EWR 13 (2014), Nr. 1 (Januar/Februar)

Henrik Bispinck
Bildungsbürger in Demokratie und Diktatur
Lehrer an höheren Schulen in Mecklenburg 1918 bis 1961
(Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 79)
München: R. Oldenbourg Verlag 2011
(358 S.; ISBN 978-3-486-59804-9; 44,80 EUR)
Bildungsbürger in Demokratie und Diktatur Die Geschichte der Gymnasiallehrerschaft in Deutschland ist aus den Perspektiven der Bürgertums- wie der Professionsforschung schon vielfach in den Blick genommen worden. Die einschlägigen Untersuchungen konzentrieren sich allerdings in für die historische Bildungsforschung typischer Weise auf die Entwicklung in Preußen und klammern zudem, soweit sie die Zeit nach 1945 überhaupt berücksichtigen, die Sowjetische Besatzungszone und die DDR aus ihrer Betrachtung aus. Diesem Manko will die vorliegende Studie, überarbeitete Fassung einer 2008 an der Universität Leipzig eingereichten, in den Jahren zuvor in der Berliner Abteilung des Instituts für Zeitgeschichte entstandenen Dissertation, durch eine spezifische regionale und zeitliche Schwerpunktsetzung abhelfen. Zum einen geht es ihr um die Lehrer an den höheren Schulen Mecklenburgs, genauer: des Freistaats Mecklenburg (bis 1933), des mit Mecklenburg-Strelitz vereinigten Mecklenburg (bis 1945), des Landes Mecklenburg(-Vorpommern, bis 1952) und der Bezirke Rostock und Schwerin (ab 1952). Diese Spezifizierung ist notwendig, weil der Untersuchungszeitraum mehrere Systembrüche umfasst, die jeweils politische Neuordnungen auf Länderebene im Gefolge hatten. Mit ihnen waren neben den Grenz- auch immer Kompetenzverschiebungen verbunden, wobei zweimal, 1934 und 1952, das für die deutsche Bildungsgeschichte so charakteristische föderale Prinzip weitgehend außer Kraft gesetzt wurde.

Anders als der Titel vermuten lässt, orientiert sich der Autor in seiner Untersuchung eher am Konzept der Profession als an dem der sozialen Formation. Das Bildungsbürgertum ist für ihn daher vor allem durch eine auf akademischer Ausbildung fußende Berufstätigkeit gekennzeichnet, deren zentrale Merkmale – ganz im Sinne des Professionsbegriffs – die relative Autonomie der Berufsausübung, ein ausgeprägtes Berufsethos sowie die Organisation in Berufsverbänden bilden. Auf der Grundlage solcher Begriffsbestimmung will Bispinck der Frage nach Kontinuität und Wandel des Bildungsbürgertums über die Systembrüche hinweg nachgehen. Zentrales Anliegen seiner Untersuchung ist, festzustellen, wieweit es Staat (und Partei) in den jeweiligen Systemen versucht und vermocht haben, diese Berufsgruppe für ihre Zwecke zu instrumentalisieren und so diesen gesellschaftlichen Teilbereich politisch zu durchdringen. Entsprechend der in der jüngeren Forschung vorherrschenden Auffassung, dass die Eigenlogiken gesellschaftlicher Subsysteme der politischen Einflussnahme selbst in Diktaturen Grenzen setzen, zeigt sich auch Bispinck zurückhaltend gegenüber starken Wirkungsannahmen. So geht er „von der Hypothese aus, dass die Lehrer an höheren Schulen als bildungsbürgerliche Berufsgruppe über ein relativ hohes Maß an Beharrungskraft verfügten und bei der Durchsetzung unterschiedlicher politischer Ziele im Hinblick auf die höheren Schulen als retardierender und zum Teil herrschaftsbegrenzender Faktor wirkten“ (9).

Die Überprüfung dieser Hypothese erfolgt auf zwei Ebenen: Zur regionalen Ebene des Landes Mecklenburg gesellt sich die Ebene der Einzelschule. Wird auf ersterer die Reaktion der Lehrer auf staatliches Handeln vermittelt über die Lehrerverbände untersucht, so geht es auf letzterer um das Lehrerhandeln im unmittelbaren Berufsfeld und der lokalen Umgebung. Mit dem Gymnasium Fridericianum in Schwerin und der Großen Stadtschule in Rostock hat der Autor dabei zwei der traditionsreichsten Anstalten Mecklenburgs ausgewählt, in der Erwartung, dass sich bildungsbürgerliche Kontinuitäten hier besonders gut verfolgen ließen. Die Gliederung der Arbeit orientiert sich an den Zäsuren der politischen Geschichte, wobei den auf die Umbrüche folgenden Jahren besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Der bei weitem umfangreichste Teil der Untersuchung ist dabei der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gewidmet, was Bispinck damit begründet, dass hier die tiefgreifendsten Einschnitte in die höhere Schule und den Gymnasiallehrerberuf erfolgt seien.

