Ein Student beschwert sich über eine ungerecht bewertete Semesterarbeit – ein Lehrer sieht in seiner Schülerin ein nicht genutztes Potential schlummern – ein Elternpaar formuliert das Anrecht ihres Sohnes auf eine Unterrichtsassistenz unter Berufung auf dessen besondere Bedürfnisse…Leistung zeigt sich in pädagogischen Feldern in Form vielfältiger, sich widerstreitender, individueller wie gesellschaftlicher Ansprüche von und an unterschiedlichste Akteurinnen und Akteure. Sie erscheint dabei als eine zentrale Bezugsgröße des Handelns Einzelner sowie der Einflussnahme darauf, gleichwohl oder gerade weil sich der Begriff einer einfachen Bestimmung entzieht. Es ist also konsequent, dass Alfred Schäfer und Christiane Thompson den neuesten Sammelband ihrer Reihe „Pädagogik – Perspektiven“ dem Begriff der Leistung widmen, ist es doch deren selbsterklärtes Ziel, eine Auseinandersetzung mit pädagogischen Grundbegriffen zu suchen, welche die Unsicherheiten und Schwierigkeiten pädagogischer Selbstvergewisserungen nicht übergeht, sondern als das Konstitutive des Pädagogischen anzuerkennen und herauszuarbeiten versucht.
Ausgehend von der Kontingenz des pädagogischen Leistungsverständnisses bestimmen sie das schulische Leistungsdispositiv in der Einleitung des Bandes zunächst über seine Reaktion auf die an ihm geübte Kritik. Eine zunehmende Standardisierung und Individualisierung schulischer Leistungsmessung führe zu einer Reartikulierung des Leistungsversprechens, die letztlich in einer Marginalisierung (schul- wie gesellschafts-) politischer Fragen münde. Im Kontext der zurückliegenden Bildungsreformen erweise sich das Leistungsprinzip aber als Herrschaftsinstrument, das unter Verweis auf individuelle Chancengleichheit soziale Gerechtigkeit verspreche, ohne diese gleichsam einzulösen. Eine Bindung von Subjekten an dieses Prinzip wird dabei mit der objektivierenden Funktion des Marktes wie der subjektivierenden Funktion von Leistung erklärt. Dieses Verhältnis zwischen Komparativität und Singularität könne letztlich als nicht zu lösendes Paradox einer auf dem Leistungsprinzip ruhenden Konzeption von Bildungsgerechtigkeit verstanden werden. Hier zeige sich im Anschluss an Derrida die Uneinholbarkeit eines gerechten Maßes sowie die Notwendigkeit einer dauerhaften Neubestimmung der Differenz. Damit öffnen Thompson und Schäfer ein politisches Feld vielfältiger Einsatzpunkte für die folgenden Autor_innen.
Sabine Reh, Kathrin Berdelmann und Joachim Scholz unternehmen eine historische Untersuchung des Leistungsdispositivs und schreiben der Entstehung der modernen Schule dabei eine bedeutende Rolle für die Anbahnung des universalisierten Verständnisses von Leistung zu. Ein zentraler Stellenwert wird dabei den Begriffen Ehre, Ehrtrieb und Ehrgeiz eingeräumt, mit denen spezifische Diskurse, Praktiken und Institutionalisierungsformen verknüpft werden. So wird ein Prozess der Verinnerlichung des Ehrbegriffes von den Jesuitenschulen über die Philantropine bis hin zum Generalklassensystem rekonstruiert, der letztlich als eine Grundlage des heutigen Leistungsverständnisses angesehen werden könne. Insgesamt gelingt es den Autorinnen und dem Autor damit, die Rolle der Schule für die Universalisierung von Leistung als subjektiv zuschreibbares und zu verantwortendes Moment herauszuarbeiten und die Konstruktion einer Opposition von Schule und Leistung zu irritieren.
Darüber gehen Johannes Angermuller und Jens Maeße noch hinaus, wenn sie Schule als eine der bedeutendsten Institutionen der Reproduktion gesellschaftlicher Machtverhältnisse bezeichnen und schulische Bildung als eine Regierungstechnologie, die auf der „Vermessung und numerischen Konstitution des Sozialen“ (63) beruhe. Im Anschluss an eine gouvernementalitätstheoretische Rahmung dieser Thesen beschreiben sie die Ausweitung des schulischen Leistungsdispositivs im Kontext der frühkindlichen Bildung, des Hochschulsystems und der außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Damit legen die Autoren nachvollziehbar dar, wie sich formale Bildung im Neoliberalismus mit Hilfe spezifischer Klassifizierungspraktiken zu einer zentralen Institution der Machtausübung entwickeln konnte. Der Antwortversuch der Autoren auf die Frage nach einem „kritischen Rest“ des Bildungsversprechens bleibt unter Verweis auf die Notwendigkeit einer Reflexion gesellschaftlicher Machtverhältnisse aber insofern blass, als dass einer Auseinandersetzung mit subjektivierenden (Widerstands-)Potentialen des Leistungsdispositivs nur wenig Platz eingeräumt wird.
