogik an der Universität Duisburg-Essen, Beiträge zur Schularchitektur aus unterschiedlichen Bereichen zusammengetragen. Entstanden ist eine höchst interessante Bestandsaufnahme.

Wissenschaftlicher Hintergrund des Interesses an Schularchitektur im interdisziplinären Diskurs ist einerseits der Spatial turn in den Sozialwissenschaften, der seit den 1990er Jahren zu einer neuen Aufmerksamkeit für den Raum geführt hat, und andererseits die Tatsache, dass Raum bisher nicht explizit als zentrale Kategorie erziehungswissenschaftlicher Forschungsaktivitäten oder Theoriebildung begriffen wurde, obwohl er in Begriffen wie z.B. Bildungsraum, Sozialisationsraum oder Lernraum nahezu selbstverständlich Verwendung findet. Mit Blick auf die Schul- und Bildungsforschung, insbesondere den „lobbystarken Flügel einer empirisch ausgerichteten Evaluationsforschung“, stellt Böhme eine „Zeitdominanz“ der Forschung fest. Es werde „in der Logik einer ökonomischen Rationalität gemessen, wie effizient Lernprozesse ablaufen, die ihrerseits nicht verortet werden.“ (15) In der Forschung, die Vergleiche zwischen Nationen, Bundesländern oder Kommunen anstelle, könnten raumbezogene Differenzen zwar beschrieben, nicht aber begründet werden (15f), was sich auch darauf zurückführen lasse, dass eine empirisch fundierte Theoriebildung zur Bedeutung des Schul- und Bildungsraums nur ansatzweise vorliege. Mit diesem Argument begründet Böhme schließlich innerdisziplinär, inwiefern es sich lohnt, diese in der Schul- und Bildungsforschung zwar nicht neue, aber bislang „stark marginalisierte Forschungsperspektive“ aufzugreifen, die sie einleitend anhand zentraler Arbeiten vorstellt.

In ihrem Forschungsüberblick identifiziert sie vier Felder erziehungswissenschaftlicher Raumforschung, die unterschiedliche Interessenschwerpunkte verfolgen: (1) die Wahrnehmung von Schulräumen, (2) die Bedeutung von Raum im Verhältnis zur Identitätsentwicklung, (3) Praktiken und Konstruktionsprozesse der Hervorbringung von Räumen und (4) die material-architektonische Ausformung von Bildungsräumen und deren Bedeutung für sozialräumliche Prozesse. So wie es zwischen den Forschungsfeldern immer auch Bezüge untereinander gebe, ordnet Böhme den vorliegenden Band „ebenso wenig eindeutig, doch am ehesten der letztgenannten Perspektive“ (18) zu. Solche sprachlichen Wendungen sind zwar immer etwas schwierig, weil sie wenig positioniert wirken. Angesichts der hier versammelten Vielzahl von Perspektiven auf den Raum ist diese Beschreibung allerdings treffend. Klar ist, was der Band von seiner Konzeption her nicht ist: Er konkurriert nicht mit Veröffentlichungen, die konkrete anwendungsbezogene Praxisbeispiele vorstellen und Architektur und Pädagogik „dabei eher praxeologisch“ ins Verhältnis setzen. Das Gesamtunternehmen zielt nach Böhme vordergründig auf eine forschungskonzeptionelle und theoretisch-begriffliche Schärfung des Diskurses zur Schularchitektur (vgl. 20).

Das Buch enthält neben dem Vorwort, der Einleitung und dem Problemaufriss der Herausgeberin (I Spatial turn in der Schul- und Bildungsforschung) 22 Beiträge, die fünf Kapiteln zugeordnet sind. Dem Anspruch von Interdisziplinarität wird insofern Rechnung getragen, als die Autoren aus der Erziehungswissenschaft, der Soziologie, der Architektur, den Ingenieur- und den Medienwissenschaften kommen. Im Folgenden soll der Band an den Kapiteln entlang referatsmäßig umrissen werden. Eine ausführliche Berücksichtigung aller Beiträge wird nicht angestrebt.

