EWR 13 (2014), Nr. 2 (März/April)

Markus Müller
Das Deutsche Institut für wissenschaftliche Pädagogik 1922-1980
Von der katholischen Pädagogik zur Pädagogik von Katholiken
(Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. Reihe B: Forschungen, Bd. 126)
Paderborn: Schöningh 2014
(698 S.; ISBN 978-3-506-77740-9; 98,00 EUR)
Das Deutsche Institut für wissenschaftliche Pädagogik 1922-1980 Das Deutsche Institut für wissenschaftliche Pädagogik (DIP) mit Sitz in Münster/Westfalen ist auf Initiative der katholischen Lehrerverbände 1922 als Forschungs- und Lehrerfortbildungsanstalt gegründet worden. Es durchlief eine wechselvolle Geschichte. 1938 musste es auf Druck des nationalsozialistischen Regimes aufgelöst werden. Wiederum von den katholischen Lehrerverbänden wurde 1946 die Initiative zur Wiedereröffnung des Instituts ergriffen, die schließlich 1950 erfolgen konnte. 1971 wurde seitens der Deutschen Bischofskonferenz bzw. des Verbands der Deutschen Diözesen, der inzwischen zum Hauptfinanzierer des Instituts geworden war, seine Neukonstituierung unter dem bisherigen Namen veranlasst. Aufgrund mangelnder Effizienz, so die offizielle Begründung, erfolgte 1980 seine Schließung.

Dieser hier kurz zusammengefassten Geschichte des Deutschen Instituts für wissenschaftliche Pädagogik detailliert nachgegangen zu sein und sie differenziert aufgearbeitet zu haben, ist die bemerkenswerte Leistung, die Markus Müller mit dieser voluminösen Untersuchung, die 2012 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen angenommen worden ist, vorgelegt hat. Zustande gekommen ist so eine instruktive Rekonstruktion der pädagogischen Denkmuster innerhalb des deutschen Katholizismus im Verlauf des letzten Jahrhunderts. In gekonnter Weise verbindet der Verfasser die Geschichte der Institution DIP mit der Ideengeschichte der Denkmuster, die lange Zeit unter dem Begriff „katholische Pädagogik“ firmierten. Methodisch greift er dabei auf das in der neueren historischen Bildungsforschung entwickelte Verständnis der Erziehungswissenschaft als „sozial-kommunikative Netzwerke der Produktion von Wissen“ (25) zurück, was methodisch mithilfe der Kombination von Netzwerk- bzw. Organisationsanalyse und Diskursanalyse anzugehen ist (vgl. 25f). Dabei nötigten die schwierige Quellenlage und der unbefriedigende Forschungsstand den Verfasser, wie er in der Einleitung darlegt, zu umfangreichen eigenen Recherchen.

Die Untersuchung umfasst fünf Hauptteile mit insgesamt 22 Kapiteln. Der erste Hauptteil behandelt die Vorgeschichte des DIP und seine Entwicklung seit der Gründung während der Weimarer Zeit. Dringenden Anlass zur Gründung eines eigenen Instituts gab den sie betreibenden katholischen Lehrerverbänden, wie in Kapitel I dargelegt wird, das geistige Vakuum, das sie im Nachkriegsdeutschland vorherrschen sahen, und dem wirksam nur durch eine religiöse Verwurzelung des Volkes, zu dem die Schulen einen wesentlichen Beitrag zu leisten hätten, begegnet werden könne. Das Institut sollte dazu den notwendigen Rückhalt geben. Hinter der Einrichtung eines solchen Instituts stand das Gedankengebäude einer „katholischen Pädagogik“, wie es wesentlich und mit nachhaltiger Wirkung von Otto Willmann am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts grundgelegt worden ist, also die Auffassung von der Pädagogik als einer normativen und darum notwendigerweise weltanschaulich gebundenen Wissenschaft (Kapitel IV). Sie fußte in der platonisch-aristotelisch-scholastischen Tradition einer philosophia perennis, von der sie ihre immer gültigen Einsichten über das wahre Menschsein und die gültigen Werte bezog. Gegen die ihrer Meinung nach ins Verderben führenden relativistischen Denkströmungen seit der Reformation und Aufklärung, von denen auch die zeitgenössische Erziehungswissenschaft geprägt sei, erhob sie den Anspruch, als einzige für die höchste Vollendung des Menschseins einzustehen und auf dieser Grundlage zur geistig-seelischen Gesundung des Volkes beitragen zu können.