Diese produktive Seite kann als ein wichtiger Aspekt des Beitrags von Ralf Mayer gelesen werden. Ausgehend von einer Auseinandersetzung mit soziologischen und ökonomischen Bestimmungsversuchen des Leistungsbegriffs leitet er dessen Wirkmächtigkeit von seiner Unbestimmtheit im Kontext von Normativität und Normalisierung ab. Diese Konflikthaftigkeit wird im zentralen Teil des Beitrags für Diskurse der modernen Pädagogik sichtbar gemacht. Herausgegriffen seien an dieser Stelle lediglich aktuelle Bezüge: Leistung als Selektionskriterium lasse sich hier gegen eine soziale Distinktion gerichtet lesen. Die marktorientierte Figur der „Arbeit an sich selbst“ ziele dabei jedoch nicht auf unveräußerliche Momente des Individuums, sondern auf einen totalisierenden Zugriff im Rahmen einer Haltung der Selbstverwertung. Gegen eine solche Vereinnahmung des Individuums versucht der Autor in einem kurzen Abschlussstatement das Pädagogische als eine Reflektion der Dezentrierung der eigenen Haltung und Handlung zu bestimmen und damit als eine unabschließbare Auseinandersetzung mit der Leistungskategorie. Sein dichter und vielschichtiger Beitrag ist ein gelungener Versuch dessen.
Krasimir Stojanov bricht mit der normativen Zurückhaltung der anderen Beiträge und zeichnet mit dem Konzept der „nicht-distributiven Anerkennungsgerechtigkeit“ einen Gegenentwurf zu schulischen Selektionspraxen. Eine Verknüpfung von Bildungs- und Leistungsgerechtigkeit sei moralisch nicht zu vertreten, weil die Zuschreibung von statischen Leistungsfähigkeiten an Heranwachsende nicht vereinbar sei mit einer für Bildungsprozesse notwendigen „vorausgreifenden Anerkennung“. So löst der Autor das Konzept der Chancengleichheit von Fragen der Verteilungsgerechtigkeit und bindet es an Fragen schulischer Sozialbeziehungen. Einen besonderen Stellenwert erhält dabei das Konzept des „moralischen Respekts“ als eine Anerkennung der offenen Entwicklung kognitiver Fähigkeiten einzelner Schüler_innen. Der Autor zeichnet damit eine auf der Anerkennung der individuellen Ausgangslagen basierende Schule, die gleichsam als Schonraum vor gesellschaftlicher Selektion verstanden werden kann. Insofern die Ausgangslagen in Bezug auf eine mit dem Bildungsbegriff verknüpfte Überschreitungslogik jedoch nur als ein vorläufiges So-Sein in den Blick zu geraten scheinen, stellt sich die Frage, inwiefern hier liberale Leistungsvorstellungen reartikuliert werden.
Alfred Schäfer untersucht im letzten Artikel des Buches Irritationen des Verhältnisses von Bildung und Leistung im Zusammenhang mit dem Diskurs des Neuro-Enhancement. Im klassischen Bildungsverständnis sei die Zuschreibung subjektiver Leistung für die Legitimität schulischer Leistungsbewertung zentral. Dass sich diese Verknüpfung zunehmend in Frage stelle, zeige sich nicht zuletzt an der Provokation des schulischen Selbstverständnisses durch Diskussionen um die Einnahme leistungssteigernder Mittel. Schäfer nähert sich diesem diskursiven Feld über seine begrifflichen Unbestimmtheiten und bestimmt Einsatzpunkte der Diskussion, die in Zukunft Relevanz für pädagogische Felder entwickeln dürften, gerade weil sie als pädagogische Fragen gelesen werden können. So wird der Leser mit Fragen an das Leistungsprinzip, an das Verständnis von Autonomie und Authentizität sowie an die Konzeption einer konkreten Ethik im Anschluss an eine mögliche Zulassung entsprechender Mittel konfrontiert. Gerade die Erschließung des Feldes mit Hilfe vielfältiger und vielschichtiger Fragen erweist sich dabei als geeignet, den Leser_innen zu ermöglichen, sie aber auch dazu zu nötigen, sich zum Abschluss des Bandes mit ihren eigenen Lektüren der Beiträge in diesem Feld zu verorten, ohne dass dabei eine abschließende Verortung möglich wäre.
Die Beiträge des Bandes sind klug gewählt, da sie in ihrer Gesamtheit blinde Flecken der einzelnen Zugänge ausgleichen. Damit liegt ein komplexer Einsatz in ein diskursives Feld vor, der im Angesicht einer Konjunktur unterschiedlichster, vermeintlich kritischer Bezugnahmen auf den Leistungsbegriff aktueller nicht sein könnte. Als Bereicherung für die Diskussion erweist er sich, da er im Vergleich zu anderen Einsätzen Leistung nicht als Bedrohung der Pädagogik von außen aufruft, sondern vielmehr als eine dem Pädagogischen inhärente Herausforderung. Dabei bleibt der Sammelband der (Un-) möglichkeit einer Begründung pädagogischen Handelns auf dem Leistungsbegriff stets gewahr und ermöglicht dadurch erst unterschiedliche Formen der Auseinandersetzung mit ihm. Insofern kann der Sammelband fortgeschrittenen Leser_innen im erziehungswissenschaftlichen Feld uneingeschränkt empfohlen werden.
EWR 15 (2016), Nr. 2 (März/April)
Leistung
Reihe: Pädagogik – Perspektiven
Paderborn: Schöningh 2015
(184 S.; ISBN 978-3-506-77598-6; 24,90 EUR)
Jens Geldner (Heidelberg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jens Geldner: Rezension von: Schäfer, Alfred / Thompson, Christiane (Hg.): Leistung, Reihe: Pädagogik – Perspektiven. Paderborn: Schöningh 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 2 (Veröffentlicht am 24.03.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978350677598.html
Jens Geldner: Rezension von: Schäfer, Alfred / Thompson, Christiane (Hg.): Leistung, Reihe: Pädagogik – Perspektiven. Paderborn: Schöningh 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 2 (Veröffentlicht am 24.03.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978350677598.html