Kapitel II ist mit „Territorialisierungskrisen des schulischen Bildungsraums im soziokulturellen Wandel“ überschrieben und nimmt den etwas sperrigen Begriff aus dem Untertitel auf, der als zentrale These des Sammelbandes zu lesen ist. Von welcher Krise die Rede ist, lässt sich vornehmlich den Beiträgen entnehmen, die sich mit Widersprüchen beschäftigen, die der Schule aus der zunehmenden „Entgrenzung“ institutionellen Lernens erwachsen. Jürgen Oelkers, der sich in seinem Beitrag über „Globalisierte Bildungsansprüche im lokalen Schulraum“ der Differenz zwischen Internationalisierung und Globalisierung einerseits und dem Schulsystem und der Einzelschule andererseits widmet, macht an verschiedenen Phänomenen (z.B. zunehmende Mobilitätserwartungen auf der einen und Immobilität – hier von Studierenden – auf der anderen Seite) auf die Gleichzeitigkeit von Tendenzen der Globalisierung des Bildungsraums der „Wissensgesellschaft“ und Tendenzen des Verharrens in gewohnten Strukturen (und an gewohnten Orten) aufmerksam. Für die Schule heißt das, sich angesichts der Trägheit des Bildungssystems auf Ernüchterung gefasst zu machen, weil die Zielpostulate (global: Schaffung neuer Lernkulturen) Fragen mit sich bringen, die man – so Oelkers – zwar großflächig stellen kann, die aber gerade nicht großflächig entschieden werden.
Mit ähnlich gegenläufigen Tendenzen einer Territorialisierung des Lernens bei gleichzeitiger Entgrenzung setzen sich auch die nachfolgenden Beiträge auseinander, so Bernd Overwien mit Blick auf die Möglichkeiten der Verknüpfung von informellem Lernen und Schule oder Sandra Aßmann und Bardo Herzig mit Blick auf die Möglichkeit einer Verbindung jener Netzwerke, in denen Schülerinnen und Schüler in und außerhalb der Schule gleichermaßen agieren. Am Beispiel von Alltagsszenen der oftmals kollektiven Handynutzung (gegenseitiges Fotografieren, Anschauen eines Videos, Tausch von Spielen u.ä.) weisen sie auf die Notwendigkeit einer Neupositionierung von Schule hin, deren Alleinstellungsmerkmale in Bezug auf das Lernen durch den medienkulturellen Wandel im Schwinden begriffen seien. Daniela Ahrens widmet sich im anschließenden Beitrag den Herausforderungen der Schule durch andere institutionalisierte Lernorte. Sie konstatiert, dass bei aller Diskussion um Lernortkooperationen (z.B. von Schule und Betrieb) bislang kaum eine explizite Hinwendung zum Raum stattgefunden habe, und diskutiert die These von der Entgrenzung der Lernorte dahingehend, dass mit der Entgrenzung im Grunde ein territorialer Raumbegriff unterstellt werde, den es zu präzisieren gälte. Sie plädiert angesichts der Wechselwirkungen, die zwischen sozialem Handeln und Interaktion sowie räumlichen Strukturen existieren, für die Verabschiedung eines Raumverständnisses, das den Raum als Container betrachtet, und präferiert im Anschluss an soziologische Vorstellungen einen relationalen Raumbegriff, in dem der Raum als soziales Konstrukt begriffen wird.

Teil III (Schulische Bildungsorte im Schulentwicklungsdiskurs) nimmt diese Überlegungen auf. Michael Göhlich liefert einen historischen Abriss zu Schulraum und Schulentwicklung seit dem Mittelalter. Mit Blick auf den derzeitigen Raumdiskurs dürften besonders die Verweise auf den reformpädagogisch inspirierten Wandel des Schulraums interessieren, der sich in der Herstellung von Wohnlichkeit und der Schaffung von Heimat artikulierte. Der Beitrag von Sabine Reh und Fritz-Ulrich Kolbe thematisiert den Raum im Hinblick auf Vorstellungen und Praktiken der Raumnutzung in Ganztagsschulen. Er macht auf die Überlagerung eines privaten und eines öffentlichen Raumes aufmerksam, die sich aus zeit-räumlichen Veränderungen ergibt und in beobachteten Praktiken des „spacing“ (darunter Liegen, Sitzen oder Knien auf dem Boden, Lümmeln, Hüpfen oder Herumstehen) Formen einer Präsentation hervorbringt, die strukturell eher dem Bereich des Zuhause zuzurechnen sind. Unterstützt werden diese Praktiken durch die Einrichtung von Schulräumen, die „Plätze wie zu Hause“ (114) bieten. Die Autoren stellen keine „Entgrenzung“ des Schulraums, sondern eher die Erweiterung räumlicher Nutzungsmöglichkeiten fest, die mit veränderten Subjektbildungsprozessen einhergehen.