In den vorhergehenden Kapiteln II und III hatte der Verfasser zum einen den Aufbau und die Arbeitsweise des Instituts nachgezeichnet und zum anderen das DIP innerhalb der übrigen im Sinne der katholischen Pädagogik tätigen Einrichtungen und Vereine verortet. Das Institut war aufgrund der damit verbundenen Spannungen in seiner Stellung als katholische pädagogische Einrichtung keineswegs unangefochten, was auch seine finanzielle Lage immer wieder prekär werden ließ. Weiterhin stand das DIP in Konkurrenz zu anderen zeitgenössischen erziehungswissenschaftlichen Strömungen und Einrichtungen, insbesondere zu dem 1915 errichteten Deutschen Institut für Erziehung und Unterricht in Berlin, gegen dessen liberale Ausrichtung sich das DIP als Gegenpol zu etablieren bemühte (Kapitel V).

Auch wenn die katholische Pädagogik eine Abwehrhaltung gegen den Mainstream der damaligen profanen Pädagogik einnahm, sympathisierte sie durchaus mit Gedanken, die zu ihrer Auffassung affin waren, z.B. mit der Wertpädagogik Eduard Sprangers, dem Konzept der Arbeitsschule und der Montessori-Pädagogik. Das Fazit des Verfassers zu diesem ersten Zeitraum lautet, dass die katholische Pädagogik zwar ein abgeschlossenes und stabiles Denkgebäude hat errichten wollen, dies aber nicht hat einlösen können (Kapitel VI). Ein eigenes Kapitel (VII) widmet er noch der Tätigkeit von Edith Stein, die 1932/33 als Dozentin am DIP tätig war. Leider ist über die inhaltlichen Impulse, die sie als von einer gänzlich anderen Denkschule (Edmund Husserl) herkommend in das Institut einbrachte, kaum Näheres zu erfahren.

Der zweite Hauptteil geht der Institutsgeschichte in der Zeit des Nationalsozialismus nach. Sah man anfangs noch – so schildert Kapitel VIII – eine gewisse Nähe der „völkischen Revolution“ zur geistigen und sittlichen Erneuerung zu katholisch-pädagogischen Auffassungen, so kam es bald zur Desillusionierung. Die Gleichschaltung der Lehrerverbände ließ die finanzielle Existenzgrundlage des DIP prekär werden. Es geriet zugleich immer stärker ins Visier des Nationalsozialismus, dem es sich nur durch die Übernahme in bischöfliche Obhut entziehen konnte (Kapitel IX), bis es schließlich 1938 seine Arbeit einstellen musste (Kapitel X).

Der dritte Hauptteil ist der Zeit von 1945-1970 gewidmet. Schon bald nach der Kapitulation des Deutschen Reiches setzten sich die Lehrerverbände für eine Wiedergründung des DIP ein. Ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg sahen katholische Kreise auch nach dem Zweiten Weltkrieg Deutschland wieder nicht nur in einem baulichen, sondern auch in einem geistigen Chaos, dem nur mit einer Rechristianisierung der Bevölkerung wirkungsvoll begegnet werden könne. Einen entscheidenden Beitrag sollte dazu die Beibehaltung der im Elternrecht verankerten Bekenntnisschule leisten (Kapitel XI). Wie im Einzelnen die Bemühungen um die Wiedergründung bis zur Wiedereröffnung des DIP 1950 verlaufen sind, schildert Kapitel XII. Im Laufe der Zeit begann allerdings die Geschlossenheit des katholischen Milieus zu bröckeln, was sich auch bis in den Katholischen Lehrerverband hinein auswirkte. Das DIP drohte seine bisherige tragende Basis zu verlieren (Kapitel XIII). Auch die ideelle Ausrichtung des DIP blieb davon nicht unbeeinflusst.

In Kapitel XIV wird nachgezeichnet, wie zwischen 1950 und 1962 allmählich unter dem Einfluss der Petzelt-Schule eine Wende von einem strikt restaurativen Kurs zu einer stärkeren Modernisierung hin erfolgte. Die sich so abzeichnende Ausdifferenzierung des katholisch-pädagogischen Denkmusters wird in Kapitel XV anhand des jeweiligen Ansatzes von drei damals im katholischen Raum einflussreichen Pädagogen (Gustav Siewerth, Alfred Petzelt und Franz Pöggeler) herausgearbeitet. Klar wurde: Die katholische Pädagogik war in eine Sackgasse geraten. Nicht zuletzt haben dazu der bildungspolitische Reformdruck seit den 1960er Jahren sowie das 2. Vatikanische Konzil beigetragen. Es setzten sich immer stärker reformorientierte Kräfte durch, die sich für eine Öffnung der katholischen Schulpolitik (Bekenntnisschule) zur modernen pluralen Gesellschaft aussprachen (Kapitel XVI).

