EWR 9 (2010), Nr. 1 (Januar/Februar)

Max Kreuzer / Borgunn Ytterhus (Hrsg.)
Dabeisein ist nicht alles
Inklusion und Zusammenleben im Kindergarten
MĂŒnchen; Basel: Reinhard 2008
(307 S.; ISBN 978-3-497-01960-1; 24,90 EUR)
Dabeisein ist nicht alles Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention Anfang 2009 hat sich die Bundesrepublik verpflichtet, allen Kindern mit und ohne Behinderung einen gleichen Zugang zu einem gemeinsamen, inklusiven Bildungswesen zu ermöglichen. Der Vielfalt von Lernvoraussetzungen soll mit einem individualisierten Förderansatz entsprochen werden. Soziale Teilhabe und Chancengleichheit fĂŒr jedes Kind sind weitere AnsprĂŒche fĂŒr das Recht auf Bildung fĂŒr alle Kinder, unabhĂ€ngig von ihrer sozialen, kulturellen und sprachlichen Herkunft. Damit soll Inklusion Leitgedanke fĂŒr politisches Handeln werden, wie bereits mit der Salamanca-ErklĂ€rung 1994 (UNESCO-Weltkonferenz „PĂ€dagogik fĂŒr besondere BedĂŒrfnisse: Zugang und QualitĂ€t“) eine integrierte Erziehung und Bildung fĂŒr alle gefordert wurde.

Die KindertagesstĂ€tte als erste Stufe des formalen Bildungswesens bezieht sich mit dem im Sozialgesetzbuch VIII, §22 formulierten Bildungs- und Erziehungsauftrag auf die Förderung der sozialen, emotionalen körperlichen und geistigen Entwicklung eines Kindes. Dabei sind Alter, Entwicklungsstand, individuelle FĂ€higkeiten wie die Lebenssituation und Herkunft des Kindes zu berĂŒcksichtigen. Mit diesen Vorgaben setzt pĂ€dagogisches Handeln an den heterogenen Bedingungen an, die Kinder mit bringen, wenn sie in den Kindergarten kommen. Inklusion wird zum Leitgedanken frĂŒhkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung und impliziert einen modernen Bildungsbegriff, wonach sich das Kind als Akteur eigener Handlungen sein VerstĂ€ndnis von Welt in einem (ko-) konstruktiven Prozeß aneignet.

Seit mehr als zwanzig Jahren wird die Integration von Kindern mit Behinderung in KindergĂ€rten und Schulen praktiziert, ist jedoch meist abhĂ€ngig von der Bereitschaft der aufnehmenden Institution und ihren FachkrĂ€ften wie den dort vorliegenden finanziellen, rĂ€umlichen und personellen Rahmenbedingungen. So mĂŒssen Eltern oftmals große Anstrengungen unternehmen, damit ihr Kind in den Kindergarten vor Ort aufgenommen wird oder in der Regelschule am gemeinsamen Unterricht teilnehmen kann.

Mit der Forderung nach Inklusion vollzieht sich in der pĂ€dagogischen Fachdiskussion nun seit ein paar Jahren ein Wandel, der als Paradigmenwechsel von der Integration zur Inklusion bezeichnet werden kann. Worin unterscheidet sich der Integrationsbegriff von dem der Inklusion? Welche Sichtweisen und Haltungen werden hier deutlich, welche Folgen und Herausforderungen stellen sie fĂŒr konkretes pĂ€dagogisches Handeln?

Der vorliegende Band von Max Kreuzer und Borgunn Ytterhus setzt genau an diesen Fragen an, um diesen Wechsel von der Integration zur Inklusion im theoretischen VerstĂ€ndnis wie praktischen Handeln fĂŒr die Altersgruppe der 3-6 JĂ€hrigen im Kindergarten nĂ€her auszuleuchten.

Der Titel „Dabeisein ist nicht alles“ macht bereits deutlich, daß es nicht genĂŒgt, Kinder in Regeleinrichtungen nur aufzunehmen, sondern daß erst die Gestaltung des Zusammenlebens und der Teilhabe zur Inklusion fĂŒhren kann. Wie der Weg dorthin möglich ist, wird entlang von vier Themenfeldern mit insgesamt 17 BeitrĂ€gen aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet.

