Dass die Geschichte der Ästhetischen Bildung einer systematischen Aufarbeitung bedarf, darf spätestens seit dem Artikel von Michael Parmentier aus dem „Historischen Wörterbuch der Pädagogik“ als belegt gelten [1]. Das vorliegende Buch stellt den ersten Schritt in der Realisierung eines solchen ambitionierten Projekts dar, die – so viel sei gleich zu Beginn vorweggenommen – durch eine breitere Expertenrunde an Autoren und eine stärkere Fokussierung auf den Gegenstand gewonnen hätte. Die vier Autoren beziehen bei der Thematisierung der ästhetischen Bildung biographische wie historische Kontexte ein. Systematisiert wird über die Kapitel hinweg nach der folgenden Struktur: „1. Biographie“; „2. Werke und Ideen“; „3. Konzept Ästhetischer Bildung“ und „4. Möglichkeiten und Grenzen“.
An der Einleitung des Bandes ist hervorzuheben und wertzuschätzen, dass auf ganzen sechs Seiten die Dimensionen von ästhetischer Bildung differenziert und erschöpfend aufgefächert bzw. erläutert werden. Derart viele Verständnisweisen und Perspektiven auf das diffuse und oft nur einseitig definierte Phänomen der ästhetischen Bildung finden sich selten. Die umfangreiche Differenzierung legt allerdings eine eher archäologische Vorgehensweise nahe als die hier vollzogene klassische Geschichtsschreibung. Es hätten dabei wie Schichten die vielfältigen Themen und Probleme (Schönheit, Technik, Lehrbarkeit, Kunst, Kreativität, Mimesis u.a.) freigelegt und dargestellt werden können, so wie sie im Sprechen auftauchen, fallen gelassen oder verändert werden. Gerade weil es schon in der Antike so viele Schwellen, Brüche, Wechsel und Transformationen im Verständnis von Bildung und Ästhetik gibt, hätte sich diese Strukturierung eher angeboten als die durch Autoren und deren Biographien zerstückelte lineare Historie. Die Strukturierung des Bandes hat den weiteren Nachteil, dass das interessante, angekündigte Vorhaben, aus vorhandenem Quellenmaterial zur Ästhetik wie zur Bildung den Gegenstand „Ästhetische Bildung“ erst zu konstruieren, in detailgetreuer Genauigkeit verloren geht. Für die folgenden Bände ist zu hoffen, dass die systematisch orientierte Einleitung ein stärkeres Gewicht erhält.
Den beiden Teilen „Antike“ (8 Kapitel) und „Mittelalter“ (4 Kapitel) geht jeweils eine Einführung voraus, bevor bedeutende Protagonisten zur Darstellung kommen. Dabei besteht die Tendenz, die antike wie mittelalterliche Gesellschaft, deren Leben, die Weltanschauungen, die Bildung bis hin zur Ästhetik und Kunst als einen allgemeinen Kontext so detailliert darzustellen, dass es zum Besonderen, nämlich der angekündigten konstruktiv erschlossenen Thematisierung von ästhetischer Bildung nicht mehr kommt.
Der einleitende Überblick zur Antike von Jörg Zirfas kommt gänzlich ohne Originalquellenangaben aus, was für eine Durchsicht und Zusammenfassung legitim erscheint. Wenn allerdings in die Tiefe gegangen wird und z.B. von den ersten Zeugnissen einer Ästhetik bei Aristoteles die Rede ist, dann wäre eine originale Quellenangabe hilfreich gewesen, um nachlesen zu können, wo die Idee zu finden ist, dass die aristotelische „Aisthesis einen Logos hat“ (40), was nicht implizieren muss, das Ästhetik „logisch“ ist. Das wird leider im Aristoteles-Kapitel nicht wieder aufgegriffen, obwohl es eine Frage ist, die im heutigen Diskurs zur ästhetischen Bildung die Gemüter immer wieder erhitzt: Inwiefern kann Ästhetisches eine Form von Erkenntnis oder eine spezifische Art von Rationalität sein oder überhaupt etwas für die Lebenswelt Relevantes beitragen? Das war in der Antike keine Frage, warum nicht, ist heute die Frage. Die Antwort wird schnell gefunden: Ästhetik war in der Antike kein eigenständiger Bereich, sondern in einer Ontologie und Kosmologie verankert, die wiederum Philosophie, Politik und vor allem den Bereich der Ethik bestimmte. Das Ästhetische ist demnach kein den Dingen und dem Leben zukommendes, sondern macht deren tugendhaftes Wesen (areté) aus.