Der Beitrag von Christian Reutlinger (über Bildungslandschaften) ist nochmals raumtheoretisch fokussiert und nimmt sich der Rede von der Bildungslandschaft an. Schaut man (mit Reutlinger) auf die Herkunft des Landschaftsbegriffs, so wird offenbar, dass dieser Begriff, der in der geographischen Landschaftsdiskussion lange Zeit das entscheidende Problem darstellte (120), von der Bildungspolitik relativ unbedarft benutzt wird. Bildungslandschaft meine hier die vernetzte Tätigkeit aller schulischen und außerschulischen Bildungsakteure eines Stadtteils, einer Kommune oder Region und man könnte von bildungspolitisch gestalteten Arrangements aus physisch-materiellen, räumlichen Gebilden sprechen (121). Innerhalb einer Bildungslandschaft geht es also um die Kooperation von Bildungsorten, die nicht zuletzt auf Synergieeffekte hinsichtlich der Steuerung und Finanzierung gerichtet ist. Gegen die damit einhergehende Fokussierung auf den Bildungsort formuliert Reutlinger Einwände, die sich gegen die Territorialisierung und Verdinglichung von Bildungsprozessen richten. Sein Plädoyer für einen Perspektivenwechsel richtet sich auf die Veränderung von Standpunkten (hin zum Ermöglichungsraum) und gegen eine ausschließlich steuerungspolitische (Evaluations-)Logik der Betrachtung von Lernorten. Den Schluss dieses Kapitels bildet der Beitrag von Thomas Spiegler, der sich am Beispiel von Home Education und Unschooling mit dem Lernen ohne Schulraum beschäftigt und anhand dieser Gegenbewegung die Grenzen einer schulischen Fixierung des Lernens aufzeigt.

Kapitel IV versammelt Beiträge, die sich mit „schulbauliche(n) Wirkmächtigkeiten“ auseinandersetzen. Christian Rittelmeyer analysiert Schulbauten im Hinblick auf ihre visuellen Botschaften und nutzt dafür ein Analysesystem, das auf den Linguisten Roman Jacobson zurückgeht. Er diskutiert u.a., welche Wirkung unterschiedliche Codes bei der visuellen Lektüre (dem Anschauen und Bewerten) von Schularchitektur haben, welche Gefühle durch Fassaden hervorgerufen oder wie Gestaltungselemente (z.B. Stühle oder Türklinken) auf die Nutzer wirken können. Folgt man den Überlegungen, dann ermöglichen es die „Register schularchitektonischer Botschaften“ (166) auch, Wirkungen zu erklären, die von bestimmten Typen von Bauten, ihrer Form, ihrem Material oder ihrer Farbigkeit ausgehen.

Interessante Einblicke in die Raum-Wirkungsforschung gewähren auch Ingrid Kellermann und Christoph Wulf, die sich anhand ethnographisch erhobener Daten mit rituellen Praktiken beschäftigen und Ergebnisse der Untersuchung territorialer Settings beschreiben. Sie verdeutlichen u.a. an Bildern, welche sozialen Ordnungen durch Sitzordnungen hergestellt werden und wie Lehrkräfte durch Zeiteinteilungen und die Vergabe von Rede- und Raumrechten Interaktionsoptionen beeinflussen. Aus ihren Forschungen resultiert ein anthropologisch begründeter performativer Raumbegriff, der die Beidseitigkeit der Formung des (Schul-)Raums durch den Menschen und der Formung des Menschen durch den (Schul-)Raum betont.

Mit Wirkungen beschäftigen sich auch die beiden nachfolgenden Beiträge. Markus Rieger-Ladich und Norbert Ricken stellen unter dem Titel „Macht und Raum“ (186) eine programmatische Skizze zur Erforschung von Schularchitekturen vor, mit der sie eine Möglichkeit zur Analyse sozialer Effekte von Schulräumen eröffnen wollen, die aufgrund des von ihnen konstatierten machttheoretischen Defizits der Erziehungswissenschaft bislang kaum genutzt wurde. Ihr Ansatz, mit dem sie Schulräume machttheoretisch lesbar machen wollen, stützt sich vor allem auf Michel Foucault und Pierre Bourdieu. Schulräume werden (auch von ihnen) nicht als bloße Behältnisse gesehen, sondern als materiale, soziale und symbolische Rahmungen, die Interaktionen präfigurieren. Dem entsprechend schlagen sie für die Analyse von Schulräumen eine Unterscheidung von Materialität, Sozialität und Symbolik vor, wobei ihnen wichtig ist, dass die in diesen Dimensionen auszumachenden Machtverhältnisse nicht allein negativ im Sinne von Repressionen, sondern auch in ihrer produktiven Seite begriffen werden müssen.