Im einfĂŒhrenden Abschnitt beschreiben zunĂ€chst zwei BeitrĂ€ge die Bedeutung der Peer-Group in der Sozialisation fĂŒr die Altersgruppe der 3- 6 JĂ€hrigen als eigenen Erfahrungsraum fĂŒr kindliche Partizipation. William A. Corsaro zeigt die unterschiedlichen Zugangsstrategien auf, ĂŒber die Kinder verfĂŒgen und stellt die notwendigen pĂ€dagogischen Handlungsprinzipien fĂŒr den Zugang zur Gruppe heraus. Max Kreuzer stellt verschiedene methodische ForschungszugĂ€nge zur sozialen Beteiligung der Kinder im Gruppenalltag vor und erweitert diese dann mit Ergebnissen aus der deutschsprachigen Integrationsforschung.

In dem folgenden Abschnitt „Theorie-Konzept-Analyse“ arbeitet Peder Haug ĂŒber eine differenzierte BegriffsklĂ€rung von Inklusion qualitative Anforderungen an die pĂ€dagogische Arbeit heraus und stellt sie in den Kontext notwendiger politischer Herausforderungen.

Theodor M. Bardmann setzt diese AusfĂŒhrungen mit einer systemischen Gesellschaftstheorie fort, indem er die Integrations- und Inklusionsproblematik als SpannungsverhĂ€ltnis von Individuum und Gesellschaft vor dem Hintergrund der Begriffspaare Integration/ Desintegration und Inklusion/Exklusion analysiert. PĂ€dagogisches Handeln erfordert nach Bardmann normativen PassungsverhĂ€ltnissen entgegenzuwirken, so dass sich professionelles SelbstverstĂ€ndnis daher nicht ausschließlich auf die Arbeit am Klienten beschrĂ€nken kann, sondern immer auch als Netzwerkarbeit begreifen muß. Gunzelin Schmid Noerr geht in seinem Beitrag der sozialethischen Frage nach, wie im Umgang mit Benachteiligten gesellschaftliche SolidaritĂ€t zu verwirklichen ist. Am Beispiel Norwegens zeigt Tora Korsvold auf, welchen Weg der gesellschaftlichen Teilhabe ein Staatssystem gehen kann und wie mit dem Respekt vor der Vielfalt und IndividualitĂ€t, Kinder mit Behinderung in ein allgemeines Bildungswesen eingebunden sein können. Der Autor verweist hier sehr deutlich auf die notwendigen finanziellen wie personellen Rahmenbedingungen, damit aus einem „nur Dabeisein“ auch echte Teilhabe werden kann.

Der dritte Abschnitt belegt mit aktuellen Forschungsergebnissen wie Teilhabe von Kindern mit besonderen BedĂŒrfnissen gestaltet werden kann. Borgunn Ytterhus zeigt in einer Studie zur sozialen Position des Einzelnen in einer Kindergruppe, was geschieht und notwendig ist, wenn Kinder mit unterschiedlichen Voraussetzungen im Alltag miteinander umgehen. Ulf Janson geht der Frage nach, welche „InteraktionsrĂ€ume fĂŒr Menschen mit unterschiedlichen funktionalen FĂ€higkeiten zu etablieren“ (150) sind und wie diese durch pĂ€dagogische Interventionen sinnvolle Partizipation ermöglichen können. Patrick Kermit hebt mit eigenen Forschungsbeobachtungen zu verschiedenen Formen der Anerkennung die moralische Verantwortung der Erwachsenen hervor, Kinder in der Entwicklung ihrer sozialen und moralischen Kompetenzen zu unterstĂŒtzen. Max Kreuzer verdeutlicht an fĂŒnf verschiedenen Interaktionsmustern die Ergebnisse einer Beobachtungsstudie zur Beteiligung der Kinder im Gruppengeschehen. Maria Kron beleuchtet die integrative Gestaltung von Gruppenprozessen und kommt zu der Schlußfolgerung, daß sich die QualitĂ€t integrativer/inklusiver PĂ€dagogik daran bemißt „ wie es gelingt, die Teilhabe von Kindern mit erschwerter Ausgangsposition zu erhöhen und ZurĂŒckweisungen zu vermindern.“ (199)

Im Abschnitt „PĂ€dagogische Herausforderungen-Förderungen und Arrangement“ werden mit sechs BeitrĂ€gen die vorangegangenen Erörterungen theoretischer Analysen und Forschungsergebnissen fĂŒr das praktische Handeln und Alltagsgeschehen konkretisiert.

Gisela Dittrich orientiert sich mit ihren AusfĂŒhrungen zur pĂ€dagogischen QualitĂ€t von integrativen Prozessen an einem Denken, wonach das einzelne Kind mit seinen BedĂŒrfnissen Ausgangspunkt pĂ€dagogischen Handelns sein sollte. Daher bedarf es keiner neuen PĂ€dagogik, sondern Erwachsener, die mit einem Wissen ĂŒber die Besonderheiten des Kindes, die Auswirkungen der Behinderung und der unterschiedlichen Aneignungsformen ihr professionelles Handeln auf die BedĂŒrfnisse und Erfordernisse des Kindes ausrichten, ihm dabei UnterstĂŒtzung und Hilfe fĂŒr die nĂ€chsten Schritte seines Entwicklungs- und Lernprozesses geben. Integrative Prozesse haben folglich nach Dittrich ĂŒber das soziale Lernen hinaus Bildung als zentralen Aspekt fĂŒr alle Kinder in den Blick zu nehmen.