Zu fragen bleibt, warum wir in unserem Denken immer wieder die Antike in dieser Weise interpretieren, dass in ihr das Ästhetische von der Ethik her gedacht wurde, oder „von der Ontologie her“ (42) und es nicht einmal wagen, die Frage in die umgekehrte Richtung zu verfolgen. Hannah Arendt wagte dies ansatzweise in ihrem Aufsatz über Autorität, wenn sie schreibt, dass der frühe Platon lediglich die Idee des Schönen an oberste Stelle stellte und aufgrund seiner politischen Erfahrungen seine Philosophie änderte, um pädagogisch der Politik zu Hilfe kommen zu können.
Die verschiedensten modernen Standardwerke zur Ästhetik und zur Pädagogik der Antike finden in der Einleitung wie den einzelnen Kapiteln Erwähnung: Zur Pädagogik der Antike dürfen Jaeger, Lichtenstein und Marrou nicht fehlen und speziell für die antike Ästhetik kommen Grassi und Perpeet zu Wort. Die Hauptkapitel behandeln dann die folgenden Autoren: Platon, Aristoteles, Cicero, Horaz, Seneca und Plotin. Um Isokrates und die Sophisten wäre man nicht herumgekommen, wenn man eines der neuesten und gründlichsten Handbücher zur Antike zu Kenntnis genommen hätte, das „Handbuch der Erziehung und Bildung in der Antike“ [2].
Welche Vorstellungen in der Antike zur ästhetischen Bildung sich vor Platon finden, versucht Johannes Bilstein anhand der griechischen Mythen zu erschließen. Aufgezeigt werden in diesem Zusammenhang die äußerst bedingte Lehrbarkeit der Kunst und ihr Charakter als eine göttliche Gabe.
Jörg Zirfas spannt in seinem Kapitel über Platon den Bogen der ästhetischen Bildung von der Idee des Schönen bis zur Kunst auf der Grundlage der „funktional-pädagogische[n] Rolle in seinem Idealstaat“ (76), welche Platon zur bekannten Kritik an der Kunst geführt hat.
Leopold Klepacki entgeht nicht, dass sich gerade die Funktion der Kunst bei Aristoteles fundamental ändert. Die Erregung von Affekten und Leidenschaften durch die Kunst wird zur erzieherischen „Einwirkungsmöglichkeit“ (95), die von eben diesen reinigen kann und soll. Die Katharsis-Erfahrung ist aber nicht das einzige, was die Ästhetik für die Bildung interessant macht; Aristoteles hebt auch die Momente der technischen und damit erlernbaren Fertigkeiten und die Mimesis in ihren Funktionen zur Aneignung von Wissen und Können. Damit ist ein Gedanke des im Band leider nicht aufgenommenen Isokrates berührt, dass ein Künstler ein „strukturelles Wissen“ (100) von dem benötigt, was er nachahmt. Dieses und weitere Kapitel zeigen, dass generell die antike Vorstellung des Schönen sich an geordneter Regelhaftigkeit und maßvoller Proportionen orientiert.
Zu dem bei Aristoteles festgehaltenen Moment der ästhetischen Bildung, dass eine Sachkenntnis des Künstlers von Nöten sei, kommt bei Cicero noch eine Gesinnung oder innere Kultur, wie Klepacki detailliert ausführt. Noch interessanter aber ist der Gedanke einer kleinen Verschiebung in der Produktion von Kunst: Der Künstler ahmt nach Cicero nicht mehr die materiellen Dinge nach, sondern die Ideen in ihm selbst, was das kreative Moment erhöht (122). Aus dieser Verschiebung resultiert die abgrundtiefe Differenz zwischen einem abbildenden und expressiven Verständnis künstlerischen Schaffens. In der ästhetischen Bildung verschiebt sich entsprechend die Aufmerksamkeit weg vom geschaffenen Objekt und dessen Formen hin zum schaffenden Subjekt und dessen Inneres.
Mit Horaz wird von Eckart Liebau ein anderes aristotelisches Moment der ästhetischen Bildung wieder aufgenommen und weitergeführt: Der Künstler als Bildner soll durch seine Darstellung auch zur Bildung des Publikums beitragen. Diese Funktion der Kunst verstärkt die Momente der Beherrschung, des Erlernens und Übens von künstlerischem Schaffen und verdrängt das Unverfügbare, Rauschhafte und noch bei Isokrates als Kairos beschriebene Geschick – im wahrsten Sinne des Wortes.