Schließlich stellen Jeanette Böhme und Ina Herrmann Ergebnisse eines laufenden Forschungsprojekts zum Zusammenhang von Schulraum und Schulkultur vor, in dem sie mit verschiedenen Erhebungsverfahren (z.B. ethnographische Kartierung von Raumpraktiken, fotographische und videographische Erfassung von Bewegungsströmen, bildrekonstruktive Erschließung von räumlichen Strukturmustern schulischer Handlungsabläufe, problemfokussierte Interviews) experimentieren. Anhand einer Fallstudie zeigen sie, inwiefern sich Schullogos im Sinne institutioneller Entwürfe des Schulraums mit raumbezogenen Handlungs- und Deutungsmustern schulischer Akteure in Verbindung setzen lassen. Auch sie greifen auf Foucault zurück, deuten im Ausblick weitere machtkritische Studien zu den von ihnen festgestellten fluiden Disziplinarräumen an und weisen damit darauf hin, dass raumbezogene Forschung ohne den Einbezug des Zeitparameters an Grenzen stößt.

Die Beiträge der Kapitel V und VI sind stärker architektonisch ausgerichtet; 6 von 9 sind von ihrem wissenschaftlichen Hintergrund her der Architektur, dem Architekturdesign und den Ingenieurwissenschaften zuzuordnen. Eingeleitet wird das Kapitel V (Architektonische Potenziale für die Pädagogik) mit Überlegungen aus der kunsttheoretischen Perspektive. Johannes Bilstein nutzt die bekannte Unterscheidung von Werkästhetik, Produktionsäthetik und Rezeptions- bzw. Wirkungsästhetik und setzt sie ins Verhältnis zu „Schöpfung“(224), „Nutzung“ (227) und „Werk“ (229), die als Analogien gelesen werden können. Am überraschendsten an dieser Betrachtung ist der fast schon normative Schluss, der die Überschrift „Respekt“ (232) trägt, damit mehr noch als in den anderen Teilen das Nachdenken und Reden über Erziehung (224) anregt und ohne jedes Pathos die Achtung vor dem Raum und seiner bildenden Wirkung (wilhelminische Schulkasernen eingeschlossen) betont.

Die nachfolgenden Texte greifen mit dem Raumkonzept der Reggiopädagogik (Gerd E. Schäfer und Lena Schäfer), dem Bauhaus (Torsten Blume) und der Waldorfschule als Beispiel einer organischen Schularchitektur (Karl-Dieter Bodack) Exempel auf, die für die erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung von jeher besonders interessant waren und sind. Sie bilden zugleich das vom Kindergarten bis zur Erwachsenenbildung reichende Spektrum intentionaler Raumkonzeptionen ab, so die in der Reggiopädagogik u.a. in horizontaler Bauweise umgesetzte Formel vom Raum als dem dritten Erzieher samt seiner Richtlinien für die verschiedenen Räume und Bereiche (Eingang, Piazza, Gruppenraum, Atelier, Restaurant und Küche, Toiletten und – für die Erwachsenen – das Büro). Das Dessauer Bauhaus der 1920er Jahre wird als Manifestation eines umfassenden architektonischen Erziehungskonzeptes vorgestellt; Torsten Blume verknüpft die programmatischen Texte mit den räumlichen Inszenierungen zur Schaffung des neuen Menschen, die er an Bildern nachvollziehbar macht. Schließlich erörtert Karl-Dieter Bodack das für die organische Architektur zentrale Konzept der Metamorphosen, das auf dem Transfer raumzeitlicher Überlegungen zum Wachstum der Pflanzen auf die Gestaltung von Räumen beruht, und skizziert deren Konkretisierung am Beispiel von Vorstellungen zur altersgerechten Gestaltung von Klassenräumen der Waldorfschule.