Die Befunde, die der Autor auf der Grundlage umfassender Recherchen im Landeshauptarchiv, in den Stadtarchiven von Schwerin und Rostock und in anderen einschlägigen Archiven wie der Außenstelle des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen auf etwa 300 Seiten in einer detailreichen, dennoch die Leitfragen nie aus den Augen verlierenden und durchweg gut lesbaren Darstellung ausbreitet, bestätigen weitgehend das Bild, das aus anderen (Überblicks- wie Regional-, Lokal- und Fall-)Studien vertraut ist. Der Vorteil seiner systemübergreifenden Betrachtung liegt darin, dass sie im Gegensatz zu anderen, meist auf ein System sich beschränkenden Arbeiten den direkten Vergleich zwischen Weimar, NS und SBZ/DDR wie die Herausarbeitung von Entwicklungslinien gestattet. Im Ergebnis stellt Bispinck fest, dass die politische Einflussnahme auf die höheren Schulen und die Gymnasiallehrer immer stärker, ihr professioneller Status zugleich immer prekärer geworden ist. Letzteres betrifft sowohl die Möglichkeiten der beruflichen Organisation und der Interessenvertretung wie die soziale Stellung und die materielle Absicherung wie schließlich auch die relative Autonomie in der Ausübung des Berufs. Zugleich ist es jedoch in keinem der Systeme gelungen, die Lehrer der höheren Schulen ganz auf die herrschende politische Linie zu verpflichten. Den Grund dafür sieht Bispinck weniger in abweichenden politischen Auffassungen als vielmehr im Beharren der Lehrerschaft auf den als mehr oder weniger bedroht erlebten professionellen Standards. Selbst in der DDR, so meint er, lasse sich daher – wenn auch mit Einschränkung – von den Oberschullehrern noch als einer „bildungsbürgerlichen Berufsgruppe“ bzw. einer „Profession“ (325) sprechen. Diesen Befund relativiert der Autor allerdings abschließend selbst, wenn er betont, viele Lehrer hätten die ihnen zugemutete Stellung mit ihrem Berufsethos nicht mehr vereinbaren können, und ihre Flucht in den Westen als einen „Akt (bildungs-)bürgerlicher Selbstbehauptung“ (326) qualifiziert.

Wie immer man zu dieser professionsgeschichtlichen Einordnung der Befunde stehen mag: Sie fußt auf einer soliden, differenzierten, trotz gewisser begrifflicher Unschärfen theoretisch anspruchsvollen Darstellung. Dennoch seien einige kritische Anmerkungen gestattet – die beiden ersten ließen sich übrigens so oder ähnlich an die meisten vergleichbaren Studien richten:

Kritisch anzumerken ist erstens, dass der regional- und fallgeschichtliche Ansatz nicht zur Herausarbeitung des je Besonderen genutzt wird. Die dazu erforderlichen Vergleiche – zu allgemeinen schul- und professionsgeschichtlichen Darstellungen, zu anderen Regional-, Lokal- und Fallstudien, die mittlerweile in großer Zahl vorliegen – fehlen weitgehend; selbst hinsichtlich der beiden ausgewählten Fälle gelangt der Text über punktuelle Kontrastierungen nicht hinaus. Die Geschichte der mecklenburgischen Gymnasiallehrerschaft wie der Kollegien der beiden Schulen wird so geschrieben, als ginge es (und zwar zum ersten Mal) um die Gewinnung für das Ganze gültiger Erkenntnisse. Damit aber vergibt die Studie einen wichtigen Teil der in ihrem Zugriff steckenden Möglichkeiten.

Angesichts äußerer Notwendigkeiten verständlich, sachlich aber wenig begründet erscheint zweitens die Begrenzung des Untersuchungszeitraums. Zwar gelingt es Bispinck durchaus plausibel zu machen, dass 1945 den bis dato tiefsten Einschnitt in der Professionsgeschichte der Gymnasiallehrer im 20. Jahrhundert markiert. Gerade zur Überprüfung seiner Thesen vom partiellen Fortbestand einer „bildungsbürgerlichen Berufsgruppe“ und von der herrschaftsbegrenzenden Wirkung ihrer Professionalität wäre es jedoch sinnvoll gewesen, auch die Zeit nach der zweiten Bildungsreform in der DDR und nach dem Mauerbau noch in den Blick zu nehmen, in der sich von der Ausbildung über die Einstellungsbedingungen bis zum Berufsfeld für die Lehrerinnen und Lehrer an den nunmehr „Erweiterten“ Oberschulen noch einmal Grundlegendes verändert hat.

Nicht wirklich überzeugen kann schließlich drittens die Ineinssetzung von Profession und sozialer Formation. Die Frage nach dem Überleben der höheren Lehrerschaft als Teil des Bildungsbürgertums ist mit der Untersuchung ihres professionellen Status‘ nicht hinreichend zu beantworten. Suchte man hier in umfassenderem Sinne nach einer sozialgeschichtlichen Antwort, müssten auch jene Aspekte in Betracht gezogen werden, die in der am (Bildungs-)Bürgertum als sozialer Formation interessierten Forschung eine wichtige Rolle spielen, wie Lebensführung, Heiratsverhalten oder öffentliches Engagement.

Einiges bleibt demnach auf diesem Feld zu tun für die bildungs- und sozialgeschichtliche Forschung. Bispincks Studie leistet, ungeachtet der Kritikpunkte, einen Beitrag zu ihrer Grundlegung.
Gerhard Kluchert (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Gerhard Kluchert: Rezension von: Bispinck, Henrik: Bildungsbürger in Demokratie und Diktatur, Lehrer an höheren Schulen in Mecklenburg 1918 bis 1961 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 79). München: R. Oldenbourg Verlag 2011. In: EWR 13 (2014), Nr. 1 (Veröffentlicht am 05.02.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978348659804.html