Im Anschluss daran schließt Zirfas die Spätantike mit sehr lehrreichen Kapiteln zu Seneca und Plotin ab. Bei Seneca wird die Kunst und das Schöne in Bezug auf das Leben hervorgehoben, womit das Motiv der Lebenskunst einen festen Platz in der ästhetischen Bildung erlangt. Plotin bildet aufgrund seiner Aufwertung der irdischen Schönheit, der Kunst, des Künstlers und der Selbstbildung eine wichtige Achse zwischen Antike und Mittelalter.
Der Teil zum „Mittelalter“ umfasst das letzte Drittel des Buches. Es beginnt nach einer Einführung mit Augustinus und endet mit Thomas von Aquin. Beide Autoren werden in der gewohnten Unterteilung von Zirfas grundlegend vorgestellt und in ihren Aussagen zur ästhetischen Bildung beleuchtet. Da die Kunst überwiegend im Dienst der christlichen Heilslehre steht, kommt ihr die Funktion der Belehrung, Mahnung und des Trostes zu. Die Darstellung macht deutlich, dass es sich lohnt, gerade diese Epoche unter pädagogischer Perspektive genauer anzusehen.
Zwischen Augustinus und Thomas von Aquin findet sich aber noch der interessante Beitrag von Klepacki, welcher im Aufbau versucht, was dem gesamten Band gut getan hätte. Klepacki fasst fünf Autoren (Boëthius, Isidor von Sevilla, Johannes Scotus Eriugena, Hugo v. St. Viktos und Bonaventura), die über 700 Jahre auseinander liegen, zusammen und strukturiert sie in thematische Facetten zur „Musik als Schlüssel zur Erkenntnis der transzendenten Harmonie des Seins“ (207). Durch diesen Aufbau treten die Autoren (trotz biographischer Angaben) in den Hintergrund und die Sache – die ästhetische Bildung – kommt in ihren systematischen Dimensionen deutlicher zum Vorschein.
Der erste Band zur Geschichte der Ästhetischen Bildung – Antike und Mittelalter – darf als repräsentative Publikation zum Thema gelten. Er wird dienlich sein, auch wenn man sich nicht ausschließlich historisch mit dem Thema beschäftigen möchte; denn die Differenzierung der Dimensionen von ästhetischer Bildung in der Einleitung ist knapper und vielseitiger kaum zu finden. Wer sich mit den einzelnen Autoren in der jeweiligen Epoche beschäftigt wird kenntnisreich informiert. Der kundige Leser findet in den Kapiteln, die explizit der ästhetischen Bildung gewidmet sind, zahlreiche Anregungen zu dem Vorhaben, aus dem Quellenmaterial zur Bildung und zur Ästhetik den Gegenstand – Ästhetische Bildung – zu konstruieren und zu erschließen, was in den Epochen selbst wie im vorliegenden Band ungesagt blieb.
[1] Vgl. Parmentier, Michael: „Ästhetische Bildung“. In: Historisches Wörterbuch der Pädagogik, hrsg. von D. Benner und J. Oelkers. Weinheim 2004, 11-32.
[2] Vgl. „Handbuch der Bildung und Erziehung in der Antike“, hrsg. von J. Christes, R. Klein und Ch. Lüth. Darmstadt 2006
EWR 9 (2010), Nr. 3 (Mai/Juni)
Geschichte der Ă„sthetischen Bildung
Band 1: Antike und Mittelalter
Paderborn: Schöningh 2009
(243 S.; ISBN 978-3-506-76492-8; 29,90 EUR)
Gabriele WeiĂź (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Gabriele WeiĂź: Rezension von: Zirfas, Jörg / Klepacki, Leopold / Bilstein, Johannes / Liebau, Eckart: Geschichte der Ă„sthetischen Bildung, Band 1: Antike und Mittelalter. Paderborn: Schöningh 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.06.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978350676492.html
Gabriele WeiĂź: Rezension von: Zirfas, Jörg / Klepacki, Leopold / Bilstein, Johannes / Liebau, Eckart: Geschichte der Ă„sthetischen Bildung, Band 1: Antike und Mittelalter. Paderborn: Schöningh 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.06.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978350676492.html