Der vierte Hauptteil befasst sich mit der letzten Dekade in der Geschichte des DIP, zunächst in Kapitel XVII und XVIII mit seiner vonseiten der Deutschen Bischofskonferenz betriebenen Neukonstituierung, in Kapitel XIX mit der damit zusammenhängenden Organisation und in Kapitel XX und XXI mit der teilweise höchst befremdlich wirkenden Abwicklung des Instituts. Auch wenn das nie offen ausgesprochen wurde, so ist unverkennbar der Grund für das Scheitern, dass sich zwei Auffassungen unversöhnlich gegenüberstanden: die eine, die strikt für die Freiheit der wissenschaftlichen Pädagogik im Raum der Kirche eintrat, und die andere, die an den alten Denkmustern festhielt und die Pädagogik an der als geschlossenem Block verstandenen katholischen Lehre ausgerichtet wissen wollte. Das Tragische für das DIP war, dass sich die Mehrheit derer, die über die Finanzen zu entscheiden hatten, der letzteren Auffassung anschloss.

Im letzten Kapitel XXII (= fünfter Hauptteil) zeichnet der Verfasser resümeeartig den Wandel der im katholischen Raum im letzten Jahrhundert vertretenen Denkmuster nach, für den paradigmatisch die Geschichte des DIP steht, verbunden mit einer allmählichen Auflösung des kämpferischen katholischen Milieus zugunsten einer innerkirchlichen Pluralisierung, die auch für die Organisation der katholischen Lehrer und Lehrerinnen und die Schulpolitik der katholischen Kirche erhebliche Folgen zeitigte.

Die vom Verfasser angestrebte Kombination von Organisations- und Diskursanalyse ist in der Durchführung bestens gelungen und erweist sich als für die Entwicklung des DIP höchst aufschlussreich. Zwar ist dieses Institut nicht der einzige Ort, an dem in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts „katholische Pädagogik“ betrieben wurde, aber doch ein besonders exponierter. In dieser Variante von Pädagogik fanden die integralistischen Bestrebungen der katholischen Kirche in der damaligen Zeit ihren nachhaltigen theoretischen und praktischen Niederschlag. Politische Auswirkungen fand das besonders im Streit um die Bekenntnisschule, der bis in die 1960er Jahre hinein vonseiten der katholischen Kirche mit aller Vehemenz geführt wurde. Aufschlussreich ist auch, wie in der Untersuchung die durch verschiedene Einflüsse – aus dem wissenschaftlichen Bereich ebenso wie aus der sich verändernden soziopolitischen Lage – bedingte allmählich nachlassende Kraft des integralistischen Denkens und Wirkens nachgezeichnet wird – bis hin zum 2. Vatikanischen Konzil, dessen Beschlüsse, vorab die Pastoralkonstitution, es schließlich obsolet werden ließen. Dennoch blieb der Versuch, unter dem Dach des neu gegründeten DIP seitens der katholischen Kirche den Anschluss an die zeitgenössische Erziehungswissenschaft zu finden, damals noch zum Scheitern verurteilt – nicht zuletzt weil hier alte und neue Denkströmungen unversöhnlich aufeinanderprallten. Diese Entwicklung detailliert dokumentiert und die für sie maßgeblichen Hintergründe aufgezeigt zu haben, ist das große Verdienst der vorliegenden Untersuchung. Sie ist so zu einer in jeder Hinsicht – nicht zuletzt materialiter höchst informativen und gehaltvollen – beeindruckenden Fallstudie zum Verhältnis der katholischen Kirche zu den modernen (Geistes- bzw. Human- und Sozial-) Wissenschaften in der jüngeren Vergangenheit geworden.
Norbert Mette (Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Norbert Mette: Rezension von: Markus, Müller: Das Deutsche Institut für wissenschaftliche Pädagogik 1922-1980, Von der katholischen Pädagogik zur Pädagogik von Katholiken (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. Reihe B: Forschungen, Bd. 126). Paderborn: Schöningh 2014. In: EWR 13 (2014), Nr. 2 (Veröffentlicht am 26.03.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978350677740.html