Das letzte Kapitel (VI Gestaltungsperspektiven: Schularchitektur im Zeitalter der Bewegung) beginnt mit einem informativen Überblick von Christian Kühn über Schulbaudiskurse der 1960er und 1970er Jahre, der auf einer Auswertung von Architekturzeitschriften beruht und anhand von Bildern exemplarisch veranschaulicht wird. Dem schließen sich Beiträge an, die gegenwärtigen und zukünftigen „Architekturen“ gewidmet sind. Laura Kajetztke und Markus Schroer haben ihren Text mit schulischer „Mobitektur“ (299) überschrieben und machen mit dieser Wortschöpfung auf das veränderte Verhältnis von Bewegung und Sesshaftigkeit aufmerksam (vgl. 301). Sie hinterfragen Denkmuster und Vorstellungen, die sich als historische Schablonen in die Köpfe eingeschrieben hätten, so die Vorstellung vom Schüler als einem in der Regel Sitzenden oder sich lediglich von Raum zu Raum bewegenden Nomaden, oder auch die Vorstellung vom „klassischen“ Klassenraum, die den Praktiken der Raumaneignung längst nicht mehr entsprechen. Um Raumaneignung geht es auch in dem Beitrag von Wilfried Buddensiek, der die von ihm initiierte „fraktale Schularchitektur“ (315) erläutert und nach einjähriger Umsetzung an zwei Herforder Ganztagsgrundschulen in ihren Effekten diskutiert. Er beschreibt, welche Wirkungen die hexagonalen Raumformen und die flexiblen Einrichtungselemente (Trapez- und Dreieck-Tische, rollbare Tafeln und Regale) nach sich gezogen haben, und inwiefern der Raum letztlich auf die Aktionen und Interaktionen zurückwirkt. Welche Chancen der Erneuerung Flexibilität und Durchlässigkeit in sich bergen, wird auch von Bernd Baier thematisiert. Er bezieht sich auf Entwürfe von Leicht- und Temporärbauten, die dem Prinzip der Bionik folgen, stellt schularchitektonische Experimente vor und erörtert sie anhand zentraler Parameter (z.B. Belichtung, Lüftung, Schallübertragung).

Der Band wird mit einem Text über virtuelle Architekturen und Schulorte abgeschlossen, der neben Gegenwärtigem auch auf die Zukunft einer Informationsarchitektur (349) schaut. Patrick Jacob nimmt die Veränderungen in den Blick, die sich durch die Computerausstattung und -nutzung in Schulen ergeben, und setzt sich mit Konsequenzen virtueller Realität, darunter dem Leben in zwei Welten, der Veraltung traditioneller Unterrichtsinhalte und -medien sowie der Telepräsenz in virtuellen Räumen auseinander.

Zusammenfassend: In diesem Band steckt so viel, dass man ihn mehrfach lesen muss oder, besser noch, gleich als eine Art Nachschlagewerk nutzt. Nach der Lektüre stellt sich der Eindruck ein, dass die erziehungswissenschaftliche Forschung an Räumen nicht mehr vorbei kommt. Sie sind nicht nur immer schon da (Bilstein in diesem Band, 223), sondern sie rücken (auch ohne spatial turn) immer stärker ins Bewusstsein. Im „Zug“e des spatial turn, auf den aufzuspringen sich unbedingt lohnt, haben sich Denk- und Forschungsrichtungen etabliert oder beginnen sich neu zu entwickeln, an die vor zehn Jahren noch nicht zu denken war. Das Spektrum der Zugänge und genutzten Begrifflichkeiten der Raumforschung ist freilich immens und in Teilen kaum noch überschaubar. Der Blick über den Tellerrand, auf den interdisziplinären Diskurs, wenngleich hier vor allem den deutschen, hilft, sich der eigenen Positionen zu vergewissern – was schon deswegen nötig ist, um dem Vorwurf eines möglicherweise territorialisierten Blicks auf den Raum zu entgehen. Interessanterweise gibt es bei aller Vielfalt der hier zusammengestellten Beiträge tendenziell auch Gemeinsamkeiten. Hervorzuheben sind die nachweislichen Einflüsse aus der soziologischen Raumforschung, die das Aneignungskonzept fruchtbar gemacht haben, gleichzeitig aber dazu führen, dass sie neben Abgrenzungen (etwa von der Container-Auffassung des Raums, die es in Reinkultur im Grunde nie gegeben hat) auch Legitimationen dergestalt nach sich ziehen, dass man erklärt, mit dem modernen relationalen (Raum-)Verständnis zu arbeiten, was zumindest der anthropologischen und ethnographischen Forschung schon immer inhärent war. Auch werden Klassiker für das Raumthema neu entdeckt, wieder gelesen und interpretiert, was auf eine neue Schulenbildung – z.B. machttheoretischer oder -kritischer Art – hindeutet. Insgesamt lässt sich festhalten, dass es so aussieht, als ob (bei aller Diversität) ein Schritt auf dem Weg zur Profilierung einer raumwissenschaftlichen Schulforschung getan ist. Das Buch stellt (wiederum) eine Zwischenbilanz dar, die den derzeitigen Stand der Forschung präsentiert und lohnenswerte Perspektiven eröffnet, vor allem im Hinblick auf weitere Erkenntnisse darüber, wie Räume bilden.
Heidemarie Kemnitz (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Heidemarie Kemnitz: Rezension von: Böhme, Jeanette (Hg.): Schularchitektur im interdisziplinären Diskurs, Territorialisierungskrise und Gestaltungsperspektiven des schulischen Bildungsraums. Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.06.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353116117.html