In den BeitrĂ€gen von Theresa Casey und Pamela Wolfberg wird das Spiel mit seiner entwicklungspsychologischen Bedeutung fĂŒr die kindliche Sozialisation als SchlĂŒsselrolle bei der Gestaltung von integrativen Prozessen eingehender thematisiert. Mit Praxisbeispielen von integrativen Spielgruppen wird verdeutlicht, wie die Spielumgebung gestaltet sein muß, um einerseits Ausschluß zu verhindern und andererseits UnterstĂŒtzungsangebote fĂŒr den Anschluß an die Gruppe Gleichaltriger zu entwickeln. Erwachsene haben hierbei Vorbildfunktion, auf die Sissel Sollied mit ihrem Beitrag nĂ€her eingeht mit der Frage: „Welche Art von besonderen Kenntnissen und menschlichen Ressourcen erfordern diese Kinder von den Erwachsenen, damit sie eine reelle Inkludierung und Teilhabe ermöglichen“ (265) Sie trifft damit den Kern von Inklusion/Integration, da nicht die Art und AusprĂ€gung der Behinderung, sondern die menschlich ethische Haltung im Mittelpunkt steht. Anhand eines Projektes einer videogestĂŒtzten Beratungsmethode, der Marte Meo-Methode nach Maria Aarts, stellt sie ihren Ansatz eines entwicklungsunterstĂŒtzenden Dialogs vor. Aus ihren Explikationen leitet Sollied die Forderungen fĂŒr eine „inkludierende Arena“ ab, wonach Rahmenbedingungen mit entsprechender personeller Ausstattung nötig sind, um „ein pĂ€dagogisches und von der Haltung her sehendes Milieu zu schaffen, das das Wissen und die KommunikationsfĂ€higkeit aller erhöht.“ (280) Dies erfordert beobachtende und reflektierende Erwachsene mit hoher fachlicher Kompetenz. Abgerundet wird dieser praxisorientierte Abschnitt mit einem Bericht von Andrea Sens ĂŒber die universitĂ€re Erzieherinnenausbildung in Australien. Dieser Beitrag macht deutlich, daß sich der Inklusionsgedanke als fester Bestandteil durch alle Ausbildungssegmente durchzieht und als ganzheitliches Prinzip zur Norm frĂŒhpĂ€dagogischen Handelns wird.

Die vorliegende Publikation gibt ĂŒber die unterschiedlichen BearbeitungsstrĂ€nge von theoretischen Konzepten, Forschungsergebnissen und Praxisbeispielen einen hervorragenden Überblick zu dem Themenbereich von Integration und Inklusion. So regt das Buch an, den eigenen Umgang mit Begrifflichkeiten von Behinderung, Integration, Inklusion zu hinterfragen. Dabei fĂŒhrt die Suche nach dem eigenen Standpunkt die Leserin und den Leser zu sehr persönlichen Fragen wie „Welches Menschenbild habe ich? Was verstehe ich unter Entwicklung? Welche Haltung wird in dem eigenen fachlichen Handeln sichtbar? Die Herausgeber wollten daher mit ihrem Band keine einfachen Definitionen vorlegen, sondern aus „dem Kranz der Bedeutungen“ zur Reflexion anregen. Dies ist ihnen in ĂŒberzeugender Form gelungen.

Das Besondere dieses Buches macht seine internationale Perspektive aus. Die Autoren bringen aus dem anglo-amerikanischen, skandinavischen und deutschen Sprachraum die unterschiedlichen Entwicklungen und Erfahrungen in ihren HerkunftslĂ€ndern mit und erlauben damit, den eigenen Blick auf das Themenfeld zu weiten. Das Buch ist gut einzusetzen fĂŒr die Aus- und Weiterbildung und all denjenigen zu empfehlen, die keine theoretische Anstrengung scheuen.
Jutta Daum (Gießen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jutta Daum: Rezension von: Kreuzer, Max / Ytterhus, Borgunn (Hg.): Dabeisein ist nicht alles, Inklusion und Zusammenleben im Kindergarten. MĂŒnchen; Basel: Reinhard 2008. In: EWR 9 (2010), Nr. 1 (Veröffentlicht am 05.02.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978349701960.html